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Hirngespinste

Austausch zwischen Literatur und Kunst

#1

David Benioff

in Die schöne Welt der Bücher 24.10.2011 17:14
von Martinus • 3.195 Beiträge

David Benioff: Stadt der Diebe

Dieser Roman ist eine große Überraschung. Es wird nicht einfach nur ein tragisches Schicksal im Zweiten Weltkrieg erzählt, sondern David Benioff verbindet in einzigartiger Weise Kriegsgeschehen, Geschichte einer Jugendfreundschaft und Abenteuerroman. Einzigartig, weil mir in der deutschsprachigen Literatur in dieser Art noch nichts vor die Augen gekommen ist, in Deutschland solch ein Roman auch sicher nicht hätte geschrieben werden können. Humor, Witz, Ernsthaftigkeit, die absolute Bitternis und Unmenschlichkeit des Krieges, Brutalität, Sex und Überlebenskampf – alles das ist in diesem Roman in gekonnter Ausgewogenheit enthalten, der Autor außerdem einen Roman vorgelegt hat, der auf keiner einzigen Seite Langeweile aufkommen lässt. Spannung bis zum Schluss, ein rasanter Drive mit überraschenden Wendungen.

Brian Moore konnte auch spannungsgeladen schreiben, aber ich denke, dieser Benioff hat noch einen Tick mehr, zumal außerdem das Kolorit Leningrad im Jahre 1942 zur Zeit der Belagerung der Nazis für den deutschen Leser schon etwas besonderes ist ,und der Aufhänger des Romans ist einfach genial bemerkenswert, wie wir gleich sehen werden. Verdanken haben wir diese Lokalität Benioffs Großvater, der in Leningrad geboren ward und mit siebzehn Jahren ins berüchtigte Kresty- Gefängnis gesteckt wird, weil er einem deutschen Fallschirmspringer, der tot vom Himmel fiel, ein Messer klaute. Von diesem Großvater, der Lew heißt, handelt dieser Roman. Allerdings ist das schon Fiktion. Im Deutschlandfunk hat Benioff offenbart, sein Großvater sei nie in Leningrad gewesen. Trotzdem, im Roman sitzt Lew im Dunkel seiner Gefängniszelle:

Zitat von Benioff
Die Nacht würde niemals enden. Die Deutschen hatten die verdammte Sonne abgeschossen, die konnten das, klar doch, ihre Wissenschaftler waren die besten der Welt, die konnten das austüfteln. Die hatten herausgefunden, wie man die Zeit anhält. Ich war blind und taub. Nur die Kälte und mein Durst sagten mir, dass ich noch lebte. Mit der Zeit wirst du so einsam, dass du dich nach den Wärtern sehnst, nur um ihre Schritte zu hören, ihre Wodkafahne zu riechen.


Im Gefängnis begegnet er den etwas älteren und lebenserfahrenen Kolja, Angehöriger der Roten Armee, der einsitzt, weil er desertiert ist. Sie glauben, am nächsten Tag umgebracht zu werden, werden aber einem Oberst des Geheimdienstes vorgeführt, der ihnen Gnade verspricht, wenn sie für die Hochzeitstorte seiner Tochter in Leningrad zwölf Eier besorgen können. Ein Ding der Unmöglichkeit, denn in Leningrad werden die letzten Hühner zu Suppen verkocht.

Benioff hat für seinen Roman recherchiert. So las er, wie er am Ende des Romans in den "Danksagungen" schildert "900 Tage. Die Belagerung von Leningrad" von Harrison E. Salisbury und das Buch "Kaputt" von Curzio Malapartes, in dem die Taktik der Deutschen mit den Partisanen geschildert wird. Einmal hören die Freunde Klaviermusik aus irgendeinem Fenster, und es wird bemerkt, Schostakowitsch wohne hier in der Nähe. Allerdings ist es die dichterische Freiheit des Autors, diese Szene in das Jahr 1942 zu verlegen. Historisch korrekt ist, Schostakowitsch befand sich im Jahre 1941 noch in Leningrad und spielte damals bei einer Gelegenheit aus der Leningrader Symphony vor. 1941 verließ er aber auch die Stadt und wohnte dann in Moskau. Roman ist eben Fiktion. Mir haben auch die Dialoge der Jungens gefallen. Natürlich geht es darin hauptsächlich um Frauen, Kolja in diesen Dingen überlegen ist. Diese Dialoge tragen Witz, Charme und sind so unverkrampft, dass es einfach herrlich zu lesen ist. David Benioff, der, wenn er nicht gerade an einem Roman sitzt, Drehbücher schreibt, ist ein begabter Dialogeschreiber. Aus den Dialogen und ihrem Verhalten bilden sich die Charaktere der Protagonisten. Dostojewskij hat auf diese Weise ebenso Charaktere geformt.

Von den Erlebnissen der Freunde möchte ich euch nichts verraten. Lasst euch lieber von diesem herrlichen ungewöhnlichen Roman überraschen. Übrigens war das eine Empfehlung von Roquairol.
Und weil es so schön war, lese ich gleich noch den Romanerstling "25 Stunden" hinterher.

Liebe Grüße
mArtinus




„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
zuletzt bearbeitet 25.10.2011 04:19 | nach oben springen

#2

RE: David Benioff

in Die schöne Welt der Bücher 25.10.2011 22:19
von Roquairol • 1.072 Beiträge

Hallo Martinus, freut mich sehr, dass es dir auch gefallen hat. Da habe ich ja nochmal Glück gehabt ....




Homepage: http://www.noctivagus.net/mendler
Facebook: http://www.facebook.com/people/Klaus-Mendler/1414151458
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#3

RE: David Benioff

in Die schöne Welt der Bücher 26.10.2011 00:57
von Martinus • 3.195 Beiträge

Deine Empfehlungen sind doch immer ganz gut. Fluchtstücke usw.




„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
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