HirngespinsteAustausch zwischen Literatur und Kunst |
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Bin oder Die Reise nach Peking, Erzählung, 1944
Der Ich-Erzähler, dessen Name sich erst am Schluss der Erzählung lüftet, wohnt mit seiner Frau Rapunzel in einem Haus mit Garten. Sie erwarten ein Baby. Eigentlich könnte er ja zufrieden sein, aber er wird von einer unbändigen inneren Sehnsucht getrieben. Er sinniert in seiner Fantasie eine Stadt, die er Peking nennt, aber es sich hier nicht um die Hauptstadt Pekings handeln kann, da diese Stadt am Meer liegen soll. Dorthin treibt treibt es ihn. Peking steht hier wohl auch für ein friedvolles Land, da in dem Land, in dem der Erzähler wohnt, sich im Krieg befindet. Diese Erzählung entstand 1944. Er bricht also auf, wandert durch Landschaft und erreicht die Chinesische Mauer. Dort wartet schon Bin auf ihn, an der Mauer gelehnt, eine Zigarre rauchend. Bin ist ein Geist, es scheint ein Doppelgänger des Protagonisten zu sein, mit dem dieser kommuniziert, ihn auf seiner Reise begleitet.
Es handelt sich hier um eine Fantasiereise, die sich nur im Kopf des Erzählers abspielt, sie dauert Monate, Jahre, dabei fällt es auf, die Erzählung teilt sich in drei Jahreszeiten auf: Frühling , Sommer und Herbst. Ob diese Fantasiereise wirklich Jahre dauert ist zweifelhaft. Es heißt:
Zitat von Max Frisch
Die Zeit ist ein sonderbar Ding, es gibt sie und gibt sie auch wieder nicht.
Auf seiner Traumreise begegnet er Menschen, denen er in der Vergangenheit schon einmal begegnet war. Eine wichtige Begegnung ist Maja, die ihn in seiner Jugend, im Frühling seines Lebens, verlassen hatte. Im Traum tanzt er noch mal mit ihr.
Zitat von Max Frisch
Maja, hieß sie, ein liebes Mädchen. Lange ist's her! Aber es hört nicht auf, daß ich sie verloren habe.
Er kann sich von seiner Vergangenheit nicht lösen, er schleppt die Lasten seines Lebens bis in den Herbst seines Lebens hinein. Er kann sich nicht befreien, auch nicht von seiner Rolle, die er auf seiner Reise nach Peking mitschleppt, auf dieser Rolle offenbar sein bisheriges Leben verzeichnet ist. Erinnerungen sind Gegenwart, heißt es, es verwirre, denn die Zeit wird ausgehebelt, und der Erzähler wissen dann auch nicht, wo er sich gerade in seinem Leben befinde. Hier sind wohl auch die Wurzeln der Sehnsucht zu suchen, von der der Erzähler getrieben wird. So halte ich folgenden Satz für den Höhepunkt der Geschichte:
Zitat von Max Frisch
Unsere Seele gleicht einem Schneeschaufler, sie schiebt einen immer wachsenden, immer größeren und mühsameren Haufen von ungestilltem Leben vor sich her, macht sich müde und alt, das Ergebnis besteht darin, daß man dagewesen ist, und dennoch setzen wir alles daran, daß wir möglichst lange nicht sterben.
Als ich die Lektüre zu lesen begann, erschien mir der Text befremdend. Eine Traum- und Fantasiereise habe ich auch nicht erwartet. Übrigens habe ich die Geschichte zweimal gelesen. Beim zweiten Mal machte ich noch schöne Entdeckungen. Der Text verlangt sorgfältiges Lesen, auf diese Weise hat er sich mir eröffnet. Ganz spontan gefiel mir die Prosa, die mit besonders schönen Naturbeschreibungen aufwartet.
Zitat von Max Frisch
„Wie liebe ich den Herbst! Eines Morgens hängt er wie Rauch vor den Bäumen,...“
Liebe Grüße
mArtinus
„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
Stiller
Die große Identitätskrise oder die Verurteilung zum Ich ohne Wandlungsmöglichkeit!
„Einer“ wird in der Schweiz verhaftet, da er „Stiller“ sein soll und irgendetwas auf dem Kerbholz (Spionage oder so) haben soll. Was allerdings unwesentlich ist, vielmehr dass dieser Einer fortwährend diese Identität abstreitet. Nun sitzt er in Untersuchungshaft und alle, der Verteidiger (dieser spricht ihn gleich mit „Stiller“ an – Situationskomik pur), der Staatsanwalt und gar seine Frau, Schwager, seine Freunde, sein Vater, alle lassen nicht davon ab, dass „Einer“ „Stiller“ ist. Nur dieser streitet das vehement ab, erzählt Geschichten über Geschichten, nennt sich Mr. White und schreibt den ersten Teil des Buches nieder.
>>… - diese Unmöglichkeit ist es, was uns verurteilt, zu bleiben, wie unsere Gefährten uns sehen und spiegeln, sie, die vorgeben, mich zu kennen, sie, die sich als meine Freunde bezeichnen und nimmer gestatten, daß ich mich wandle, …<<
Der Leser ist zunächst verunsichert, möchte er doch als neutraler Leser nicht diesen Fehler begehen und sieht den Verlauf der Handlung eher skeptisch. Später neigt man dann auch zu der Annahme, dass „Stiller“ „Stiller“ ist, aber es gibt auch immer wieder Situationen, bei denen man wieder zweifelt – was den Figuren im Buch nie in den Sinn kommt – wenn beispielsweise ein Zahn vorhanden ist, der gar nicht mehr vorhanden sein sollte.
Eindeutig wird die Identität nicht geklärt, aber spielt das eine große Rolle?
Im Buch geht es in der Hauptsache um die Beziehung zwischen Stiller und Julika. Fasziniert von diesem zarten blassen Wesen mit dem roten Haar, heiratet Stiller seine Göttin. Auch sie ist ihm still ergeben, aber das große Glück der Beiden bleibt aus. Sie erkrankt an Tuberkulose, muss in die Berge zu einer Kur, und er verlässt sie.
Als Begründung für diese Handlung wird immer wieder der Spanische Bürgerkrieg in der Vordergrund geschoben, in dem Stiller seine Pflicht nicht erfüllt und die „Feinde“ nicht erschossen hat. Schuldkomplexe tun sich auf und er ergreift die Flucht nach Amerika. Er bleibt sieben Jahre weg und nun hat man „Einen“ gefasst, der wie „Stiller“ aussieht.
Und es spielt doch gar keine Rolle, ob „Einer“ „Stiller“ ist oder nicht! Fakt ist doch, falls „Stiller“ „Stiller“ ist, hat er diese Identität abgelegt, oder er wünscht es sich diese Identität ablegen zu können, weil er damit nicht mehr leben wollte und konnte. Natürlich hat „Stiller“ dann eine Identitätskrise, wenn er „Stiller“ ist. Aber dies wird von außen nicht erkannt, geschweige akzeptiert. Einzig von Rolf dem Staatsanwalt, doch das klärende Gespräch wird erst geführt als Stiller zu Stiller verurteilt wird, damit leben muss und alles von vorne beginnt.
>>Sie (Julika und alle anderen) kann ihn nicht aus dem Bildnis befreien, das sie von ihm gemacht hat – dadurch steht sie auf der Seite der Gesellschaft und nicht auf der Seite ihres Mannes.<< (Wiki zu „Stiller“)
Ein beeindruckendes Werk, welches mir von den bisher gelesenen Büchern von Frisch („Homo Faber“, „Mein Name sei Gantenbein“ und „Der Mensch erscheint im Holozän“) am besten gefallen hat.
Der Mensch erscheint im Holozän
in Die schöne Welt der Bücher 31.10.2011 10:42von Krümel • 499 Beiträge
Der Mensch erscheint im Holozän
Herr Geiser, 74, Witwer, lebt alleine in einem Tal in den Tessiner Alpen. Ein Unwetter trennt nun zu Beginn der Geschichte das Tal von der Außenwelt ab und der Leser taucht in die Welt des Herrn Geiser ein:
Sehr sachlich analysiert Herr Geiser seine Situation, er listet die vorhandenen Lebensmittel auf und schreibt nebenher eine Liste über Donnerarten, die das Unwetter im Laufe der Tage über das Tal krachen lässt.
Nachdem er diese Donnerarten niedergeschrieben hat, entwickelt Herr Geiser ein großes Interesse an Wissen, vorwiegend geologisches Wissen, über die Erdgeschichte, aber auch über Dinosaurier und das Tessin. Er sammelt Fachwissen aus Lexika, später schneidet er sogar die einzelnen Artikel aus den Büchern heraus, und all sein „Wissen“ wird an den Wänden seines Hauses befestigt.
„Ob es Gott gibt, wenn es einmal kein menschliches Hirn mehr gibt, das sich eine Schöpfung ohne Schöpfer nicht denken kann, …“
Die Ebene, die sich speziell um den Witwer dreht, ist von einer präzisen Anmut gezeichnet, und spiegelt ein Menschenschicksal. Die philosophischen Gedanken des Herrn Geiser verkörpern eine weitere Ebene und darüber hinaus sind die Zettel an der Wand eine Ebene, die alles umfasst. Somit vereint dieses schmale Büchlein nicht nur einen Mikrokosmos eines einzelnen, sondern auch den Makrokosmos.
„Manchmal fragt sich Herr sich Herr Geiser, was er denn eigentlich wissen will, was er sich vom Wissen überhaupt verspricht.“
Meine Gedanken: Vielleicht erscheint der Mensch auf seinen geistigen Höhepunkt im Holozän, doch könnte es sein, dass all sein Wissen nicht an der Tatsache vorbeiführt, dass wir das gleiche Schicksal der Dinosaurier erleiden und ihnen folgen werden. Ist der Mensch genauso endlich wie der Mikrokosmos des Herrn Geiser?
„Was heißt Holozän! Die Natur braucht keine Namen. Das weiß Herr geiser. Die Gesteine brauchen sein Gedächtnis nicht.“
zum Roman "Stiller"
Zitat von Krümel
Der Leser ist zunächst verunsichert, möchte er doch als neutraler Leser nicht diesen Fehler begehen und sieht den Verlauf der Handlung eher skeptisch. Später neigt man dann auch zu der Annahme, dass „Stiller“ „Stiller“ ist, aber es gibt auch immer wieder Situationen, bei denen man wieder zweifelt – was den Figuren im Buch nie in den Sinn kommt – wenn beispielsweise ein Zahn vorhanden ist, der gar nicht mehr vorhanden sein sollte.
Eindeutig wird die Identität nicht geklärt, aber spielt das eine große Rolle?,
Ich bin mir ziemlich sicher, dass Herr Stiller wirklich Herr Stiller ist, bloß hätte ich Max Frisch gefragt, warum er überhaupt diese Szene mit dem Zahnarzt in den Roman aufgenommen hat. Sie verwirrt nur. Ansonsten ist mir die Identität Stillers sicher. Das Pronblem um das es geht ist, Stiller ist bei einem Zahnarzt, der eine älteres Röntgenbild von Stillers Zahnstatus hat, welches nicht mit dem Zahnstatus unseres als Herrn Stiller genannten Person übereinstimmt. Es ist ein Verwirrspiel, was Stiller mit dem Leser macht. Warscheinlich weiter nichts.
Ein Beweis, warum Herr Stiller wirklich Stiller ist, ist die Begegnung mit seinem Vater. Er wird mit seinem Stiefvater konfrontiert und behauptet, er kenne ihn nicht. Diese Gegenüberstellung macht ihn wütend, weil es ihn bloßstellt, man kommt ihm auf die Schliche, sodass er,als ob er noch einmal seine Stiller - Vergangenheit vernichten will, eine Gipsfigur zertrümmert.
Ein Zitat vom Staatsanwalt:
Zitat von Max Frisch
Viele erkennen sich selbst, nur wenige kommen dazu, sich selbst auch anzunehmen.
Das betrifft Stiller, der sich nicht so annimmt, wie er ist.
Zitat von Krümel
Im Buch geht es in der Hauptsache um die Beziehung zwischen Stiller und Julika. Fasziniert von diesem zarten blassen Wesen mit dem roten Haar, heiratet Stiller seine Göttin. Auch sie ist ihm still ergeben, aber das große Glück der Beiden bleibt aus. Sie erkrankt an Tuberkulose, muss in die Berge zu einer Kur, und er verlässt sie.
Als Begründung für diese Handlung wird immer wieder der Spanische Bürgerkrieg in der Vordergrund geschoben, in dem Stiller seine Pflicht nicht erfüllt und die „Feinde“ nicht erschossen hat. Schuldkomplexe tun sich auf und er ergreift die Flucht nach Amerika. Er bleibt sieben Jahre weg und nun hat man „Einen“ gefasst, der wie „Stiller“ aussieht.
Stillers Erfahrung aus dem spanischen Bürgerkrieg ist der Aufhänger des Romans. Jawohl.
Stichwort Sartre: „Der Mensch ist verurteilt frei zu sein“ (Sartre)
Jeder Mensch bestimmt selbst, ob er ein Hindernis, ein Konflikt, eine schwierige Situation bewältigt oder nicht. Auf eine höhere Instanz hoffen, z.B. auf Gott, kann man im Sinne von Sartre vergessen. Der Mensch wird in das Leben geworfen und muss damit fertig werden, dass er existiert. Stillers Erlebnis im Spanischen Bürgerkrieg war so eine Situation, in der er sich entscheiden musste, bewältige ich diese Situation oder nicht. Weil er Soldat war, wurde es erwartet, dass er die Situation bewältigt, hat aber die bösen Nazis nicht erschießen können, weil er sie einfach nur als Menschen wahrgenommen hatte und nicht als die Feinde, darum er sich in Folge als Versager sieht und darum seine Identität wechseln musste. Stillers Urdrama. Dieses Geschehen zeigt ebenso, dass Stiller wirklich Stiller ist. In Amerika nannte er sich White. das Land gewechselt, die Identität gewechselt.
Zitat von Stiller
Eindeutig wird die Identität nicht geklärt, aber spielt das eine große Rolle?
Wenn sich herausstellen sollte, also, wenn ich Max frisch Fragen könnte, ob Stiller nun Stiller sei, und er würde nein sagen, dann müsste ich zugeben, den Roman nicht verstanden zu haben. Die Zahnarzt-Szene finde ich, Frisch möge es mir verzeihen, unsinnig. Am Ende des Romans sieht es so aus, als ob Stiller noch einmal eine Chance bekäme, mit Julika ein neues Leben zu beginnen. Doch der Roman endet tragisch.
"Stiller", also den Roman, finde ich großartig. Hat mir viel Freude gemacht. Die Dialoge zwischen Stiller und Julika, die Ehekrise, usw., wunderbare Dialoge, sehr lebendig rasant erzählt.
Liebe Grüße
mArtinus
„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
Ich denke, es gibt diese zwei Lesearten Martinus. Es spielt auch für mich keine Rolle, ob "Stiller" "Stiller" ist, das ist unwesentlich für mich, nur rein die Tatsache des Nicht-Erkennens und die Verurteilung zu ist für mich wesentlich und spiegelt mir haargenau den Menschen wieder.
Sicher denke ich, dass "Stiller" zu 99,9% "Stiller" ist , aber das ist unwesentlich.
Zitat
warum er überhaupt diese Szene mit dem Zahnarzt in den Roman aufgenommen hat. Sie verwirrt nur. Ansonsten ist mir die Identität Stillers sicher.
Gar nicht böse gemeint, aber dann triffst Du vielleicht genau die Sorte Mensch, gegen die Frisch angeschrieben hat oder die den Anlass für seinen Roman bot Oder geht es sogar darum, zu seiner Identität zu stehen? (Stichwort Schweiz.) - Nur zwei Gedanken, die sich angesichts Eurer Beiträge ergeben haben, ohne den Roman gelesen zu haben.
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[i]Poka![/i]