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Hirngespinste

Austausch zwischen Literatur und Kunst

#1

Anton Semjonowitsch Makarenko

in Die schöne Welt der Bücher 26.10.2011 17:21
von LX.C • 2.821 Beiträge

Der Weg ins Leben. Ein pädagogisches Poem

Erster Teil

Pädagogische Wissenschaft, „wieviele Jahrtausende besteht sie schon! Welche Namen, welch glänzende Gedanken! Pestalozzi, Rousseau, Natorp, Blonskij! Wieviel Bücher, wieviel Papier, wieviel Ruhm! Und dabei völlige Leere. Nichts! Nicht einmal mit einem Rowdy kann man fertig werden“, stellt der Pädagoge Anton Semjonowitsch angesichts seiner praktischen Erfahrung fest. Als verdammten Intelligenzler musste er sich im Volksbildungsamt beschimpfen lassen, der seine Pädagogik nur in einem schönen, schmucken Schulgebäude betreiben wolle. So nahm er die Herausforderung an, kriminelle Jugendliche auf den richtigen Weg zu bringen und sie zu guten Bürgern des noch nicht einmal gefestigten kommunistischen Sowjetstaates zu sozialisieren.
Zeitlich bewegen wir uns Anfang der zwanziger Jahre, noch im Bürgerkrieg zwischen Weißgardisten, ukrainischen Partisanen und Kommunisten. Hinzu kommt, dass die kommunistische Ideologie gerade bei den Bauern kaum angenommen und verinnerlicht wird. Als Anton Semjonowitsch in der vormals zaristischen Erziehungsanstalt bei Poltawa in der Nähe von Charkow ankommt trifft er auf einen geplünderten Komplex. Nicht einmal die Fenster hat man mehr in den Häusern gelassen. Die umliegenden Kulaken, wie eben jene der alten Ordnung nachhängenden Bauern genannt werden, haben alles beiseite geschafft. Materialmangel, Lebensmittel- und Geldknappheit bestimmen fortan das Dasein der Kolonisten. Der Wirtschaftsverwalter Kalina Iwanowitsch, den man Anton Semjonowitsch zur Seite gestellt hat, ist das erste Subjekt seiner erzieherischen Tätigkeit. Mit ihm wird er mittels pädagogischer Kniffe, welche die Fähigkeiten Anton Semjonowitschs erahnen lassen, schneller fertig als mit den Zöglingen, von denen die ersten nur kurze Zeit später in der praktisch noch unbewohnbaren Kolonie eintreffen.
Vagabunden, Diebe, Mörder, Mitläufer aus Partisanentrupps. Diese scheinen unbelehrbar und treiben den Pädagogen und seine Kollegen anfangs regelmäßig an den Rand der Verzweiflung. Anton Semjonowitsch wollte alles besser machen, als es im zaristischen Reich an selben Ort geschehen war, doch seine Hilflosigkeit treibt ihn zu eben jenem tradierten Mittel, das er niemals einsetzen wollte: körperliche Gewalt. An seine Grenzen gebracht schlägt er einen der Zöglinge zusammen. Nicht irgendein schwaches Glied der Gruppe, sondern stellt sich dem Stärksten, dem Größten, dem provokanten Wortführer. Endlich kann er sich unter den Jugendlichen nachhaltig Respekt verschaffen, doch sich selbst stellt er dabei infrage.

Im ersten Teil von Makarenkos pädagogischem Poem geht es vorwiegend um den Aufbau der Kolonie, die Schwierigkeiten, die angesichts des noch jungen Regimes dabei entstehen und die Widrigkeiten, die der Pädagoge mit seinen Zöglingen hat. Diese schlagen sich mit den Dorfjugendlichen, brechen bei den Bauern ein, beklauen ihre Felder, beklauen selbst die eigene Kolonie. Gerade das wird mit wachsendem Gruppenzusammenhalt schnell zur größten Missetat, denn wer sich an der Kolonie vergreift, vergreift sich an allen. Doch die Zöglinge haben auch ihre guten Seiten. Gemeinsam mit Anton Semjonowitsch bekämpfen sie die illegale Schnapsbrennerei der Kulaken, jagen marodierende Banden und Wegelagerer oder werden beauftragt, die Wälder gegen illegale Rodungen zu schützen. Sie bebauen nach einiger Anlaufzeit Felder, die nach und nach dank eines hinzukommenden Gutes erschlossen werden konnten, betreiben Viehzucht und richten eigene Werkstätten ein, mit denen sich sogar etwas Geld verdienen lässt. So wächst nach vielen Tiefen im ersten Teil die Kolonie „Maxim Gorki“ zu einem stattlichen pädagogischen Unternehmen an, in dem durch Eigenverantwortung und geregelte Tagesabläufe den kriminellen Jugendlichen Perspektiven aufgezeigt werden können. Zunehmend können sich die Kolonisten auch nach außen Respekt verschaffen, bis hin zum ersehnten und schwer erkämpften Eintritt in den Komsomol. Doch bei allen Erfolgen wird Anton Semjonowitsch ebenso klar, dass nur die Wenigsten langfristig die Orientierungsangebote verinnerlichen, die ihnen aufgezeigt werden. Viele bleiben auf der Strecke, einige muss Anton Semjonowitsch verloren geben und sich von ihnen trennen. Einige davon landen wieder im kriminellen Milieu, andere kommen gerade durch diesen Ausstoß zur Besinnung und kehren reumütig zurück.

Makarenkos pädagogisches Poem, das aus drei Teilen besteht, speist sich aus der Erfahrung des Autors als Pädagoge. Es wurde 1933 auf Nachdruck von Maxim Gorki veröffentlicht. Nach 1945 wurde es im sozialistischen Teil Deutschlands mit Begeisterung rezipiert, es existiert sogar eine Verfilmung, die in deutschen Kinos zu sehen war. In russischen und ehemals sowjetischen Gebieten gehört es noch heute zum literarischen Programm des pädagogischen Studiums. Bei uns wird Makarenkos Poem keine Bedeutung mehr zugemessen. Ein Schicksal, das der Roman mit vielen Werken des Sozialistischen Realismus nach 1990 teilt. Dabei tut man, so wie sich „Der Weg ins Leben“ im ersten Teil präsentiert, unrecht. Denn wer voller Graus ein ideologisches Erziehungspamphlet erwartet, der wird zur Freude schnell eines Besseren belehrt: Makarenkos „Der Weg ins Leben“ liest sich wie ein historischer Abenteuerroman. Der Autor vermeidet jedwede theoretische Ausschweifungen und schöngeistige Allüren, was der Spannung und einer natürlichen Erzählweise sehr zugute kommt. Nur in wenigen Kapiteln wird Makarenko agitatorisch – was eher wie ein Pflichtprogramm des Sozialistischen Realismus anmutet, ohne Zweifel aber auch der pädagogischen Ausrichtung des Autors geschuldet ist. Doch Theorie ist merklich nicht das Anliegen, sondern die Weitergabe praktischer Erfahrungen in Romanform verpackt. Da keines der Kapitel sehr lang ist und eben solche Abschnitte, die das kommunistische System in seinen Zügen und Strukturen näher betrachten, die Ausnahme darstellen, kann man diese als historische Gegebenheiten studieren oder es lassen und weiter den Abenteuern der Kolonisten frönen, die sich ansonsten Schlag auf Schlag aneinanderreihen.

(Zitat: Makarenko, A. S.: Der Weg ins Leben. Ein pädagogisches Poem, Aufbau Verlag, Berlin 1963, S. 117-118.)

Wer den Roman auf Russisch lesen möchte, der kann das hier tun:
http://makarenko-museum.narod.ru/Classic...agogic_poem.htm


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[i]Poka![/i]

zuletzt bearbeitet 26.10.2011 17:23 | nach oben springen


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