HirngespinsteAustausch zwischen Literatur und Kunst |
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Septembertag (Erzählung, 1967)
Eine Erzählung in Form eines Tagebucheintrags. Ein Herbsttag in Rom. Natürlich frage ich mich inwieweit diese Erzählung autobiografisch ist, inwieweit fiktiv. Wahrscheinlich trifft beides zu. Der Fischer Verlag kommentiert, Septembertag sei „ein Teil des wichtigen autobiografischen Werks der großen Nachkriegsautorin“. Natürlich könnte es sein, dass sie als Kind im Chiemsee wirklich beinahe ertrunken wäre, wie von der Ich-Erzählerin mitteilt wird, doch wissen können wir es nicht. Trotzdem, typisch ist doch, dass wir in diesem Büchlein nicht an der Theologie vorbeikommen, auch wenn sie hier nur zaghaft, und das zum Wohle dieser Erzählung, angetastet wird. Die Autorin schrieb Romane über Maria Magdalena, Petrus Abaelardus und eine Fiktion nach dem Leben des Heiligen Franziskus. In ihrem zweiten Nina-Roman „Abenteuer der Tugend“ soll man nachspüren können, dass die Autorin kurz davor zum Katholizismus übergetreten war. Dieser Roman war nicht so erfolgreich wie der erste Nina-Roman „Mitte des Lebens“. 1999 schrieb sie eine Legende über das Leben Jesu und Mirjam aus der Sicht eines Hundes (über diese Romanidee, als ich das gestern gelesen hatte, spontan geschmunzelt habe, – was sich Autoren nicht alles so ausdenken). Ihr letzter Roman „Aeterna“, gemeinsam geschrieben mit Hans Christian Meiser, ist sehr mystisch/spirituell. Wie man sieht, hat sich die Autorin ziemlich oft mit religiösen Themen auseinandergesetzt.
Ich weiß wirklich nicht, ob man die gerade genannten Bücher zur religiösen Erbauungsliteratur rechnen darf. Ein wenig Erbauung finden wir im Septembertag. In dieser Hinsicht gefiel mir ein spirituelles Zitat am besten, welches sich nicht an eine bestimmte Religion krallt:
Zitat von Luise Rinser
Und eines Tages vielleicht werde ich es können: schweigend trösten, schweigend das Tor auftun, durch das groß der echte Trost eintritt, der nicht von mir kommt, den sie begreift.
Dieser Satz ist weise, obwohl nichts neues unter der Sonne. Wenn das Leid eines Menschen sehr groß ist, helfen manchmal tröstende Worte kaum. Hand halten und schweigendes Mitgefühl kann sehr tröstend sein. „Septembertag“, das deutet an, die Hälfte des Lebens ist überschritten, die Tage werden kürzer. Die Ich-Erzählerin empfängt Briefe, in denen Menschen von ihrem Leid erzählen, Krankheit und Enttäuschungen. Sie begegnet Menschen in Rom, alte Bekannte und Fremde, die sich in einer Ehekrise befinden oder auch eine Familie, die den bevorstehenden erwartenden Tod des Vaters verdrängen möchte. Sie atmet Herbstluft ein: „dürres Geäst, welkes Laub; und es riecht nach dunkel geröstetem bitterem Kaffee.“
Luise Rinser ist auf jeden Fall keine Sprachästhetin. Der Text, in dem nichts spektakuläres, aufregendes passiert, schenkt dem Leser sicher beruhigende Lesestunden und manch angenehme Gedanken. Allerdings findet man kein Lokalkolorit der Stadt Rom – kein Autolärm, kein Café, keine Bettler, keine römische Gassenatmosphäre. Straßennamen helfen da wenig. Der Septembertag könnte genauso gut in London oder Paris spielen. Wenn in einem belletristischen Werk kaum Handlung zu finden ist, dann muss das insbesondere durch Atmosphäre oder tiefgreifend philosophische Gedankengänge ausgeglichen werden, damit wirklich Saft in die Erzählung kommt. Trotzdem wäre es meiner Ansicht nach unfair, dieses Büchlein unter Verrisse zu degradieren, weil sprachlich doch bemüht und das Lesen des Buches doch ein angenehmer Fluss ist. Der Schluss der Erzählung ist allerdings eine Katastrophe, die ich allerdings mit einem sympathischen Lächeln ertragen habe: Solch religiöse Passagen können nur gut wirken und gänzlich vom Verdacht des Kitsches befreit sein, wenn ein grandioser Sprachästhet am Werke ist.
Liebe Grüße
mArtinus
„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
Septembertag (1964)
„Alle Poesie und alle Wahrheit liegt im Leben […] Wo anders wäre die Mitte der Welt, als unter Schicksalen“ (Rinser 1964, 45, 64). Wir begeben uns mit „Septembertag“ von Luise Rinser (1911-2002) in eine wahre Schicksalsflut. Die Rahmenhandlung bildet ein Tag im Leben einer in Rom ansässigen Dichterin, aus der Perspektive dieser Dichterin. Die Assoziation drängt sich auf, dass es sich dabei um Luise Rinser handeln könnte, schon allein wegen der Erwähnung Jan Lobels, der während der Erzählung als epische Vorlage vorgestellt wird, oder dem Schauplatz Rom, in dessen Umland Luise Rinser lange Zeit lebte. Die Dichterin bleibt jedoch namenlos und „Septembertag“ einem fiktionalen Genre zugehörig, mit allen Freiheiten, die damit einhergehen könnten.
Wir haben es mit weit mehr als fünfundzwanzig Schicksalen zu tun, die innerhalb der 140seitigen Rahmenhandlung in kurzen Abrissen direkt oder indirekt vor uns aufflackern. Die Dichterin begegnet den Menschen in der Kirche, auf der Straße, am Strand, am Flughafen. Sie lässt uns an ihren Beobachtungen teilhaben und an dem was die Menschen über sich oder wiederum andere erzählen. Sie liest aus ihrer Tagespost oder erzählt von Menschen aus ihrer Vergangenheit. Keines der Schicksale beansprucht dabei mehr als zwei Seiten, keines ließe sich besonders hervorheben. Sie alle fügen sich fast gleichrangig in die Tagesordnung. Selbst die Begegnung mit einer todkranken Freundin am Flughafen, dem Ort der Flüchtigkeit per se, lässt sich bestenfalls als Höhepunkt der Schicksalswelle begreifen, denn auch über sie erfahren wir nicht wesentlich mehr. Doch ab diesem Zeitpunkt geschieht etwas mit der Dichterin. Fremdes Leid wird für sie zunehmend zur Belastung. Nicht weil ihr das Schicksal der Freundin, die ihre gescheiterte Ehe mit dem Tod ausklingen lassen will, besonders zugesetzt hätte, sondern weil sie überflutet von Input ist. Sie beginnt sich zu verschließen, Begegnungen auszuweichen und sich in Anekdoten zu flüchten. Der Tag klingt dabei aus wie er begonnen hat - Gebet in der Klosterkirche, ein stillsitzen und in sich kehren bei meditativen Klängen der Mönche, um die vielen Lebensgeschichten und die Unruhe, die diese mit sich gebracht haben, abklingen zu lassen.
Am Ende des Tages bleibt ihr die Erkenntnis, dass das unperfekte Leben der Normalzustand ist. Und sie gelangt, bevor sie sich dem Schlaf hingibt, über eine jahrhundertealte Anekdote zu der Gewissheit, dass sich die Geschicke über alle menschliche Torheit hinweg stets fügen, da sie letztlich nicht in der Macht des Menschen liegen.
Die Erzählerin nimmt zweifellos einen christlichen Standpunkt ein. Einen, der das Verirrte und Vergängliche am Menschen in eine gottgewollte Metaphysik einordnet. Das lässt sich auf den weltlichen Tenor übertragen: der Mensch ist wie er - geschaffen - ist. Er lässt sich nicht belehren und nicht ändern, nicht mal trösten, er will und muss seine eigenen Erfahrungen machen, muss sich daran reiben und auch aufreiben, bis zuletzt, denn genau das macht Leben aus.
Die christliche Ethik der Erzählerin ist dabei nur als Sinnangebot im Rahmen des Symbolsystems Literatur und nicht als tradierendes, kanonisierendes Motiv zu verstehen. Luise Rinser will weder einen Wegweiser zur Religion, noch eine praktische Sittenlehre aufzwingen. Sie bleibt in ihrer Erzählung undogmatisch und kirchenkritisch. Priesterlichen Sprachdogmen wird eine Absage erteilt, ebenso dem Heiligenkult, der nicht nur in Rom wach gehalten wird, oder der unreflektierten Christlichkeit einer römisch-katholischen Kirche, die sich den ihr inhärenten und den Widersprüchen zur Gegenwart verschließt. Das päpstliche Rom ist dabei als symbolträchtigster Ort einer starren unreflektierten Weltsicht zu verstehen, die die Dichterin in der Erzählung deutlich ablehnt.
Luise Rinser bezeichnete sich selbst als Störfaktor gegen das erstarrte Denken einer auf Konsum ausgerichteten Gesellschaft. Dazu gehört auch, sich Glaubensfragen nicht unkritisch vorkauen zu lassen, sondern einen eigenen Bezug zu Gott zu finden und sich ein eigenes Weltbild zu erschaffen.
Das Flair der Straßen Roms einzufangen ist der Autorin dabei nebensächlich. Sie will nicht in schönen Lesestunden das Kolorit der Stadt Rom kredenzen, sondern das Kolorit einer zunehmend desorientierten und verstörten Menschheit, die krampfhaft nach Struktur und Halt sucht und mit falschen Verheißungen, seien es religiöse oder gesellschaftliche, ruhig gestellt werden soll. Die dann aufgeschreckt und hilflos vor den Abgründen des Lebens steht, denen sie doch nicht entkommen kann. Ein Patentrezept für mehr zwischenmenschlichen Beistand bleibt der Erzählerin dabei versagt. Sie erwischt sich selbst immer wieder, wie sie Hilfe und Trost verweigert, wie sie Illusionen raubt; denn auch sie ist nur Mensch und keine Heilsbringerin.
Luise Rinser, in Pitzling bei Landsberg geboren, veröffentlichte ihr erstes Werk „Die gläsernen Ringe“ während der NS-Zeit, 1941, und bekam gleich darauf Berufsverbot. Das letzte halbe Kriegsjahr musste die Pädagogin wegen „Wehrkraftzersetzung und staatsfeindlicher Gesinnung“ in Gefangenschaft verbringen. Sie machte sich als kritische Nachkriegsautorin verdient, erhielt viele Preise, unter anderem auch den Heinrich-Mann-Preis der DDR, was eine gesamtdeutsche Anerkennung deutlich macht. Seit den 50er Jahre versuchte sie immer wieder, aber nicht ausschließlich, das Genre der Christlichen Literatur zu reanimieren. Auch dabei blieb sie stets kritisch reflektiert, ganz nach ihrem Moto: „Ich habe zu viele Erdbeben miterlebt, um weiterhin Sicherheit in einem festen Haus zu suchen“ (Metzler).
Als Einstieg ist „Septembertag“ nicht unbedingt zu empfehlen. Das sei abschließend wertfrei gesagt. Man greife lieber zu einem frühen Werk wie „Jan Lobel aus Warschau“ (1948), das von der Rettung eines polnisch-jüdischen KZ-Häftlings durch eine deutsche Familie erzählt, der nach dem Krieg unverstanden und entwurzelt bleibt bis in den Tod.
Vermutlich fühlte sich auch Luise Rinser unverstanden. Ein noch von ihr selbst verfasster Nachruf lässt darauf schließen. Man tut ihr unrecht, wenn man sie auf den christlichen Aspekt ihrer Literatur reduziert. Die existentielle Verstörtheit ist ihr eigentliches Thema, das wird auch mit „Septembertag“ ganz deutlich.
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[i]Poka![/i]
Zitat von LX.C
Die Erzählerin nimmt zweifellos einen christlichen Standpunkt ein. Einen, der das Verirrte und Vergängliche am Menschen in eine gottgewollte Metaphysik einordnet. Das lässt sich auf den weltlichen Tenor übertragen: der Mensch ist wie er - geschaffen - ist. Er lässt sich nicht belehren und nicht ändern, nicht mal trösten, er will und muss seine eigenen Erfahrungen machen, muss sich daran reiben und auch aufreiben, bis zuletzt, denn genau das macht Leben aus.
Das mag sein, dass sie niemanden belehren will. So genau kenne ich ihre Biografie nicht. In den fünziger Jahren kam sie zum Katholizismus, später hatte sie diesen kritisiert. Sie korrespondierte mit Karl Rahner und besuchte den Dalai Lama. Ich vermute, sie war eine Sucherin. In ihrem letzten Roman "Aeterna" wird Reinkarnation thematisiert, was ja nicht mit christlichen Vorstellungen harmonisiert.
„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
Ja. Über Buddhismus muss sie auch etwas verfasst haben. Essay oder Roman weiß ich jetzt nicht mehr genau. Wenn’s dich interessieren sollte wirst du dich schon schlau machen.
"Septembertag" ist jedenfalls keine Erbauungsliteratur, das möchte ich noch mal hervorheben. Und auch wenn das Werk tagebuchartig angelegt ist, ihre Tagebücher hat sie erst ab den 70er Jahren veröffentlicht.
Sie sollte sogar mal Bundespräsidentin werden, wenns nach den Grünen gegangen wäre , hat das aber abgelehnt.
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[i]Poka![/i]