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Hirngespinste

Austausch zwischen Literatur und Kunst


#1

Philosophisches

in Zitate 11.09.2010 17:43
von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge

Die menschlichen Leiden haben eine doppelte Quelle: der Mensch lebt gleichsam zwischen zwei unangreifbaren Mauern, einer Mauer außerhalb seiner und einer Mauer in ihm selbst; zwischen dem demütigen Zustand der Versklavung angesichts einer Welt, die ihm fremd ist, und der noch demütigenderen Knechtschaft im Verhältnis zu sich selbst; er leidet darunter, dass es ein „Nicht-Ich“ gibt, das aber dem „Ich“ anzugehören scheint.

(Berdjajew: „Existentielle Dialektik des Göttlichen und Menschlichen“, Seite 69/C. H. Beck'sche Verlagsbuchhandlung München)




Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 11.09.2010 17:45 | nach oben springen

#2

RE: Philosophisches

in Zitate 14.11.2010 15:07
von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge

Spengler sieht das Schicksal als Idee, somit als ein Werden, die Kausalität jedoch als Gewordenes, dem "inneren Auge" Zurechtgelegtes. Schicksal ist in seiner Auffassung fernab aller Kausalität:

In der Schicksalsidee offenbart sich die Weltsehnsucht einer Seele, ihr Wunsch nach dem Licht, dem Aufstieg, nach Vollendung und Verwirklichung ihrer Bestimmung. Sie ist keinem Menschen ganz fremd, und erst der späte, wurzellose Mensch der großen Städte mit seinem Tatsachensinn und der Macht seines mechanisierenden Denkens über das ursprüngliche Schauen verliert sie aus den Augen, bis sie in einer tiefen Stunde mit furchtbarer, alle Kausalität der Weltoberfläche zermalmender Deutlichkeit vor ihm steht. Denn die Welt als System kausaler Zusammenhänge ist spät, selten und nur dem energischen Intellekt hoher Kulturen ein sichrer, gewissermaßen künstlicher Besitz. Kausalität deckt sich mit dem Begriff des Gesetzes. Es gibt nur Kausalgesetze. Aber wie im Kausalen nach Kants Feststellung eine Notwendigkeit des denkenden Wachseins liegt, die Grundform seiner Beziehung zur Welt der Dinge, so bezeichnen die Wort Schicksal, Fügung, Bestimmung eine unentrinnbare Notwendigkeit des Lebens. Wirkliche Geschichte ist schicksalsschwer, aber frei von Gesetzen. Man kann die Zukunft ahnen, und es gibt einen Blick, der tief in ihre Geheimnisse dringt, aber man berechnet sie nicht. Der physiognomische Takt, mit dem man aus einem Antlitz ein ganzes Leben, aus dem Bild einer Epoche den Ausgang ganzer Völker abliest, und zwar unwillkürlich und ohne "System", bleibt weltenfern von aller "Ursache" und "Wirkung".


Und weiter:
Wer die Lichtwelt seiner Augen nicht physiognomisch, sondern systematisch erfasst, sie durch das Mittel kausaler Erfahrungen sich geistig aneignet, wird zuletzt mit Notwendigkeit alles Lebendige aus der Perspektive von Ursache und Wirkung zu verstehen glauben, ohne Geheimnis, ohne inneres Gerichtetsein. Wer aber wie Goethe, wie jeder Mensch in weitaus den meisten Augenblicken seines wachen Daseins, die Umwelt nur auf seine Sinne eindringen lässt und die Gesamtheit dieses Eindrucks hinnimmt , das Gewordne als werdend fühlt, die starre Weltmaske der Kausalität lüftet, indem er einmal nicht nach-denkt, für den ist die Zeit plötzlich kein Rätsel mehr, kein Begriff, keine "Form", keine Dimension, sondern etwas innerlich Gewisses, das Schicksal selbst; ihr Gerichtetsein, ihre Nichtumkehrbarkeit, ihre Lebendigkeit erscheint als der Sinn des historischen Weltaspekts. Schicksal und Kausalität verhalten sich wie Zeit und Raum.

(zitiert aus Oswald Spenglers "Der Untergang des Abendlandes", dtv, S. 154/155)

Irgendwie dann auch wie: Lasse die Gedanken durch deinen Geist strömen, ohne dich an sie zu klammern. Lebe den Augenblick. Dann gibt es auch keine Rätsel, da über Vorher und Nachher nicht reflektiert wird.




Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 14.11.2010 15:36 | nach oben springen

#3

RE: Philosophisches

in Zitate 15.11.2010 11:26
von LX.C • 2.821 Beiträge

Zitat von Taxine
Irgendwie dann auch wie: Lasse die Gedanken durch deinen Geist strömen, ohne dich an sie zu klammern. Lebe den Augenblick. Dann gibt es auch keine Rätsel, da über Vorher und Nachher nicht reflektiert wird.



Vielleicht aber auch: Lasse die Gedanken durch deinen Geist strömen, ohne dich an sie zu klammern, um über das Vorher und Nachher reflektieren zu können. - Mir ging vorhin durch den Kopf, wie absonderlich es aus heutiger Sicht scheint, ganze Epen wie die Ilias auswendig lernen zu müssen. In Verse verfasst, um sie besser verinnerlichen zu können, scheint mir das dennoch eine gewaltige Anstrengung zu bedeuten, die wenig Raum für eine gedankliche Pluralisierung des Gegenstandes lässt. Genau das kiritisiert aber Platon in seiner Schriftkritik Phaidros. Dass die Schrift (vereinfacht gesagt) zu einer Erstarrung (weil festgeschrieben) der Gedanken führt. Aber gerade die Konzentration aufs Auswendiglernen verhinderte eine kritische Reflexion. Erst das Loslassenkönnen mit Entstehung der Schriftkultur und noch konkreter mit Einführung des Buchdrucks und noch verstärkter des Massenbuchmarktes im 18. Jahrhundert war eine uneingeschränkte kritische Reflexion der Vergangenheit (und vielleicht auch ein Reflektieren über die Zukunft) abgekoppelt von gegenwärtigen Notwendigkeiten möglich. Und damit auch die Individualisierung des historischen Gegenstandes, wie im Fall Goethes. Zuvor bedeutete jeden kritische Reflexion überlieferten Stoffs Gefahr für den kulturellen Traditionszusammenhang oder das kulturelle Gedächtnis eines Volkes.


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[i]Poka![/i]

zuletzt bearbeitet 15.11.2010 11:38 | nach oben springen

#4

RE: Philosophisches

in Zitate 15.11.2010 14:11
von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge

Ja, das ist der gewaltige Unterschied zwischen z. B. Abendland und den alten Griechen. Spengler zieht den Vergleich zwischen den Kulturen (die dann zu Zivilisationen erstarren) und zeigt, dass das Abendland versucht, alles Geschichtliche und Vergangene festzuhalten, genauso die Ägypter mit ihren riesigen Gräbern, während z. B. die Griechen nur in den Tag hinein lebten und sich weder um ihre Vergangenheit noch ihre Zukunft kümmerten. Das ist auch der Grund, warum das Abendland in "Sorge" lebt. Besonders das Erbauen von Turmuhren und die Taschenuhr des Barockmenschen zeigt die Entwicklung, ebenso wie die Schriftkultur, das Festhalten alles Gelebten.

Zitat von Spengler, Auszug aus dem Kap. "Das Problem der Weltgeschichte", S. 177
Wir kennen Geburts- und Todestag fast aller großen Menschen seit Dante genau. Das scheint uns selbstverständlich. Aber zur Zeit des Aristoteles auf der Höhe antiker Bildung, wusste man nicht mehr sicher, ob Leukippos, der Begründer des Atomismus und Zeitgenosse des Perikles - kaum ein Jahrhundert vorher - überhaupt gelebt habe.


Spengler stellt Plato und Goethe, als die Schöpfer der "freien Ideen" im Werden, den Mathematikern (die Zahl kann nur bereits Gewordenes verbildlichen) und logischen Denkern gegenüber, wie Aristoteles und Kant. Die einen schufen, die anderen hielten fest und erbauten "Systeme" - Gesetztes, Erstarrtes aus dem, was bereits vorhanden war.

Mir wird damit sehr deutlich sichtbar, warum wir in diesen Ritualen leben und ihnen auch nie völlig entkommen können. Das ist lange in der Vergangenheit bereitet. Während die Griechen sich vor dem Unausweichlichen fürchteten und darum das "Carpe diem" lebten (das gleiche Verhalten gilt auch für den antiken Staat), stellte der Abendländer sich dem Tod, schuf sich aber eine Art Unsterblichkeit in Schrift und Zeitmessung. Für ihn ist genau das, was du auch anführst, wichtig: Gedanken strömen lassen, jedoch über Vorher und Nachher reflektieren. Der Buddhist dagegen meint: Gedanken einlassen, sie betrachten und wieder ziehen lassen. Sie nicht greifen, um in ihnen zu verweilen. Das beinhaltet für mich auch, dass keine Reflektion über das Vorher und Nachher zustande kommt. Die Buddhisten überhaupt haben diese Art zu Leben seit Ewigkeiten praktiziert. Während die Griechen sich weiterentwickelten und mit und nach Aristoteles dann "geformt" wurden, wirken die Buddhisten wie große, weise Unformen, die vergehen, da sie die Gewissheit des Nirwanas besitzen. Wer das Leben nur als flüchtige Illusion empfindet, wird darin auch nichts setzen, was überdauert. Das Abendland will erhalten, sorgt sich um das, was bleibt, ist damit ewiger Geschichtsforscher.

Zitat von Spengler, gleiches Kap., S. 175
Ohne peinlichste Zeitmessung - eine Chronologie des Geschehenden, die durchaus unserm Bedürfnis nach Archäologie, das heißt Erhaltung, Ausgrabung, Sammlung alles Geschehenen entspricht - ist der abendländische Mensch nicht denkbar.




Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 15.11.2010 14:21 | nach oben springen

#5

RE: Philosophisches

in Zitate 15.11.2010 20:33
von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge

Der olle Spengler bringt mich aber wirklich in die Grübelei. Schicksal oder Kausalität. Ich bin von der Kausalität überzeugt, er sieht darin nur ein verstandgemachtes Einordnen. Vielleicht existiert beides, ein Schicksal als eine Abfolge an notwendigen Ereignissen und darauf dann die Ursachen und Wirkungen (einzelner Schritte und Ereignisse, Begegnungen und Handlungen), ohne von der tatsächlichen "Urlinie" abzuweichen.

Hier wieder eine bezeichnende Stelle:

Zitat von Spengler, S. 199
Das Schicksal ist immer jung. Wer an seine Stelle eine Kette von Ursachen und Wirkungen setzt, der sieht auch in dem noch nicht Verwirklichten etwas gleichsam Altes und Vergangenes. Die Richtung fehlt. Wer aber in strömendem Überschwang einem Etwas entgegenlebt, der braucht nicht von Zweck und Nutzen zu wissen. Er fühlt sich selbst als Sinn dessen, was geschehen wird.



Das erklärt er auch mittels der Handhabung der Geschichte (S. 198):
Je historischer man denken wollte, desto mehr vergaß man, wie hier nicht gedacht werden durfte. Indem man das starre Schema einer räumlichen und zeitfeindlichen Beziehung, Ursache und Wirkung, gewaltsam auf Lebendiges anwandte, trug man in das sinnliche Oberflächenbild des Geschehens die konstruktiven Linien des physikalischen Naturbildes ein, und niemand fühlte - inmitten später, städtischer, an kausalen Denkzwang gewöhnter Geister - die tiefe Absurdität einer Wissenschaft, welche ein organisches Werden durch methodisches Missverstehen als den Mechanismus eines Gewordnen begreifen wollte.
Aber der Tag ist nicht Ursache der Nacht, die Jugend nicht die des Alters, die Blüte nicht die der Frucht. Alles, was wir geistig erfassen, hat eine Ursache; alles was wir als organisch mit innerer Gewissheit erleben, hat eine Vergangenheit.




Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 15.11.2010 20:47 | nach oben springen

#6

RE: Philosophisches

in Zitate 16.11.2010 11:23
von LX.C • 2.821 Beiträge

Wenn dich das Thema so sehr interessiert, vielleicht lohnt sich für dich ein Blick auf Halbwachs, Assmann und im Bezug auf Kunst und Gedächtnis auf Warburg. Der sah die Kunst, die Symboliken und Pathosformeln in ihr, als entscheidenden Träger eines kollektiven Gedächtnisses. Oder besser eines sozialen Kollektivgedächtnisses.


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[i]Poka![/i]

zuletzt bearbeitet 16.11.2010 11:41 | nach oben springen

#7

RE: Philosophisches

in Zitate 16.11.2010 17:30
von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge

Ja, interessiert mich sehr. Vielen Dank für die Empfehlungen.




Art & Vibration
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#8

RE: Philosophisches

in Zitate 25.11.2010 10:37
von Martinus • 3.195 Beiträge

Liebe das bißchen Fachwissen, das du gelernt hast, und finde darin dein Genügen. Und durchwandere den Rest deines Lebens wie einer, der all seine Sachen von ganzer Seele den Göttern anvertraut hat. Dich selbst aber mache weder zum Herrn noch zum Sklaven irgendeines Menschen.

Marc Aurel IV,31




„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
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#9

RE: Philosophisches

in Zitate 23.01.2011 20:51
von Jatman1 • 1.188 Beiträge

"Das 20. Jahrhundert. Das erste Zeitalter, in dem der Mensch nicht mehr weiß, was er ist, zugleich aber auch weiß, dass er es nicht weiß."
Max Scheler


www.dostojewski.eu
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#10

RE: Philosophisches

in Zitate 11.03.2011 16:24
von Jatman1 • 1.188 Beiträge

"Alles grünt, ohne etwas davon zu haben."
Songzeile von Blumenfeld.


www.dostojewski.eu
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#11

RE: Philosophisches

in Zitate 17.07.2011 09:25
von Martinus • 3.195 Beiträge

"Verzicht nimmt nicht, der Verzicht gibt. Er gibt die unerschöpfliche Kraft des Einfachen"
Martin Heidegger ("Der Feldweg")

(Ich besorge mir das kleine Büchlein von Heidegger)




„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
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#12

RE: Philosophisches

in Zitate 10.08.2011 11:29
von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge

Die Welt ist schön, und darin liegt alles beschlossen. Ihre große Wahrheit, die sie geduldig lehrt, lautet, dass der Geist nichts ist und nichts das Herz. Und dass der Stein, den die Sonne erwärmt, oder die Zypresse, die der wolkenlose Himmel übergroß erscheinen lässt, die einzige Welt abstecken, in der „recht haben“ einen Sinn gewinnt: die Natur ohne Menschen.

(Albert Camus "Tagebücher 1935-1951")




Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 11.08.2011 23:26 | nach oben springen

#13

RE: Philosophisches

in Zitate 10.08.2011 11:54
von LX.C • 2.821 Beiträge

Und doch spricht das Herz (auch meins immer wieder, wenn ich die Quellwolken oder einen Schmetterling beobachte), wenn es sagt: Die Welt ist schön - auch wenn sie uns nicht benötigt

Angefügte Bilder:
Aufgrund eingeschränkter Benutzerrechte werden nur die Namen und (falls vorhanden) Vorschau-Grafiken der Dateianhänge angezeigt Jetzt anmelden!
Schmetterling.jpg

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[i]Poka![/i]

zuletzt bearbeitet 10.08.2011 11:55 | nach oben springen

#14

RE: Philosophisches

in Zitate 11.08.2011 13:06
von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge

Dein Auge ist einfach nur meisterhaft... Was für ein Bild.

(Dostojewski empfiehlt, sich immer an solche Momente zu erinnern, zu erkennen: das durfte ich erblicken ... oder in einer Situation: das war ich, der dort glücklich war.)




Art & Vibration
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#15

RE: Philosophisches

in Zitate 11.08.2011 13:27
von Krümel • 499 Beiträge

Sommerflieder habe ich gleich in allen Farben wieder gepflanzt, damit diese zarten Flieger unseren Garten besuchen. Ich liebe sie - und schönes Bild!

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