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Hirngespinste

Austausch zwischen Literatur und Kunst

#1

Tomas Tranströmer - Lyrik (Zitate) und offenbarte Eindrücke

in Zitate 13.10.2011 12:17
von Martinus • 3.195 Beiträge

Meiner Ansicht nach lohnt es sich, für Tomas Tranströmer einen eigenen Zitate-Thread aufzumachen. Hier stelle/n wir/ich seine Gedichte hinein, und offenbaren unsere Eindrücke.


Tomas Tranströmer

Skizze im Oktober

Der Schleppdampfer ist sommersprossig vor Rost. Was tut er hier,
so tief im Lande drinnen?
Er ist eine schwere erloschene Lampe in der Kälte.
Aber die Bäume haben wilde Farben. Signale zum anderen Ufer!
Als wollte welchen geholt werden.

Auf dem Wege nach Hause sehe ich die Tintenpilze durch die
Grasnarbe schießen.
Sie sind die hilfesuchenden Finger von einem,
der lange vor sich hingeschluchzt hat im Dunkeln dort unten.
Wir gehören der Erde.


Aus „Der Mond und die Eiszeit“, serie piper 1379, Mai 1992

Ein Gedicht um den Tod. Das Bild eines von Rost zernagten Schleppdampfers. „so tief im Lande drinnen?“ bedeutet vielleicht, der Dampfer ist vom Meer aus in einen Fluss gefahren. Der Dampfer schon kaputt, nicht mehr zu gebrauchen wie „eine erloschene Flamme in der Kälte.“ Anstatt von Menschen zu erzählen, schafft Tranströmer beeindruckende Bilder. Symbolik die ihre Sprache trifft. Die Herbstblätter künden den Tod an, so intensiv, als könne man gar nicht warten, vom Tod geholt zu werden.
In der zweiten Strophe fällt schon der Blick zum Boden, auf Tintenpilze, die wie „hilfesuchende Finger“ „durch die Grasnarbe schießen“. In dieser Strophe wird eindeutig auf den Menschen verwiesen, der nach dem Ableben, der Erde gehört. Wir werden eins mit der Erde.

Mich hat die Bildhaftigkeit dieses Gedichtes und die Klarheit der Botschaft so sehr beeindruckt, dass ich es gerne zu Beginn dieses Threads eingestellt habe.

Liebe Grüße
mArtinus




„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
zuletzt bearbeitet 14.10.2011 09:40 | nach oben springen

#2

RE: Tomas Tranströmer - Lyrik (Zitate) und offenbarte Eindrücke

in Zitate 14.10.2011 09:29
von Martinus • 3.195 Beiträge

Im März '79

Überdrüssig aller, die mit Wörtern, Wörtern, aber keiner Sprache daherkommen,
fuhr ich zu der schneebedeckten Insel.
Das Wilde hat keine Wörter.
Die ungeschriebenen Seiten breiten sich nach allen Richtungen aus!
Ich stoße auf Spuren von Rehaufen im Schnee.
Sprache, aber keine Wörter.



Aus „Der Mond und die Eiszeit“, serie piper 1379, Mai 1992

Über die Schwierigkeit des Schreibens. Sprache und Wörter können das Reale, wie es ist, nicht hundertprozentig genau ausdrücken. Als Metapher für das Unbeschreibbare wählt Tranströmer eine ein natürlicher Wildnis harrende Insel. Diese wilde Natur kann 1 zu1 nicht in Sprache umgesetzt werden, darum auch der Autor sagt, die Insel sei von schneebedeckt. So breiten sich bei dem, der etwas beschreiben will, unbeschriebene Seiten aus. Die Sprache ist da, Rehhufen im Schnee sagen, hier ist ein Reh entlanggelaufen, aber die Wörter findet der Schreiber nicht. Er befindet sich im Teufelskreis, einmal der Wörter überdrüssig, die Sprache ist da, es fehlen aber die Wörter. Schreibhemmung.

mArtinus




„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
zuletzt bearbeitet 14.10.2011 09:37 | nach oben springen

#3

RE: Tomas Tranströmer - Lyrik (Zitate) und offenbarte Eindrücke

in Zitate 14.10.2011 16:53
von Roquairol • 1.072 Beiträge

Zitat von Martinus

Die Sprache ist da, Rehhufen im Schnee sagen, hier ist ein Reh entlanggelaufen, aber die Wörter findet der Schreiber nicht. Er befindet sich im Teufelskreis, einmal der Wörter überdrüssig, die Sprache ist da, es fehlen aber die Wörter. Schreibhemmung.

mArtinus



Hallo Martinus,
ich interpretiere das anders - Überdruss, aber keine Schreibhemmung. Die Rehspuren im Schnee sind eine Sprache, aber eben eine andere, ursprünglichere als unsere. Dennoch verstehen z.B. Jäger diese Sprache zu "lesen" (deshalb nennt man das ja so, Spurenlesen).

LG,
Roq




Homepage: http://www.noctivagus.net/mendler
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#4

RE: Tomas Tranströmer - Lyrik (Zitate) und offenbarte Eindrücke

in Zitate 16.10.2011 19:10
von Taxine • Admin | 6.678 Beiträge

All die, die nur leere Worte machen, die beschreiben, ohne etwas zu sagen, die abstrakt und abstrakter werden, ohne Gefühl, die reden, statt sich mitzuteilen... Für sie deutet Tranströmer auf die Natur und empfiehlt: Blickt und lauscht. Mehr bedarf es nicht.
Was sich bereits in Form pressen lässt, ist künstlich.
(So meine Interpretation. )




Art & Vibration
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#5

RE: Tomas Tranströmer - Lyrik (Zitate) und offenbarte Eindrücke

in Zitate 23.10.2011 11:12
von Martinus • 3.195 Beiträge

Atempause Juli

Wer rücklings unter den hohen Bäumen liegt,
ist auch da oben. Er strömt in Tauende von Zweigen aus,
schaukelt hin und her,
sitzt in einem Schleudersitz, der in Zeitlupentempo wegfliegt.

Wer unten an den Bootsstegen steht, blinzelt den Wassern zu.
Die Bootsstege altern schneller als Menschen.
Sie haben silbergraues Holz und Steine im Magen.
Das blendende Licht schlägt tief hinein.

Wer den ganzen Tag in offenem Boot
über die glitzernden Buchten fährt,
wird schließlich in einer blauen Lampe einschlummern,
während die Inseln über das Glas kriechen wie große Nachtfalter.


Ein jeder kennt das Gedicht „Ein Gleiches“: „Über allen Gipfeln / Ist Ruh.“ In diesem Gedicht geht der Spannungsbogen vom Himmel bis unter die Erde: „Warte nur, balde / Ruhest du auch“. In dem Gedicht „Atempause Juli“ von Tomas Tranströmer liegt jemand unter hohen Bäumen und schaut in die hohen Zweige. Er fühlt, er sitze „ in einem Schleudersitz, der in Zeitlupentempo wegfliegt.“ das könnte die Freiheit des Menschen symbolisieren. In der zweiten Strophe ist das Gedicht inhaltlich zur Erde geschwenkt, auf einem Bootssteg, der schneller altert als der Mensch. Und dann, man merkt vielleicht, dass Tranströmer Schwede ist, immer wieder Wasser, das Meer, die Kälte, in der dritten Strophe also die Vorstellung, wenn jemand mit einem Boot „über die glitzernden Buchten fährt“, dann wird derjenige „in einer blauen Lampe einschlummern“, und, im letzten Vers so eine typische bildhafte Fantasie Tranströmers: “..während die Inseln über das Glas kriechen wie große Nachtfalter.“ Geniales Bild. Wie sollen wir das aber entschlüsseln? Es geht hier wohl auch um den Tod. Die blaue Lampe könnte der kalte Tod sein, das Meer der Sarg unter den Schwingen des Nachtfalters. Alles muss man nicht verstehen, dass Entscheidende ist, Tranströmers Bilder bringen unsere Fantasie in Bewegung. In einem anderen Gedicht begegnen wir auch den Blick von ganz unten bis in die Weiten des Kosmos: „Wir blicken nach oben: der Sternenhimmel durch das Abflussgitter.“

mArtinus




„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
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