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Deutschboden. Eine teilnehmende Beobachtung
Moritz von Uslar (*1970, Köln), Journalist und Autor, wagt ein für viele Westdeutsche, aber auch viele Berliner höchst gefährlich erscheinendes Experiment. Er zieht für mehrere Wochen in eine ostdeutsche, genauer in eine brandenburgische Kleinstadt. Er möchte Klischee und Wirklichkeit miteinander abgleichen, möchte eintauchen, assimilieren, partizipieren, an den Lebensumständen und -gewohnheiten der Einwohner Oberhavels.
Wer im Internet sucht wird schnell feststellen, Oberhavel ist ein Landkreis und als Stadt nicht existent. Uslar hat den Begriff als Pseudonym für Zehdenick verwendet. Zehdenick war seit den 90erjahren als Nazihochburg verschrien. Doch eine organisierte Naziszene findet der Reporter nicht mehr vor.
Was er entdeckt ist der krasse Gegensatz zwischen Modernisierung und Industriebrache, eine Mischung aus Opportunismus und Ostalgie, mit einem kräftigen Schuss Heimatliebe versehen, und natürlich eine heterogene Schar Menschen: herzliche, verstockte, asoziale; beflissene, hängen gebliebene, abgeschriebene; willige, abwartende, unwillige.
Eine Mischung wie es sie überall gibt, nur eben konzentriert auf 16 000 Einwohner. Wie die statistische Verteilung genau aussieht, vermag der Reporter nicht zu sagen, er stellt nur fest, dass die Arbeitslosenquote nicht höher ist als in Berlin.
Ehemalige Anhänger der rechten Szene, die heute langhaarig sind oder sich als Punks sehen, bestätigen Uslars Eindruck. Das Nachwendephänomen hat sich zumindest in Zehdenick verflüchtigt. In die Köpfe kann selbstverständlich niemand gucken. Der Reporter versucht es. Die Ablehnung von Rechtsextremismus ist definitiv vorhanden, fremdenfeindliche Klischees und Witze dennoch nicht ganz ausgerottet. Aber wo unter den Jugendlichen gibt es diese nicht? Überall in Deutschland bedient man sich ihrer, den Ernst am Unernst leidlich verkennend, am Elitegymnasium ebenso wie an der ausländerstärksten Hauptschule, was die Sache selbstverständlich nicht besser macht.
Doch an genau dem, etwas besser machen zu wollen als es ist, würde man bei einem solchen Projekt scheitern. So belässt es Uslar, nachdem er in erster Euphorie merklich Klischees widerlegen will, die er im Anschluss immer wieder selbst bestätigt, bei dem, was es ist. Er zeigt die schönen Seiten der Kleinstadt auf, die zweifellos vorhanden sind, selbst der Berliner verliebt sich in sie, und flüchtet am nächsten Tag dann doch schon wieder angewidert in die Großstadt Berlin. Wenn man die Menschen nimmt wie sie sind, kann man sie dennoch schnell gern gewinnen. Und nur dann, wie einige Gesprächspartner betonen, wird man auch gerne in die Gemeinschaft aufgenommen. Und so ist der Reporter hin und her gerissen. Kaum in Berlin angekommen zieht es ihn schon wieder zurück ins kleinstädtische Treiben.
Uslar nimmt am Leben der Jugendlichen teil, spricht mit ihnen, säuft mit ihnen, lässt sich alles zeigen und alles berichten: Gegenwärtiges, Vergangenes. Perspektiven scheint es wenige zu geben. Eine ist, mit den wenigen Ressourcen Maximales rausholen. Arbeitslos sein muss nicht heißen, untätig zu sein. Wer sich in dieser Hängemate ausruht ist selbst für die Hartz IV beziehenden Bezugspersonen Uslars ein Asozialer. Sie legen viel wert auf einen beschäftigten Alltag, beispielsweise das wochentags frühe Aufstehen und die tägliche Probe in der Punkband. Eine andere heißt Schwarzarbeit. Eine weitere ist der Wegzug aus der Kleinstadt. Doch eine befriedigende Lösung scheint auch das nicht zu sein. Einige zieht es immer wieder zurück, und sei es nur an den Wochenenden, einige Wenige sogar ganz. Dann besetzt man förmlich die Eisdiele, fährt Stadtrunden mit dem getunten Auto, trifft sich am Supermarkt oder an der Tankstelle und schlägt dort rauchend, trinkend, blödelnd schon mal acht Stunden die Zeit tot.
Vermutlich ist hier nichts, na ja, fast nichts anders als in jeder deutschen Kleinstadt. Auffällig ist, wie überall in den neuen Bundesländern, der geringe Ausländeranteil. Eigentlich auch eine ganz natürliche Erscheinung, wenn man bedenkt, wie viele Jahrzehnte die Zuwanderung in den alten Bundesländern gewachsen ist. Auffällig auch der Bezug insbesondere der Älteren zur gemeinsamen ostdeutschen Vergangenheit. Auch ganz logisch, niemand kann und soll sein Leben verleugnen. Die eingeschworene Gemeinschaft hingegen wird mit abnehmender Bevölkerungszahl überall wahrscheinlicher. Sie ist in vielen Kleinstädten Deutschlands zu finden, in jedem Dorf erstrecht.
Das wäre ein schönes Schlusswort, schade, denn eine Frage muss noch gestellt werden, sie drängt sich während der Lektüre regelrecht auf. Wird Uslar mit seiner „teilnehmenden Beobachtung“ der Kleinstadt Zehdenick gerecht? Kaum vorstellbar, denn wer das Klischee sucht wird genau dort ansetzen und tiefer eintauchen, wo er es vermutet. Das normale Stadtleben abseits der Extreme findet nur am Rande Beachtung, dies jedoch zugunsten einer sprachlich sowie inhaltlich absolut unterhaltsamen Reportage, die sich wie ein Gegenwartsroman liest.
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[i]Poka![/i]
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