HirngespinsteAustausch zwischen Literatur und Kunst |
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Das Wunder von St. Petersburg
„Diese Geschichte ereignet sich in einem Land, in dem die Trauer von erhabener Schönheit ist und das Glück nie ungetrübt ins Leben tritt“ (142), die Geschichte von Anna und Alja. Das flachsblonde Mädchen Alja, geboren 1997, ist „Das Wunder von St. Petersburg“ (2004). Sie ist überdurchschnittlich begabt und intelligent. Sie kann seit dem dritten Lebensjahr lesen und schreiben und malt seit frühster Kindheit in der Kunstklasse der Eremitage. Malen ist ihre größte Leidenschaft. Ihre Lieblingsdichter sind Gumilev und Achmatova, die sie auswendig rezitiert. Mit nur 6 Jahren will sie sich Homers Ilias ausleihen. Dagegen erhebt die Bibliothekarin aus dem Antikov-Palast, die Aljas Leseleidenschaft stets unterstützt, schließlich doch Einspruch.
„Finden Sie nicht, daß sie es zu weit mit dem Ehrgeiz ihrer Tochter treiben? Normalerweise fangen Kinder im Alter ihrer Tochter gerade mal an, Buchstaben zu Worten zusammenzusetzen. Was also hat eine Sechsjährige im Trojanischen Krieg verloren?“ (254)
Alja ist sehr krank. Sie war ein Schreikind das nie schlief, wurde nach Verdacht von den Ärzten mit Medikamenten voll gepumpt und leidet seither an Zöliakie, einer Lebensmittelunverträglichkeit. Sie darf kein Brot, kein Haferbrei, kein Getreide überhaupt essen, was in Russland des beginnenden 21. Jahrhunderts, in dem die Versorgungslage für eine Alleinerziehende katastrophal ist, die größten Schwierigkeiten mit sich bringt. Hinzu kommen psychische Probleme, wie Angststörungen, die aufgrund eines Wahnsinnigen, der mit in der Kommunalka haust und Mutter und Kind permanent erschreckt und bedroht, durchaus begründet sind.
„‚Komm raus, Anna, damit ich dich ficken kann!’ […] Wenn Serjoscha vor der Tür steht, dann kann das lange dauern. Letztes Jahr hielt er fünf Stunden vor der Wohnung Wache. ‚Jesus ist gestorben!’ schrie er und prophezeite jedem, der das Haus verlassen wollte, den sicheren Abgang in die Hölle.“ (14)
Was ist also ein Wunder Wert, in einem Land, in dem eine Akademikerin putzen gehen muss, um ihr Kind zu versorgen und kaum Geld für eine gute Förderung und medizinische Versorgung aufbringen kann? Was ist unter rauen Verhältnissen, in denen Gemeinheit und Niedertracht herrschen Kunst und Literatur wert? Ebensoviel wie Brot: Sie sind Surrogat, ja mehr noch, sie sind Überlebensmittel, Streicheleinheiten für die Seele, Courage und Hoffnung.
Obwohl Alja so intelligent ist, oder gerade deswegen, raten Psychologen davon ab, sie in die Schule zu schicken, da sie dort von den Erziehern kaputt gemacht werden würde. Stalinistische Muster lassen sich nach Jahrzehnten der totalitären Erziehung nicht so einfach aus den Köpfen der Menschen entfernen. Noch weniger, als die Anfangseuphorie der Perestroika verflogen und ihr Scheitern gewahr geworden ist. Als Anna in einem weiteren Versuch ihre Tochter zumindest in einen Kindergarten unterbringen will, da man anmahnt, dass Alja für ihre Entwicklung dringend die Gesellschaft von Kindern benötigen würde, muss sie sich von den Erziehern Dinge anhören wie: „Sie ist eine Mimose. Nicht lebensfähig. Sie haben sich eine Glashauspflanze großgezogen.“ (257) Versorgt wird Alja angesichts ihrer Lebensmittelunverträglichkeit nicht; zu aufwendig. Man lässt sie links liegen und die Mutter findet ihre Tochter verstört und halbohnmächtig vor Hunger in der Kinderbetreuungsstätte vor. In einem anderen Fall muss das Kind während des Mittagsschlafs die Hände unter dem Kopf halten und in dieser Stellung verharren. Das erinnert Anna schmerzhaft an ihre eigene Vergangenheit, sie zieht die Notbremse. Denn in genau dieser Stellung musste auch sie verharren. Und tat sie es nicht, dann erstickte die Wospitalka im Provinzheim Olenegorsk die kleine Anna fast unter der eigenen Matratze, indem sie das Kind in das „Panzerkettennetz des Bettes“ quetschte und sich „mit ihrem ganzen Gewicht auf die Matratze hockte“ (41) oder ließ Anna stundenlang nackt in der nassen Kloschüssel stehen.
Damit geraten wir in die zweite, analeptische Ebene der Erzählung, die Erinnerungen Annas an ihre Kindheit und Jugend in Kinderheimen des kommunistischen Russlands der 70er und 80er Jahre.
Aus Anna ist eine starke Persönlichkeit geworden. Sie hat gelernt sich mit Argumenten statt mit Mat-Wörtern und Schlägen durchzusetzen. Neben ihrer hochklassigen musikalischen Ausbildung hat sie Geschichte und Sozialpädagogik sowie Design studiert. Sie kann fließend Deutsch. Und das ist nicht selbstverständlich; allein aus ihrer Altersklasse haben sich sechs ihrer Freunde das Leben genommen, viele sind in die Kriminalität abgerutscht oder in der Psychiatrie gelandet. Gewalt der Erzieher den Kindern gegenüber war an der Tagesordnung. Körperlich wie verbal:
„Mit einem Posaunenstoß eröffnete der oberste Pionierleiter die Beschimpfungszeremonie: ‚Huren, Krimminelle! Eine Schande für das ganze Land!... Huren, Kriminelle! Eine Schande für das ganze Land!...’ Mehr als tausend Kinder fallen ein in diesen Chor. Sie werden dazu angehalten, mit dem Zeigefinger auf die sieben ‚Straftäter’ zu deuten“ (90),
weil Anna und ihre Freunde das Abenteuer abseits des Pionierlagers suchten und einen nächtlichen Streifzug durch die Wälder machten. Auch Missbrauch durch Erzieher oder deren Angehörige kam vor, wie Anna im Nachhinein erfährt. Als die Perestroika alte Erziehungsmethoden auf den Kopf stellt und neue Betreuer, Blumenkinder genannt, zu einer liberaleren Ordnung übergehen, schlagen sich die Kinder schließlich gegenseitig die Köpfe ein. Einen verantwortungsvollen Umgang mit der Freiheit haben sie nicht gelernt.
Das Petersburger Musikkinderheim verspricht zunächst Hoffnung. Dort wird Anna mit Hilfe ihrer Förderin Valentina aus dem Kinderheim Olenegorsk aufgenommen. Valentina legt in Anna den Grundstein, nur mithilfe einer guten Ausbildung einen Weg aus dem Stigma und dem Abstiegsdilemma eines russischen Heimkindes finden zu können. Viele Absolventen aus der Musikerschmiede für Waisen hatten es schon in den Orchestergraben des gegenüberliegenden Mariinskij-Theaters geschafft. Doch das Musikkinderheim wird schließlich selbst zur grandiosen Abstiegsgeschichte.
Aus einem schönen Gebäude im Kulturzentrum der Stadt werden die Kinder in eine verlassene und runtergekommene Berufsschule in einem Stadtviertel an der Peripherie abgeschoben und landen weitere Monate später in dem Dorf Dubrowka, zwei Stunden von Petersburg entfernt, bis es während der Perestroika ganz geschlossen wird. Mit der Ausquartierung nahmen auch die guten Lehrer Abschied von dem Musikkinderheim - die schlechten und brutalen, die nichts anderes gefunden hätten, blieben. Ebenso begann an der Peripherie der Stadt die kriminelle Laufbahn vieler Kameraden Annas, da sich mit der Ausquartierung auch die Versorgungslage dramatisch verschlechtert hatte und der Alltag nun von Hunger geprägt war.
Damit nicht genug wurden die Kinder noch um die Möglichkeit beraubt, ihr Abitur im Kinderheim machen zu dürfen, womit auch letzte Hoffnungen einmal eine Hochschulausbildung erlangen zu können vernichtet waren.
In Dubrowka lernt man sich selbst versorgen, durch Pilze sammeln und Bauern bestehlen. Mit der Zeit kommen neue, junge, unverbrauchte Lehrkräfte hinzu, die in Anna wieder Hoffnung und Motivation wecken. Die Lehrerin für Flöte Olga, in die sich Anna sogar verliebt, oder Marina, die Anna das Fotografieren und Entwickeln beibringt.
Als ihre Wegbegleiter, zu deren Lieblingsbeschäftigungen inzwischen Diebstahl, Alkohol und Dorfdisko zählen, in die Geflügelfabrik abwandern oder ihre Ausbildung auf dem Bau beginnen müssen, sträubt sich Anna beharrlich, das Kinderheim zu verlassen. Sie findet unter Entbehrungen Mittel und Wege, im Heim ihre musikalische Ausbildung vorantreiben zu dürfen und quartiert sich nach Schließung des Domizils in Dobrowka mit Tricks in ein neu eröffnetes Kinderheim in St. Petersburg ein. Auch hier zeigt sich, guter Wille der Perestroika-Generation reicht nicht aus: „Assoziale Kinder werden in einem schönen Ambiente nicht zwingend normal“ (216), muss die neue Heimleiterin Irina eingestehen, die Anna später zur Freundin wird. Und Anna hält in ihren Aufzeichnungen fest:
„Die Mischung der Kinder in unserem Heim war der Wahnsinn: einundfünfzig ausgewählte Musikkinder und hundertfünfzig ausgesonderte Kriminelle. Hier prallte der Abschaum aller Leningrader Heime mit der Sahne zusammen. […] In den ersten Tagen schauen sie sich ihr neues Zuhause an, und keiner kann glauben, daß man plötzlich alles hat. Am vierten Tag beginnen ‚die Wilden’ bereits, das Mobiliar zu zerlegen. Man hat ihnen die Freiheit gegeben, aber nicht die Bedienungsanleitung dazu.“ (210-211)
Letztlich muss sie doch das Heim verlassen und landet in einer Kommunalka, in der es von menschlichen und tierischen Ratten nur so wimmelt. Doch Anna hat eine starke Persönlichkeit entwickelt. Sie lässt sich nicht unterkriegen. Sie nimmt zwei Freundinnen in ihr circa 15 Quadratmeter großes Zimmer mit auf, bewirbt sich an der Hochschule für Design und lernt Sascha kennen, den Vater ihres Kindes.
Das Thema Schwiegermütter scheint in Russland ein ganz eigenes zu sein. Das Stigma Heimkind haftet Anna an wie die Pest. Die Schwiegermutter wird zum Keil zwischen den Liebenden. Sie schreckt auch vor Gewalt gegen das ungeborene Kind nicht zurück und treibt ihren Einfluss so weit, dass Sascha die schwangere Anna mit den Worten verlässt: „Ich kann meine Dissertation nicht auf dem Fensterbrett einer Putzfrau schreiben“ (286) und als inzwischen gut situierter Hochschulprofessor sein Kind Alja verleugnet.
Eine dritte Ebene kommt hinzu. Die Phantasiewelt Aljas, die mit ihren kleinen Geschichten aus Finx Lux noch mal eine ganz andere Welt der harten Realität des Alltags gegenüberstellt. Finx Lux ist ein Ort der Flucht und Ersatz für die fehlenden Spielkameraden, vor allem aber auch Inspiration für die Bilder, die Alja malt. In ihr leben ausschließlich Katzen, allen voran Finx Luxiewitsch, Aljas Alter Ego. Es gibt nichts Böses, es herrscht Harmonie und es gibt für alles eine pragmatische Lösung. Selbst für den Tod:
„Man lebt hundert Jahre, legt sich dann in den Sarg und denkt über seine Fehler nach. Einer braucht dazu eine Stunde, der andere denkt einen ganzen Tag. Dann schläft man ein und wacht auf dem Geburtsbaum auf. Das Leben fängt wieder an, und man wiederholt die Fehler des alten Lebens nicht.“ (279)
Aljas Geschichten und Bilder sind den gegenwärtigen Betrachtungen stets vorangestellt. Den Rückblicken stets Aufzeichnungen Annas. Beide begleiten wir auf der gegenwärtigen Ebene der Erzählung über einen Zeitraum von einem Jahr. Die analeptische Ebene erstreckt sich über die frühste Kindheit und Jugend sowie das Erwachsenwerden Annas, bis die Fäden von Vergangenheit und Gegenwart zusammenlaufen.
Doch damit noch nicht genug. Neben den gezeichneten gesellschaftlichen Verhältnissen des kommunistischen und kapitalistischen Russlands abseits der Bonzen und „Dollar-Russen“, erschließt sich mit Annas Hilfe die Urbanität und die Geschichte der Stadt Sankt Petersburg. Historisch wie kulturell bringt sie ihrem wissbegierigen Kind die Persönlichkeiten, die Schönheiten und Wunder, aber auch die Grausamkeiten dieser Stadt nahe. Die Erzählinstanz selbst wird nicht müde, durch Annas Augen die Schönheiten der Stadt zu reflektieren.
„Das Wunder von St. Petersburg“ ist ein Gegenwartsroman, der begeistert. Der bis zur letzten Seite, ohne zu schwächeln, spannende und emotionale Stunden schenkt und den Leser nicht leer, sondern bereichert aus der Lektüre entlässt. Ein Roman, der eine unglaublich harte Welt nicht aus Eigennutz zeichnet, sondern aufzeigt, wie durch „Herzensbildung“ auch das harte Leben couragiert gemeistert werden kann. „Es gibt in jedem Leben etwas Zauberhaftes, selbst wenn es noch so grau und trostlos ist.“ (296)
(Zitate: Blumencron, Maria: Das Wunder von St. Petersburg, Piper Verlag, München 2004, 2. Auflage 2010.)
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