background-repeat

Hirngespinste

Austausch zwischen Literatur und Kunst


#1

Franz Kafka

in Die schöne Welt der Bücher 31.05.2008 16:14
von Martinus • 3.195 Beiträge
Franz Kafka: Der Verschollene

Der fünfzehnjährige Karl Roßmann wird von seinen Eltern nach Amerika geschickt, weil er von einem Dienstmädchen vergewaltigt worden ist, die nun geschwängert war. Nicht nur geschickt, nein, er soll verbannt werden, von seinen Eltern auf immer und ewig getrennt, nicht weil Karl die Schuld der Vergewaltigung trägt, sondern um die Schande an sich von der Familie fernzuhalten. Der Verlust des Reisekoffers mit Erinnerungen an Vater und Mutter, Speise für unterwegs und Kleidung unterstreicht symbolisch die Trennung von seiner Familie. Auch wenn der Koffer später wieder auftaucht, das Foto seiner Eltern bleibt verloren.

Jetzt ist er verschollen in Amerika. Verschollen in dieser Hinsicht, dass er es nicht mehr zustande bringt, sich Personen zugehörig zu fühlen. Er ist allein, ein Getriebener, er irrt umher. Dieses Umherirren wird sehr bildhaft erzählt, als er sich in den Gängen des Schiffes verläuft, später im Hause des Herrn Pollunder herumirrt:

Zitat von Kafka
...Es war ein langsames Vorwärtskommen und der Weg schien dadurch doppelt lang. Karl war schon an großen Strecken der Wände vorübergekommen, die gänzlich ohne Türen waren, man konnte sich nicht vorstellen, was dahinter war...Plötzlich hörte die Wand an der einen Gangseite auf und ein eiskaltes mamornes Geländer trat an ihre Stelle. Karl stellte die Kerze neben sich und beugte sich vorsichtig hinüber. Dunkle Leere wehte ihm entgegen....


Alptraumhaft, was für ein Schauder. Ich gerate leicht in Versuchung, diese Traumbilder freudianisch zu deuten. Sigmund Freud sagt:
Zitat von Freud

Türe und Tor werden wiederum zu Symbolen der Genitalöffnung.
(Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, X. Die Symbolik im Traum).

Klara erklärt Karl, wo ihre Tür zu finden ist.
Zitat von Kafka

Ich werde nicht gerade auf Dich warten, aber wenn du kommen willst so komm.


Diese Aussage hat ohne Zweifel etwas erotisches, auch wenn im Text (nur) gesagt wird, Karl habe ihr versprochen, auf dem Klavier vorzuspielen. Nur Klavier spielen, und das nachts?

Die Türe, sind im Kafkazitat alle verschlossen. Karl sagt sogar:
Zitat von Kafka

Ich werde nicht mehr in mein Zimmer zurückgehn.


Der sexuelle Wunsch wird unterdrückt. Interesssant ist aber, dass Herr Green Karl darum bittet, zu Klara zu gehen, und (bitter)ironisch bemerkt:

Zitat von Kafka
Das dürfte Ihnen sicher Vergnügen machen.


Ist es ein Eingeständnis von Impotenz, wenn Karl Roßmann Klara eröffnet:

Zitat von Kafka
Ich bin, wenn ich ehrlich sein soll, froh, daß für das Spiel schon zu spät ist, denn ich kann noch gar nichts...


Zu guter Letzt entwirft Kafka ein fantastisches Traumbild, Karl öffnet eine Tür und erblickt Klaras Verlobten in einem Himmelbett. Wenn wir das in Anbedacht meiner Interpretation sehen, vollzieht sich hier eine Demütigung gegenüber Roßmann. Zu Beginn, bevor Roßmann in den Gängen des Hauses herumirrt, lässt er seine Zimmertür offen, d.h. er hat sexuelle Wünsche, die aber, wie wir gesehen haben nicht erfüllt werden. Zwischen Klara und dem Dienstmädchen aus Prag, die Roßmann vergewaltigt hatte, gibt es eine Verbindung: Beide tun ihm Gewalt an.

Die Bedeutung dieses Romans liegt u.a. darin, dass Kafka zu Beginn des 20 Jahrhunderts erschreckend in eine hochtechnisierte Welt sah, die den einzelnen Menschen, das Individium, unbedeutend erscheinen ließ. Der einzelne Mensch wird entmenschlicht. Es wird aber erwartet, der Mensch müsse in der hochtechnisierten Welt funktionieren, eben nur funktionieren. Das verrät uns ein Blick in den Betrieb von Roßmanns Onkel:

Zitat von Kafka
Der Onkel öffnete die nächste dieser Türen und man sah dort im sprühenden elektrischen Licht einen Angestellten gleichgültig gegen jedes Geräusch der Türe, den Kopf eingespannt in ein Stahlband, das ihm die Hörmuscheln an die Ohren drückte. Der rechte Arm lag auf einem Tischchen, als wäre er besonders schwer und nur die Finger, welche den Bleistift hielten, zuckten unmenschlich gleichmäßig und rasch...Mitten durch den Saal war ein beständiger Verkehr von hin und her gejagten Leuten. Keiner Grüßte, das Grüßen war abgeschafft, jeder schloß sich den Schritten des ihm vorübergehenden an, und sah auf den Boden auf dem er möglichst rasch vorwärtskommen wollte oder fieng mit den Blicken wohl nur einzelne Worte oder Zahlen von Papieren ab, die er in der Hand hielt und die bei seinem Laufschritt flatterten.


Wie ein wohlfunktionierter Ameisenhaufen in dem gähnend gefühllos innere Leere haust.

später mehr...

Liebe Grüße
Martinus



„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
zuletzt bearbeitet 31.05.2008 18:37 | nach oben springen

#2

RE: Franz Kafka

in Die schöne Welt der Bücher 03.06.2008 13:36
von Martinus • 3.195 Beiträge

Die Arbeit als Liftjunge im „Hotel occidental“ ist nichts anderes als Ausbeutung:

Zitat von Kafka
Da ist unser kleiner Junge z.B., er ist auch erst vor einem halben Jahr mit seinen Eltern hier angekommen, er ist ein Italiener. Jetzt sieht es aus, als könne er die Arbeit unmöglich aushalten, hat schon kein Fleisch im Gesicht, schläft im Dienst ein....

Überhaupt war es ein einförmiger Dienst und wegen der zwölfstundigen Arbeitszeit, abwechselnd bei Tag und Nacht, so anstrengend, daß er nach Giacomos Angaben überhaupt nicht auszuhalten war, wenn man nicht minutenweise im Stehen schlafen konnte. Karl sagte hierzu nichts, aber er begriff wohl, daß gerade diese Kunst Giacomo die Stelle gekostet hatte.


Das das Individium nichts zählt, zeigt auch das Verhalten von Karls Vorgesetzten, dem Oberkellner als Karl sich bei ihm erstmals vorstellen wollte:

Zitat von Kafka
Er hatte keine Zeit sich auch nur auf das geringste Gespräch einzulassen und läutete bloß einen Liftjungen herbei, zufällig gerade jenen, den Karl gestern gesehen hatte.


Auch die Anschuldigungen, die zu Karls Rausschmiss führen, erweisen sich doch als ungerechtfertigt. Roßmann man wird zum Spielball autoritärer Gewalten. Die ungerechte Schikane, die ein fleißiger Arbeitnehmer ertragen muss, gipfelt meiner Ansicht nach in folgender Schilderung:

Zitat von Kafka
Karl sah ein, daß er eigentlich seinen Posten schon verloren hatte, denn der Oberkellner hatte es bereits ausgesprochen, der Oberportier als fertige Tatsache wiederholt und wegen eines Liftjungen dürfte wohl die Bestätigung der Entlassung seitens der Hoteldirektion nicht nötig sein. Es war allerdings schneller gegangen, als er gedacht hatte, denn schließlich hatte er doch zwei Monate gedient so gut er konnte und gewiß besser als macher andere Junge. Aber auf solche Dinge wird eben im entscheidenden Augenblick offenbar in keinem Weltteil, weder in Europa, noch in Amerika Rüchsicht genommen, sondern es wird so entschieden, wie einem in der ersten Wut das Urteil aus dem Munde fährt.


Karl Roßmann muss wieder eine Demütigung erfahren. Sein niederer Berufsstand wird gedemütigt, weil die Hoteldirektion wegen der Kündigung nicht hinzugezogen werden muss, zweitens wird Karls Fleiß nicht berücksichtig. Schließlich wird er gezwungen, der fetten Brunelda ein Diener zu sein. Als er fliehen will, wird er brutal zusammengeschlagen.

„Der Verschollene“ weist in unsere Zeit. Wenn jemand im Getriebe des Arbeitslebens nicht funktioniert, verliert er seine Anstellung. Die Motivwiederholungen im Roman deute ich als ein großes Zahnradgetriebe, welches sich im Kreise dreht. Das Individium, Karl Roßmann“ ist ein kleines Zahnrädchen im großen Getriebe. Wenn das kleine Zahnrädchen verschleißt, wird es hinausgeworfen und ersetzt. Im letzten Kapitel, Fragment II, scheint sich alles zum Guten zu wenden. Im Theater von Oklahoma (Kafka schrieb: „Teater von Oklahama“) findet jeder Arbeit. Das mutet geradezu paradiesisch an, wird man doch von Engeln mit Flügeln empfangen, die auf Postamenten stehen, den Arbeitssuchenden mit Trompetenschall empfangen.

Wenn ich aus Politikermündern Vollbeschäftigung höre, so wirft mir gerades dieses einen bitter ironischen Blick auf Kafkas letztes Romankapitel.

Liebe Grüße
mArtinus




„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
nach oben springen

#3

RE: Franz Kafka

in Die schöne Welt der Bücher 30.12.2009 12:38
von Martinus • 3.195 Beiträge

Ein Bericht für eine Akademie

Kafka erzählt von der Wandlung eines Affen zum Menschen, dabei finde ich es entscheidend, der Wunsch des Affen, sich zum Menschen zu entfalten, wird während einer Jagdexpedition der Firma Hagenbeck, also durch Menschen selbst ausgelöst, die den Affen an der Goldküste einfangen, ihn dann auf ihrem Schiff in eine Kiste einsperren. Der Wunsch des Affen aus der Kiste herauszukommen ist groß. Ein dreiwandiger Gitterkäfig, recht unbequem sich tierisch oder menschlich darin bewegen zu können, an einer Kiste befestigt, die die vierte Käfigwand ausmacht. Die Gitterstäbe schneiden dem Tier ins Fleisch. Der Affe spürt die Unterdrückung, die Qual durch den Menschen. Aber Vorsicht, hier Rückschlüsse auf die Vater – Sohn Beziehung im Hause Kafka schließen zu wollen, halte ich für nicht statthaft, würde auch eine Kafkadeutung, die sich hauptsächlich auf den Vater-Sohn Komplex einengt, entschieden ablehnen. In weiterer Betrachtung der Geschichte ergibt sich außerdem, dass m. M. n. eine psychologische Deutung der Geschichte nichts bringen würde. Hier geht es einfach um das Verhältnis zwischen Mensch und Tier, und wie man dazu stehen solle, dass ein Affe in Varietéevorstellungen durch angelernte Verhaltensweisen vermenschlicht wird. Natürlich gibt es andere Interpretationen, die in den Darwinismus führen, und Max Brod verstand den Text „als Allegorie auf die Assimilation des Westjudentums“ (siehe hier). An dieser Stelle möchte ich aber den Text nackt betrachten, wie er vor mir liegt und daraus meine Schlüsse ziehen:

Von Hagenbecks Jägern wird der Affe in die Wange geschossen, die Wunde hinterlässt „eine große ausrasierte rote Narbe“. Damit ist er gebrandtmarkt und wird Rotpeter genannt. Die Narbe und der Name tragen unweigerlich eine Portion Spott und Hohn und drängen den Affen in eine Außenseiterrolle, aus der das Tier entkommen will, genauso wie das Tier aus dem Käfig gelangen will. Der Weg führt nur durch die Entwicklung zum Menschsein zum Ziel, d.h. durch Imitation gelingt es ihm, menschliche Verhaltensweisen zu kopieren, bis er letztlich auch ihre Sprache spricht.

Der Weg zum Menschen ist holprig und schwer, das zeigt die Gewohnheit des Affen, vor Besuchern seine Hose herunterzuziehen, um seine zweite Verwundung vorzuzeigen. Ein erwachsener Mensch würde das aus Scham nie machen, nur Kinder. Natürlich hat Kafka an dieser Stelle eine Portion Humor niedergelassen und seine Affennatur, wird der Affe, da er als Affe geboren ward, niemals vollständig aufgeben können. Zumindest ist davon auszugehen, weil Menschen äffische Verhaltensweisen zu Tage legen können. Ich meine die Zielsetzung unseres vermenschlichten Affen, in einem Varietétheater auftreten zu wollen, liegt niemals in der Natur des Affen, denn an der Goldküste oder an den Hängen des Kilimandscharo käme ein Gorilla niemals auf die Idee, Varietévorstellungen zu geben. Darum ist es sehr äffisch, dass sich unserer Affe zum Menschen machen will, und die Menschen, die unseren Affen menschliche Verhaltensweisen beibringen, benehmen sich wie Affen, weil sie den Affen um seine eigentliche Natur betrügen. Ein Fristen im Zoo ist für einen Affen genauso unwürdig wie ein Auftreten in einem Varieté.

Kafka macht den Affen zum Menschen, den Menschen zum Affen. Diese groteske Überspitzung macht mir die Erzählung sympathisch und beweist Kafkas Humor, katapultiert ihn aus dem drückenden Schatten seines Vaters. Der Mensch schaut in den Spiegel und sieht einen Affen. Das ist die Botschaft der Geschichte.

Also, werther ascolto, uich würde die Story als wahnwitzig groteske Inszenierung über die Bühne laufen lassen. Nach der Vorstellung gibt es ein paar Kafkaleser mehr.

Liebe Grüße
mArtinus




„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
zuletzt bearbeitet 30.12.2009 12:40 | nach oben springen

#4

RE: Franz Kafka

in Die schöne Welt der Bücher 30.12.2009 13:38
von LX.C • 2.821 Beiträge

Man kann den Text auch als Kulturkritik lesen. Oder als Kritik an die Überheblichkeit "privilegierter" Kulturen. Die Akademie is da doch genau der richtige Ansprechpartner Waren es doch erst wenige Vordenker, die zur damaligen Zeit fremde Kulturen als anders statt als minderwertig begriffen.


--------------
[i]Poka![/i]

nach oben springen

#5

RE: Franz Kafka

in Die schöne Welt der Bücher 02.03.2010 19:57
von Bea • 680 Beiträge

Also ich finde das hier wirklich interessant, da ich von Kafka nur zwei Bücher gelesen habe. ("Das Schloß" und "Die Verwandlung") Gerne gelesen!




Der Bezug des Menschen zu Orten und durch Orte zu Räumen beruht im Wohnen. Bauen/ Wohnen/ Denken - Heidegger Martin

nach oben springen

#6

RE: Franz Kafka

in Die schöne Welt der Bücher 03.03.2010 10:14
von Patmöser • 1.121 Beiträge

Zitat von Martinus
Diese groteske Überspitzung macht mir die Erzählung sympathisch und beweist Kafkas Humor, katapultiert ihn aus dem drückenden Schatten seines Vaters. Der Mensch schaut in den Spiegel und sieht einen Affen. Das ist die Botschaft der Geschichte.




Hallo Martinus,

ich habe, gerade mit Kafkas Humor, immer so meine (deutungsgeschwängerten) Schwierigkeiten. Ist es wirklich Humor, oder ist es nicht oft mehr die Verzweiflung eines Menschen, der versucht, in den Humor zu flüchten? Ich sehe in diesem Humor mehr den entmutigten Kafka, den am Rätsel - Welt und Mensch dann tief Verzweifelten. Das Schloss gibt wohl letzte Auskunft darüber, und vielleicht, vielleicht kann nur ein Jude so über das Rätsel Gott und Mensch schreiben. Ich weiß es, ehrlich gesagt, immer noch nicht. Aber wirklich lachen, das konnte ich bei Kafka noch nie.

Grüße,

Patmöser

nach oben springen

#7

RE: Franz Kafka

in Die schöne Welt der Bücher 03.03.2010 10:55
von marlenja • 303 Beiträge

Humor ist wenn man trotzdem lacht, heisst es im Sprichwort.
Trotzdem? Also wenn man lacht, wenn es eigentlich traurig ist?

Entweder kann man über etwas echt und von Herzen lachen oder man
kann es eben nicht; findet es überhaupt gar nicht lustig.

Mit was wohl der Humor zusammenhängt?
Warum einige Menschen Humor haben - guten und schönen und andere
schwarzen und hässlichen?

Das ist dann wieder eine der vielen, vielen Fragen...

nach oben springen

#8

RE: Franz Kafka

in Die schöne Welt der Bücher 03.03.2010 11:55
von ascolto • 1.289 Beiträge

Herzdank für die mir ergiebigen Beiträge die mich reich informierten über ein Stück dass ich inzeniere. Insbesondere die Postings über Humör und Trauer haben mich fein über den kaffkaesken Horizont befruchtet......

Danke Martinus, für deine Einsichten

Vielleicht endet dies über gewisse andere Denker wieder bei Freud?


Dann wird der Rotpeter wieder mal zum Oedipussy

zuletzt bearbeitet 03.03.2010 12:41 | nach oben springen

#9

RE: Franz Kafka

in Die schöne Welt der Bücher 03.03.2010 19:04
von Patmöser • 1.121 Beiträge

Zitat von ascolto



Dann wird der Rotpeter wieder mal zum Oedipussy



Hähä, nee, nee, eher zum Loki, oder zum wechselverjährten Mephisto, aber zum Ödipussi, da fehlt mir der dramatische Kochlöffel.

nach oben springen

#10

RE: Franz Kafka

in Die schöne Welt der Bücher 23.03.2010 11:57
von LX.C • 2.821 Beiträge

Ein Bericht für eine Akademie

Martinus bodenständiger Betrachtung ist im Grunde gar nicht zu widersprechen. Aber gerade an Kafkas Kurzprosa „Ein Bericht für eine Akademie“, die erstmals 1919 in dem Erzählband „Ein Landarzt“ erschien, zeigt sich mal wieder so deutlich was Literatur ausmacht – die verschiedenen Lesarten, die diese Geschichte zulässt.
Die thematisch mögliche Verbindung zum Judentum wurde schon angesprochen. Andere Interpretationen stützen sich eben doch auf das gestörte Vater und Sohn Verhältnis. Die These lautet hier in etwa, dass Kafka mit Blick auf das väterliche Verhalten sich außerstande sah, familiäre Verantwortung zu übernehmen und den Ausweg aus dieser Zwickmühle (Käfig) in der Verlegung auf die Kunst sah.
Darauf soll im Folgenden nicht weiter eingegangen werden. Sondern eine Lesart vorgestellt werden, die mir nahe erscheint, was mehr mit der eigenen Interessenlage zu tun haben mag und weniger mit der Kafkas. Aber auch das macht Literatur aus, die eigene Subjektivität, das was einen umtreibt, in künstlerischen Äußerungsformen wiederzufinden, was wiederum zur Organisation dessen beiträgt.

Als ich die in Briefform geschriebene Erzählung das erste Mal las, sagte sie mir gar nichts. Ich empfand sie sogar, man traut sich kaum es anzusprechen, als unsinnig. Das ist Jahre her. Dann sah ich eines Nachts, als ich gerade den Fernsehapparat ausschalten und zu Bett gehen wollte, wie sich auf dem flimmernden Bildschirm der Vorhang eines „Guckkastens“ öffnete. Ein Mann mit einer hässlichen Affenmaske saß an einem Schreibtisch. Eine Flasche Wein stand darauf. Seltsames Theaterstück, dachte ich, ein Tisch, eine Kiste im Vordergrund, ein Affe? Dann ließ ich mich wieder in den Sessel sinken und legte die Fernbedienung beiseite; der Bericht, Kafka, an eine Akademie, der musste es sein. Das Stück fesselte mich so sehr, dass ich die Zeit vergaß und dem Verlauf bis in die tiefe Nacht folgte. Ich kann nicht mehr sagen, was ich damals mit dem Stück assoziierte, dass es mich nach der ersten Ablehnung so in den Bann nahm, oder ob es einfach die Umsetzung war; der Alleinunterhalter verstand sein Handwerk ausgesprochen gut, daran kann ich mich erinnern. Vielleicht reifte aber auch schon eine der Ideen in mir, ich befand mich in einem anderen Lebensabschnitt, die ich noch immer mit dem Stück verbinde: Die Kritik am akademischen Bildungsweg, der Adressat wäre ja schon mal genau der richtige. Andere Ansätze würden sich finden lassen, Freiheit, Sozialisation, Evolution. Die Lesart, die ich jedoch etwas näher ausführen möchte, kam erst später hinzu: Kafkas mögliche Kritik am Eurozentrismus.

Auch wenn Kafka kein Ethnologe war, für seine Sensibilität ist er ja bekannt. Der eurozentristische Blick auf andere Kulturen war zu seiner Zeit gängig, wertneutrale Ansätze die Ausnahme.
„Der Unterschied zwischen den Gesellschaften, die Ethnologen traditionellerweise untersuchen - den traditionellen -, und denjenigen, die sie normalerweise bewohnen - die modernen -, wurden gewöhnlich mit dem Begriff der Primitivität gefasst“ (Geertz 1987, 261)
Anpassung oder Auslöschung, diesem Schicksal waren die Naturvölker ausgesetzt, wenn sie erstmal die Bekanntschaft mit dem vermeintlichen Kulturmenschen machen mussten, ob in Afrika, Südamerika oder sonst wo. Seien es nun rücksichtslose Entdecker, die durch abenteuerliche Mythen weitere Glückssucher, Missionare und so genannte Wissenschaftler anlockten, die Sitten und Epidemien einschleppten, denen die Eingeborenen nicht gewachsen waren. Seien es Kolonialisten, die im Namen ihres Staates und ihrer Religion rücksichtslos jegliche Eigenkultur zunichte machten, um Arbeitskraft und Lebensraum ausbeuten zu können. Später kam noch der Massentourismus hinzu, wie Lévi-Strass festhält, der sein Übriges tat. Analogien zu Kafkas Affenschicksal lassen sich seit der frühen Neuzeit finden:
„Während die Eingeborenen der Insel Hispaniola (heute Haiti und die Dominikanische Republik) – von denen es im Jahre 1492 ungefähr hunderttausend, hundert Jahre später nur noch etwa zweihundert gab -, an den Pocken und unter den Schlägen der Siedler, doch noch öfters am Entsetzen starben, das sie gegenüber der europäischen Kultur empfanden, besuchte eine spanische Kommission nach der anderen die Insel, um etwas über die Natur dieser fremdartigen Wesen in Erfahrung zu bringen. […] Man stritt sich sogar darüber, ob man Menschen, diabolischen Kreaturen oder Tiere vor sich hatte.“ (Lévi-Strauss 1974, 26)
Lévi-Strauss ist es zu verdanken, dass im Zuge der strukturalistischen Anthropologie, die er betrieb, der Kulturrelativismus endgültig als wissenschaftliches Paradigma anerkannt wurde. Das war in den 50er Jahren, lange nach Kafkas Prosastück.

Stellvertretend oder metaphorisch für den „Primitiven“ sitzt nun also das Tier, der Affe im Käfig. Seine Existenz ist entdeckt, er wird bedrängt von der eurozentristischen Zivilisation, die sich eine Welt ohne ihre modernistisch ausdifferenzierten Gebräuche und Errungenschaften gar nicht denken kann.
Die Frage nach Freiheit war den Lebens- und Äußerungsformen des Affen innewohnend und wurde als philosophische/soziologische nie gestellt. Auch in der ärgsten Bedrängnis stellt sie sich Kafkas Affen nicht. Ganz seiner Herkunft entsprechend fragt er nach Abklingen des ersten Schocks, der sich durch wilde Befreiungsversuche äußerte, pragmatisch wie ein Naturwissenschaftler nach Auswegen, die seine Situation verbessern könnten. Was bleibt ist die Erkenntnis der notwendigen Anpassung an die Zivilisation.
„Ich hatte keinen Ausweg, musste mir ihn aber verschaffen, denn ohne ihn konnte ich nicht leben. Immer an dieser Kistenwand - ich wäre unweigerlich verreckt. […] Nun, so hörte ich auf Affe zu sein.“ (Kafka 2003, 62)
Er nimmt die Flasche an, die ihm der vermeintliche Kulturmensch reicht, die schon so manchen Willen brach, auch den der Eingeborenen Amerikas. Da seine Verhaltensformen nicht ad hoc zivilisierten Vorstellungen entsprechen können, kriegt er auch schon mal eins übergebrannt. Doch der Lernprozess, die Anpassung an die neue Lebenswelt nimmt seinen Lauf.
Der Begriff der Kultivierung lässt sich hier nicht verwenden, denn Kafka macht dem bewusst einen Strich durch die Rechnung. Dem Leser wird die unangebrachte Überheblichkeit eurozentristischer Vorstellungen vorgeführt, indem der auf seine Art durchaus kultivierte Naturmensch, unser Affe, die rohen Verhaltensformen der Europäer wohlwollend, ohne dabei herablassend zu sein, kommentiert. Ob nun das Trinkgelage vor seinen Augen, das abschätzige Gelächter über das Fremde, oder das Ausspeien und gegenseitig ins Gesicht rotzen. Hinzukommt eine unflexible Trägheit, die er am ausdifferenzierten, spezialisierten Kulturmenschen feststellen muss.
Überlebenswille und Anpassungsfähigkeit helfen dem Affen letztlich aus dem Käfig heraus. Der endgültige Zugang zur Gesellschaft bleibt ihm dennoch verwehrt. Er bleibt der Andere unter Gleichgesinnten, eine Attraktion, gefangen in der Monotonie der modernen Gesellschaft.
Auf der anderen Seite lässt sich die alte „Affenwahrheit“ (ebd.) nicht mehr herstellen. Seine ursprünglichen Lebensformen fallen nach und nach dem Vergessen anheim. Der Aufforderung einen Bericht über sein „äffisches Vorleben“ (Kafka 2003, 58) abzuliefern kann er nicht mehr nachkommen.
Ein Symbol für das Verschwinden der Naturvölker. Die alte Welt gibt es nur noch in Abstufungen der mehr oder weniger vorangeschrittenen Zivilisation. Der Blick auf die halbdressierte Spielgefährtin gleicht dem Blick in den Spiegel, der nichts als die Demütigung der erzwungenen Selbstaufgabe zu verheißen hat. Der Naturmensch ist entwurzelt. Ein Schritt, der nie mehr rückgängig zu machen ist.

„Die Hände in den Hosentaschen, die Weinflasche auf dem Tisch, liege ich halb, halb sitze ich im Schaukelstuhl und schaue aus dem Fenster. Kommt Besuch, empfange ich ihn, wie es sich gebührt. Mein Impresario sitzt im Vorzimmer; läute ich, kommt er und hört, was ich zu sagen habe. Am Abend ist fast immer Vorstellung, und ich habe wohl kaum mehr zu steigernde Erfolge. Komme ich spät nachts von Banketten, aus wissenschaftlichen Gesellschaften, aus gemütlichen Beisammensein nach Hause, erwartet mich eine halbdressierte Schimpansin und ich lasse es mir nach Affenart bei ihr wohlgehen. Bei Tag will ich sie nicht sehen; sie hat nämlich den Irrsinn des verwirrten dressierten Tiers im Blick; das erkenne nur ich und ich kann es nicht ertragen.“ (Kafka 2003, 69-70)


(Kafka, Franz 2003: Ein Landarzt. Kleine Erzählungen, Insel, Frankfurt/M.
Geertz, Clifford 1987: Dichte Beschreibung, Suhrkamp, Frankfurt/M.
Lévi-Strauss, Claude 1974: Traurige Tropen, Kiepenhauer & Witsch, Köln.)


--------------
[i]Poka![/i]

zuletzt bearbeitet 23.03.2010 12:28 | nach oben springen

#11

RE: Franz Kafka

in Die schöne Welt der Bücher 23.03.2010 14:01
von ascolto • 1.289 Beiträge

Wertet LX.C,

ganz kurz vorweg, ein ganze tiefen Dankesgruß für deine Ein- bzw. Aussicht auf den Rotpeter.

Mir ist deine Lesart auch geläufig, und da ich den Autoren nicht befragen kann, glaube ich dass diese Prosa so gelesen einen wirklich intensiven Spiegel dienet.Der Etnoreflektion?

Ich untersuche dies Stück dennoch aus einer anderen Perspektive. Mich interressiert wann und wo in unseren "Rotpeterzustand" wir welche und wann die Kompromisse suchen und wie wir dann selbig zum dressierten Affen mutieren. Mehr hierzu wenn ich aus der Überfahrt in den Hafen gelotst und an der Pier vertäut!

Herzgruß vom ollen A

nach oben springen

#12

RE: Franz Kafka

in Die schöne Welt der Bücher 23.03.2010 14:19
von Bea • 680 Beiträge

Freudianische Interpretation ist interessant, aber ich vermute das da noch mehr verborgen ist. Werde wohl doch noch alles von Kafka lesen müssen. Seine Mehrdeutigkeit finde ich super interessant und macht mich neugierig.
Danke für die Anregungen, gerne gelesen. Vielleicht bedarf es einer Neuro - Psychoanalyse...?




Der Bezug des Menschen zu Orten und durch Orte zu Räumen beruht im Wohnen. Bauen/ Wohnen/ Denken - Heidegger Martin

nach oben springen

#13

RE: Franz Kafka

in Die schöne Welt der Bücher 18.07.2011 20:51
von Jatman1 • 1.188 Beiträge

Ich lese derzeit Kafkas Biographie von Ronald Hayman.
Die ist außergewöhnlich detailiert und ließt sich absolut spannend. Bisher hatte ich den Prozeß (begeistert) und die Verwandlung (mit lauter Fragezeichen im Gesicht) gelesen.
Dank der Biographie ist die Intention der Verwandlung bis jetzt zumindest näher an mich herangerückt. Und den Prozeß habe ich vermutlich als ein anderes Buch gelesen, als das was er meint, geschrieben zu haben ;-)

Kafka selber, ist ja noch fertiger als z.B. die Verwandlung erahnen lässt. Ein Paradox: der Typ von Beginn seines Lebens fertig und zwar völlig. So viel destruktiver Selbstzweifel ist für mich absolut unvorstellbar. Wäre es nicht Kafka, sondern ein naher Bekannter, würde ich meinen, der hätte eins an der Waffel. Muss mal so auf den Punkt gebracht werden. Sowas von innerlich zerfranst und zerfressen, dass mir selbst Mitleid schwerfällt.
Dostojewski ist ja dagegen ein singendes Vögelchen.

Also wirlich eine beeindruckende - nein abschreckende Gestalt. Schüttel Grrhh.

Bin derzeit auf der Hälfte. Ich bin neugierig auf den weiteren Verlauf . . .


www.dostojewski.eu
nach oben springen

#14

RE: Franz Kafka

in Die schöne Welt der Bücher 06.10.2011 21:29
von Jatman1 • 1.188 Beiträge

Habe es nicht bis zum Ende geschafft, zumindest nur noch quergelesen. Kafkas Biografie hätte auch gut ein dadaistisches Heftchen sein können. Auf jeder Seite lediglich ein Buchstabe von dem folgenden Wort: Selbstzerfleischwolfung Und aus die Maus - oder eben auch der Käfer.
Wozu Nuancen? Wozu!

Unbesehen davon bleibt der Pozess für mich ein faszinierendes Buch.


www.dostojewski.eu
nach oben springen

#15

RE: Franz Kafka

in Die schöne Welt der Bücher 06.10.2011 22:23
von Krümel • 499 Beiträge

Zitat von Jatman1
Selbstzerfleischwolfung Und aus die Maus - oder eben auch der Käfer.


Ich reihe mich dann ein, in eure Fraktion - ich kann mit Kafka nur wenig anfangen. Diese Selbstzerfleischung liest man aus seinen Werken - ich hab an anderer Stelle mal das Wort jammern gebraucht und wurde

nach oben springen


Besucher
0 Mitglieder und 84 Gäste sind Online

Forum Statistiken
Das Forum hat 1121 Themen und 24657 Beiträge.

Xobor Einfach ein eigenes Forum erstellen | ©Xobor.de
Datenschutz