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Hirngespinste

Austausch zwischen Literatur und Kunst

#1

Jean Paul

in Die schöne Welt der Bücher 12.03.2012 15:18
von Taxine • Admin | 6.678 Beiträge

Zu Jean Pauls Werk "Siebenkäs"



Ich sehe zwar jetzo das geliebte Paar am Altarsgeländer knien und könnte dasselbe wieder mit meinen Wünschen, wie mit Blumen, bewerfen, besonders mit dem Wunsche, dass beide den Eheleuten im Himmel ähnlich werden, die allemal, nach Swedenborgs Vision, in
einen Engel verschmelzen – wiewohl sie auf der Erde oft in der Hitze auch zu einem Engel, und zwar zu einem gefallnen, einkochen, woran das Weibes Haupt, der Mann, den stößigen Kopf des Bösen vorstellt…


Hermann Hesse sagt in seinem Nachwort über das Werk „Siebenkäs“:

Zitat von Hesse
„Eine Menge andrer Bücher werden durch dies Buch entbehrlich, wenn wir es uns zu eigen machen.“



Es ist eigenartig, welche Gefühle „Siebenkäs“ hervorruft. Sollte ich es zusammenfassen, würde ich sagen, es ist ein humoriges, dann bitteres, dann tief trauriges Buch. Es ist ein Buch voller Emotion und Sentimentalität, voller Tränensturzbäche und zerspaltener Herzen. Es ist ein Buch über das Kleinbürgertum, über Berechnung und Geistesoberflächlichkeit, über die Liebe, die jederzeit scheitern kann, auch eine Ode an die Freundschaft, die sich durch den Charakter des Humors erhält, wie auch die Figuren Siebenkäs und Leibgeber den Humor als Ausflucht nutzen, um am Leben nicht zu verzweifeln, wenn auch der Kern ihres Gelächters dennoch bitter ist.

Je mehr man liest, anfangs noch in ausgelassenem Gelächter über die herrlichen Szenen und Nebenbemerkungen über Weib, Ehe und Gesang ausbricht, desto kälter wird einem und der philosophische Trost, den Jean Paul einfließen lässt, kann kaum helfen. Die erkaltenden Gefühle zwischen Mann und Frau, ihre Missverständnisse und all die Sinnlosigkeiten, mit denen sie zu kämpfen haben, umgeben von Armut und Verschuldung, gehen dem Leser tief ans Herz. Dieser gemeinsame Alltag ist schrecklich, das Unbehagen, das sich zwischen ihnen auftut und sich wie Ruß die Wände hochfrisst, die völlig unterschiedlichen Interessen und Erwartungen, durch die die Kluft zwischen ihnen immer größer wird, das Leid des Nicht-Verstehen-Wollens, gehen einem regelrecht an die Nieren.
Da ist die naive und gutgläubige Lenette, die allerdings ihre Erwartungen an Mann und Haushalt stellt. Ausgerechnet diese treue Seele gerät an einen Siebenkäs, der sich eher mit geistiger Arbeit beschäftigt und an seiner Armut gar nicht verzweifeln würde, hätte er nicht Verantwortung für diese Frau übernommen. Schnell werden die Abgründe zwischen ihren Vorstellungen und Ansichten, zwischen den Erwartungen und Gefühlen sichtbar. Wären dabei die äußerlichen Bedingungen nicht so schwierig, wäre ihre Liebe vielleicht sogar nicht einmal gescheitert. So aber, unter der Not und den Kämpfen, die sie miteinander ausfechten, muss die Ehe zerbrechen. Sie verliert ihre Liebe und Siebenkäs seinen Humor, damit das Einzige, was ihm als Trostmittel geblieben ist.

Es ist in diesen Missverständnissen weniger das Mitleid für den armen Siebenkäs (denn diese Figur ist nun einmal auch nicht ohne), der mit einer kleinbürgerlichen, aber mehr noch humorlosen Frau geplagt ist, welche wiederum seine Interessen nicht teilt, was den Leser bewegt und traurig stimmt (zumindest bei mir), als die Situation an sich, auch die Vorurteile, die vielen Schubladen, die sich über Ansichten über Weib, Mann und Ehe öffnen und verschließen, die zwischen Ernst und Satire hin und her schwanken, es ist die Stimmung selbst, die von Kälte und Trostlosigkeit durchweht die Menschen einander nicht näher bringt und klamm aus dem Buch widerstrahlt.
Es ist vielleicht Jean Pauls Art und Weise zu sagen, wie schnell die Menschen ihre verknöcherten Herzen zum völligen Stillstand bringen, wenn sie auf Dinge Wert legen, die keinen Wert haben, sich an Umständen erfreuen, die kaum der Rede wert sind, die Liebe nicht als das empfinden, was sie sein soll. Die Verzweiflung, wenn die Bedingungen nicht mehr mit der Erwartung übereinstimmen, muss dann notgedrungen ausbrechen, gerade wenn beide Menschen nicht zusammenhalten und gegen die Schicksalsschläge gemeinsam ausharren, sondern sich in Vorwürfen und Kümmernissen gegenüber treten.

Was daraus wird, wenn die Bedingungen an äußerlichen festgemacht werden, wenn das Herz nicht im Lebensrhythmus und schon gar nicht vor Liebe schlägt, zeigt sich sehr deutlich an der Geschichte über Firmian Stanislaus Siebenkäs (… was ein Name…) und seiner Frau Lenette, die immer mehr zu Simenons Protagonisten in „Die Katze“ werden, zunächst einander ihre Ärgernisse an den Kopf werfen, dann einander anschweigen und schließlich nur noch über Zettel miteinander verkehren.

Natürlich ist das Buch auch in anderer Hinsicht kritisch. Nicht nur die Beziehung zwischen Mann und Frau, auch das Verhalten dem Nächsten gegenüber, das Kleinbürgerliche und Alltägliche, die Welt der Reichen und Armen, die Aufgabe der Gerichte, des Glaubens und der Kirche werden unter die Lupe genommen.

Zitat von Jean Paul
„Ein Mensch, der das erstemal predigt, rührt gewiss niemand so sehr als sich selber und wird sein eigner Proselyt; aber wenn er die Moral zum millionstenmal vorpredigt, so muss es ihm ergehen wie den egerischen Bauern, die den egerischen Brunnen alle Tage trinken und die er daher nicht mehr purgiert, so viele sedes er auch Kurgästen macht.“



Bei der Vorrede, in der Jean Paul davon berichtet, mit welcher Leserschaft er sich herumschlagen muss, mit dem Hintergedanken, den oberflächlichen Geist zum Ruhen zu bringen (ironisch festgehalten, dass die anspruchsvolle Lektüre für manche Menschen das beste Schlafmittel ist), um dann dem wachen Geist, in diesem Fall der Tochter des Hausherrn, in Ruhe vorlesen zu können (die Frauen sollen Jean Paul ja besonders verehrt haben), dachte ich noch, dass dieses Buch doch schwierig zu lesen sein wird. Die Sprache ist wunderschön und manchmal sehr sentimental in den Beschreibungen und Vergleichen, etliche Wörter kommen vor, die man heute nicht mehr im normalen Sprachgebrauch nutzt, doch wenn Jean Paul aus dem eigenen Leben berichtet, dann langweile ich mich etwas in seiner etwas überheblichen Eitelkeit als tadelnder Schriftsteller. Dessen ungeachtet aber ist "Siebenkäs" ein wunderschönes Werk. Als es mit der bevorstehenden Hochzeit von Siebenkäs beginnt, da glättete sich meine Stirn sofort und ich ließ mich mitreißen, lachte herzlich, denn in diesem Buch ist neben der Sprache auch der Humor ausgiebig vorhanden, so in Betrachtung der Ehe, des Neides all der Frauen, die noch nicht unter der Haube sind, wie auch in der wunderbaren Erzählung zwischen Freund und Freund, denn Siebenkäs heißt eigentlich Leibgeber und Leibgeber, sein Freund und Weltenbummler, ist Siebenkäs. Die Freunde sind aber so gut miteinander bekannt, dass sie die Namen wechseln, sowohl der Freundschaft wegen, als auch der Verantwortung für den anderen, falls einer der beiden in Schwierigkeit gerät und der andere mit dessen Namen einsteht und für ihn die Schuld auf sich nimmt. Das ist der eigentliche Grund des Namenwechsels, das Geradestehen für den Freund in der Not und wird Siebenkäs bald in Schwierigkeiten bringen, denn sein Erbe wird ihm nicht ausgezahlt, da er den Namen gewechselt hat und der Vormund darin seinen Vorteil sieht, um Siebenkäs um seinen Anteil zu betrügen. Beide Freunde – Siebenkäs und Leibgeber - sind sich ähnlich, äußerlich wie gerade auch innerlich, nur Leibgeber humpelt und scheint auch etwas freier zu sein als Siebenkäs, der sich in das Joch der Ehe begibt und sesshaft wird. (Leibgeber zieht es am Ende des Buches als Unbekannter hinaus in die Welt: „Auch tut’s mir wohl, mich so unbekannt, abgerissen, ungefesselt, als ein Naturspiel, als ein diabolus ex machina, als ein blutfremdes Mond-Lithopädium unter die Menschen und auf die Erde zu stürzen vom Mond herunter.“ Siebenkäs dagegen sucht erneut die Liebe, diesmal als Rettung, nicht als Untergang und Verzweiflung.) Leibgeber ist das zynische Ebenbild von Siebenkäs, der vielleicht nicht zynisch, sondern noch im Stadium der reinen Ironie schaltet und waltet. Sie ergänzen einander und ihre Freundschaft ist sowohl in der Wiederbegegnung als auch in der Trennung gefühlstrunken und schmerzhaft.

Siebenkäs ist ein Armenadvokat, der allerdings seinen Beruf kaum ausübt, nur einmal wird erwähnt, dass er eine Kindsmörderin vertritt. Doch wie er das tut und mit welchen Mitteln, das bleibt ungenannt. Stattdessen verwandelt sich Siebenkäs bald in einen Schriftsteller, Poeten, Philosophen oder Rezensenten, der pro Zeile bezahlt wird und seinem Geld hinterher rennt. Er soll wohl das Genie darstellen, das den Alltag nicht als alltäglich anerkennen will, sondern in anderen Sphären schwebt, für die er von seiner Ehefrau nicht einmal Anerkennung, aber doch Verständnis erwartet, das sie ihm nicht geben kann. Sie möchte einfach gut leben, Geld im Haus haben und zufrieden ihren Haushalt führen, er möchte sich bilden, philosophieren, ihr verständlich machen, welche Bedingungen er an das Leben stellt. Zwischen ihnen entsteht keinerlei Kommunikation.

Man erfährt dabei auch viel über die damaligen Gesetze und Verjährungen dieser eigenartigen urdeutschen Beamtenwelt, in der Wechsel mit sich auflösender Tinte benutzt werden, Hochzeiten geplant, Leibrenten festgelegt werden, Beleidigungen nach einem Jahr verjähren und darum ruhig ausgesprochen werden dürfen, oder ein Vormund Waisenkinder ausnimmt.

Dass Jean Paul in diesem Buch insbesondere über die Ehe schreibt, die in all ihren Nuancen, aber doch mehr in ihren Kümmernissen und gegenseitigen Missverständnissen betrachtet wird, wird schnell offenkundig. Der mit seiner Frau belastete Siebenkäs ruft einerseits Gelächter hervor, kann aber auch tierisch auf die Nerven fallen, um dann sein pedantisches Verhalten im Tränenschleier der Frau gespiegelt zu finden. Wieso aus Siebenkäs auf einmal von einem Armenadvokat ein Schriftsteller wird, der es vorziehen würde, wenn seine Frau ihm wie Plinius Gattin das Licht halte (hier ist Jean Pauls ironischer Blick auf die holde Weiblichkeit und Erwartung der Männer herrlich – kein Wunder, dass Siebenkäs nebenbei auch noch „Des Teufels Papiere“ verfasst, in denen er sich ausgiebig über das Weib auslässt…), ist nicht ganz nachvollziehbar, seine Ärgernisse aber mit Lenette nehmen schnell überhand, werden immer mehr zur großen Belastung, die auf beidseitigen Unwillen, sich mit dem anderen einzulassen, basieren. Auch liebäugelt Lenette mit einem gemeinsamen Bekannten, dem gutsituierten Schulrat Stiefel, der das junge Paar jeden Abend besucht und glaubt, zwischen ihnen vermitteln zu können, während seine Anwesenheit eher störend wirkt, da ein offenes Gespräch unter den Liebenden nicht möglich ist. Auch zeigt sich schnell, dass der Kummer unter der Maske der Freundlichkeit verborgen wird, solange Besuch im Haus ist, der sich dort, im verbitterten Inneren, immer mehr verhärtet und zur Abneigung aufgrund ungeklärter Probleme steigert.
Vielleicht möchte Jean Paul hier darauf hinweisen, wie häufig der Streit über Nichtigkeiten ausbricht, die doch mit gegenseitigem Verständnis schneller gelöst sein könnten, und wie fatal es ist, auf fremde Ansichten zu lauschen, während man doch im Miteinander der Beziehung offen sprechen sollte, ohne die Meinung des anderen als persönlichen Angriff zu verstehen. Lenette fasst Ratschläge von Siebenkäs als Streit auf, während Siebenkäs es nicht versteht, seinen Willen an seine Frau zu vermitteln.

Durch die nicht ausgezahlte Erbschaft wird diese jung geschlossene Ehe durch starke Armut belastet, die der Mann, nach Jean Paul, stoischer verkraftet als das Weib, das darüber verzweifelt. Siebenkäs ist genötigt, Geschirr, Möbel und andere Haushaltsdinge zu verpfänden. Der Kummer an den verlorenen Gegenständen wächst, besonders bei der besseren Hälfte, und die Ehe kippt von einem Streit in den nächsten. Siebenkäs versucht es mit Philosophie, die dann ihre Wirkung eher verfehlt:
„Liebe Frau, in der Hauptkirche singst du mit jedermann gegen die zeitlichen Güter, und doch sind sie an deinem Herzen angemacht wie Brust- und Herzgehenke.“

Belustigend ist die philosophische Hinterfragung des Armenadvokaten, warum Frauen so viel reden (jene "Teufels Papiere"). Später wird ebenso darüber reflektiert, wieso Frauen in der Ehe stumm werden und nicht verstehen, ihre inneren Kämpfe und Gefühle dem Ehegatten offen mitzuteilen. Statt Offenheit, fressen Frauen ihren Frust lieber in sich hinein, spielen oder sind beleidigt und ziehen ausnahmslos das Schweigen vor, um den Mann damit zu bestrafen. Siebenkäs wird seiner Frau dabei in nichts nachstehen und ihr Schweigen parodieren, indem auch er schweigt und seine Wünsche nur noch in kleinen Briefen an sie übermittelt.
Hier aber untersucht er anhand der Darstellung Kants, dass „Demonstration nichts ist als Fortschritt in identischen Sätzen“ vorerst noch die weibliche Geschwätzigkeit, und stellt fest, dass die Natur darin wohl einen Sinn vertieft hat, der den Männern aber wiederum nicht unbedingt gelegen kommt, geschweige denn einleuchtet. „Der ewige Pulsschlag der weiblichen Zunge soll der Erschütterung und Umrüttlung der Atmosphäre forthelfen, die sonst anfaulte.“
Klug aber ist die Frau, die unter Frauen und besonders unter Männern schweigt. So manche hat schon versucht, den Mund voll Wasser (ggf. Tee oder Kaffee) zu nehmen, um sich im Schweigen zu üben, allerdings hatte der Versuch den gegenteiligen Effekt und regte das Gespräch vielmehr an. So die geschriebenen Worte von Siebenkäs. Während mancher Theologe noch vermutet, dass viele Sprechen könne auch dazu dienen, irgendeinen Sinn geistiger Wesen auszudrücken (zum Beispiel den der weiblichen Seele), vermutet Jean Paul alias Siebenkäs vielmehr, dass viel Reden ein Zeichen dafür sei, „dass das Denken und innere Tätigsein aufhöret“.
Jean Pauls Zwinkern und Grinsen kann man hinter solchen satirischen Gedanken wunderbar heraushören, insbesondere, da er seiner Figur Siebenkäs eben jene leicht fehlgeleiteten Ansichten über die Frau vielfach übertrieben aneignet, (gesegnet mit einem Freund, der seine Meinung über die Frau teilt, heißt es am Anfang über diesen: "Sein Freund Leibgeber stand droben, der schon seit vielen Jahren ihm geschworen hatte, auf seinen Hochzeittag zu reisen, bloß um ihn zwölf Stunden lang auszulachen.", zumal er auch noch an die für ihn Falsche geraten ist, die nur ans Putzen und Kochen denkt und ihn beim Denken stört, die daran interessiert ist, dass Geld ins Haus kommt. Und dennoch hat alles seine Berechtigung, würden beide Gemüter aufeinander eingestimmt sein, statt sich mehr und mehr zu entfremden.

Zitat von Jean Paul
„Der Mensch lacht, wenn er Geistiges und Körperliches, Verstand und Ehrensold, Schmerzen und Schmerzensgeld ins Verhältnis gestellet findet; ist denn aber nicht unser ganzes Leben eine Äquation (oder Gesellschaftsrechnung) zwischen Seel und Leib, und ist nicht alle Einwirkung auf uns körperlich und alle Rückwirkung aus uns geistig?“



Bald geht „der Boden, worauf die zwei guten Menschen standen“... „unter so vielen Erschütterungen in zwei immer entferntere Inseln auseinander“. Siebenkäs verzweifelt an dieser Ehetragödie, kämpft mit Eifersucht und dem Verlust der Liebe, sehnt sich nach dem Tod.
Endlich trifft Nachricht von Leibgeber ein, der Siebenkäs nach Bayreuth einlädt. Siebenkäs, mit den Nerven am Ende, versöhnt sich mit Lenette, ermöglicht ihr den Besuch des Nebenbuhlers und bricht auf, seinen Freund zu treffen. Eine Verwechslung durch eine Frau wird zum Schicksalswink, da Siebenkäs und Leibgeber einander ähnlich sehen. Die ideale Frau für beide Figuren tritt auf die Bühne und beweist in ihrer Darstellung, dass auch Jean Paul nicht pauschalisiert, sondern der Frau durchaus ihre Idealgestalt zuspricht, wenn es sich hierbei bei Natalie (so heißt die Dame) auch mehr um männliche Eigenschaften handelt, mit denen sie zum Glück gesegnet ist. Da Leibgeber von Siebenkäs' Nöten erfährt, schlägt er ihm einen gewagten Plan vor, durch den Siebenkäs sowohl an eine gute Stellung kommt als auch seiner Ehe entkommt. Er soll seinen Tod vortäuschen und als Leibgeber wieder auferstehen, während dieser unbekannt als Narr in die Weite (und Welt) verschwindet. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich die Situation richtig gedeutet habe, aber es kam mir so vor, als ob beide Freunde sich in Natalie verlieben, der Siebenkäs, nach damaligem deutschem Gesetz möglich, eine Leibrente ausstellt, sobald er als tot gilt. So muss diese nicht den oberflächlichen Venner Rosa von Meyern heiraten, dem sie versprochen ist, ohne zu wissen, wer er eigentlich ist. Natalie selbst ist zwischen Siebenkäs und Leibgeber hin und her gerissen, so wirkte es zumindest auf mich, aber ihr Herz schlägt dann doch für Siebenkäs, der sich ebenfalls unsterblich verliebt, allerdings mit dem Täuschmanöver seines baldigen Todes auch annimmt, sie nie wiederzusehen.

Was Siebenkäs dann letztendlich durch den fingierten Tod gelingt, ist der Ausbruch aus seinem kleinbürgerlichen Leben. Was er dafür als „Sold“ bezahlt, ist ein Leben in Einsamkeit. Er muss sowohl seinen Freund Leibgeber, dessen "Leben" er übernimmt, entbehren, muss aber auch auf Natalie verzichten. Erst am Ende klären sich die Umstände, wenn auch besonders traurig und erschütternd, u. a. auch durch das, was Lenette geschieht. Der Ausweg aus diesem verkleinerten Leben ist der Tod, sagt uns Jean Paul. Der Tod steht für Einsamkeit. Man könnte hier deuten, dass der Mensch die Wahl hat: Will er dieses Theater der kleingeistigen Menge nicht mitmachen, muss er sich notgedrungen aus ihrem Lärm zurückziehen, wird so aber irgendwann nur noch vom eigenen Echo umgeben sein. Jean Pauls Empfehlung ist:

Zitat von Jean Paul
„Ausschließliche Einsamkeit und ausschließliche Geselligkeit sind schädlich und, ihre Rangordnung ausgenommen, ist nichts so wichtig als ihr Tausch.“



Und das kann man dann auch so stehenlassen.




Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 12.03.2012 18:49 | nach oben springen

#2

RE: Jean Paul

in Die schöne Welt der Bücher 12.03.2012 18:11
von Patmöser • 1.121 Beiträge

Was für ein herrlicher Beitrag, große Verbeugung, Taxinchen, ganz große Verbeugung!
Mein Einstieg, damals, das war das Schulmeisterlein Wutz, die geniale Kauizigkeit, diese bunten und wirren Wortschöpfungen die wohl nur noch bei Sterne zu finden sind, das alles ließ mich dann das Gesamtwerk von Jean Paul entdecken. Und bis heute ist Jean Paul einer meiner absolut "Unverzichtbaren" geblieben.
Noch ein wirklich empfehlenswertes Buch zum Gesamtkosmos Jean Paul:

http://www.amazon.de/Leben-Jean-Paul-Fri...r/dp/3596109736

ich weiß nun wirklich nicht, wie oft ich dieses Buch schon las, einfach ein wunderbares kleines Meisterwerk und eine großer Jean Paul - Liebhaber, dieser Günter de Bruyn.
Und wenn du die Literaturrezensionen von Hermann Hesse zur Hand hast, dann unbedingt sein Essay über Jean Paul lesen, er gab für "seinen" Jean Paul dort all sein dichterisches Herzblut, einfach nur wunderschön, Das!

zuletzt bearbeitet 12.03.2012 18:48 | nach oben springen

#3

RE: Jean Paul

in Die schöne Welt der Bücher 12.03.2012 18:54
von Taxine • Admin | 6.678 Beiträge

Hallo Patmos. Vielen Dank. Über diesen Schriftsteller würde ich durchaus gerne mehr erfahren. Ich habe im Augenblick noch "Flegeljahre" von ihm herumliegen und irgendein Gedankengewimmel.




Art & Vibration
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#4

RE: Jean Paul

in Die schöne Welt der Bücher 12.03.2012 20:55
von Roquairol • 1.072 Beiträge

Jaja, die "Flegeljahre" kann ich auch wärmstens empfehlen (ich habe da eine antiquarische Ausgabe mit einem Stempel der Bibliothek des Staatlichen Geologischen Dienstes der DDR, seltsam, seltsam ...), aber auch den poetisch-sentimental verschwurbelten "Hesperus", oder den "Titan", dem ich selbst entstiegen ...




Homepage: http://www.noctivagus.net/mendler
Facebook: http://www.facebook.com/people/Klaus-Mendler/1414151458
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#5

RE: Jean Paul

in Die schöne Welt der Bücher 12.03.2012 22:49
von Taxine • Admin | 6.678 Beiträge

Es ist mir eine Ehre, den 20.000 Beitrag in diesem Forum zu schreiben.
(Hier festgehalten, am 12. März 12: Dieses Board hat 41 Mitglieder und 20.000 Beiträge & 799 Themen).
Ein kleiner Tusch. Ein kleiner Jubel.




Aber zurück zu den wesentlichen Dingen... Zum Werk Jean Pauls hätte ich noch anzumerken, dass in dem von mir gelesenen Werk im Nachwort auch angedeutet wurde, dass Siebenkäs als Figur genau den Pol zwischen Wutz und Titan darstellt. Wutz stellt die "kleine Welt" dar und lässt sich von der Armut nicht unterkriegen, während Albano die "große Welt" verkörpert, aus der er seine Ideale einbüßt. Siebenkäs steht also in seinen Erlebnissen und seinem Charakter genau dazwischen. Das alleine erfordert wohl schon das Lesen beider Werke.
(Und der "Hesperus" ist ja sowieso vorgemerkt.)




Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 12.03.2012 23:01 | nach oben springen

#6

RE: Jean Paul

in Die schöne Welt der Bücher 12.03.2012 22:53
von Martinus • 3.195 Beiträge

Zitat von Taxine
Es ist mir eine Ehre, den 20.000 Beitrag in diesem Forum zu schreiben. Ein kleiner Tusch. Ein kleiner Jubel.



Bravo. Das ist ja titanisch




„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
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#7

RE: Jean Paul

in Die schöne Welt der Bücher 12.03.2012 22:54
von Taxine • Admin | 6.678 Beiträge

(Jetzt fehlt nur noch ein eröffnetes Thema (irgendwann) und wir sind in den vollen 800. Da haben wir aber echt ein gutes Stück geschafft, was Martinus? )




Art & Vibration
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#8

RE: Jean Paul

in Die schöne Welt der Bücher 12.03.2012 22:58
von Martinus • 3.195 Beiträge

Ich überlege gerade, was ich für einen Thread aufmachen könnte. Ha,ha.




„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
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#9

RE: Jean Paul

in Die schöne Welt der Bücher 12.03.2012 22:58
von Taxine • Admin | 6.678 Beiträge

Das hat Zeit. Wir lassen uns doch nicht die Vorfreude nehmen.




Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 12.03.2012 22:59 | nach oben springen

#10

RE: Jean Paul

in Die schöne Welt der Bücher 15.01.2013 18:56
von Patmöser • 1.121 Beiträge

Mein Jean Paul!
Wie siehst du Taxinchen, wie seht ihr, heute und mit ein wenig Abstand diesen wohl romantischten wie vielleicht auch humorigsten, deutschen Klassikker?

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#11

RE: Jean Paul

in Die schöne Welt der Bücher 16.01.2013 19:41
von Taxine • Admin | 6.678 Beiträge

Mir hat Jean Paul mit seinem "Siebenkäs" sehr gefallen und ich bin weiter neugierig auf ihn. Das nächste Buch, das ich lesen werde, ist sein "Hesperus".

(Du siehst, ich muss erst viel lesen, Patmos, um mir über ihn wirklich ein Urteil bilden zu können. Aber ich werde ... ich werde ihn lesen und wahrscheinlich so von ihm schwärmen, wie du ... )




Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 16.01.2013 19:43 | nach oben springen

#12

RE: Jean Paul

in Die schöne Welt der Bücher 17.01.2013 16:26
von Patmöser • 1.121 Beiträge

Schwärmen, nun ja, auch! Aber - verehren würde hier besser passen. Denn auch in seinem Menschssein, in seinem mutigen Eintreten für die Armen, die Hoffnungslosen, da war er schon ein großer und vorbildlicher Humanist.
Vielleicht war Jean Paul überhaupt der erste große deutsche Dichter, der sich des Themas der Armen, der Entrechteten, der Ausgebeuteten, überhaupt und in dieser Weise annahm.
Vielleicht auch, weil er selbst die bitterste Armut, den bittersten Hunger am eigenen Leibe und über viele Jahre hinweg selbst erfahren hat.

Die "Weimarer", die mochten Jean Paul nicht, aber sie mochten auch Heine nicht, auch Hölderlin nicht...

zuletzt bearbeitet 17.01.2013 16:46 | nach oben springen

#13

RE: Jean Paul

in Die schöne Welt der Bücher 22.02.2023 17:39
von Taxine • Admin | 6.678 Beiträge

Eine ausführliche Betrachtung zu
Jean Pauls "Titan" :


"Für ein Genie sind keine schärferen Poliermaschinen und Schleifscheiben vorhanden als seine Affen."

Wahrlich eindrucksvoll erhebt sich Jean Paul über die Grenzen der Sprache hinaus, verdichtet sie und poetisiert ein Stück voller Orangenduft, mediterraner Klänge, den Zornschalen der Jugend, den Lebenserkenntnissen, der Geisterwelt und dem Tod. "Titan" ist sein Opus Magnum und auch das Werk, das ihm selbst am meisten gefallen hat, während es bei seinen Zeitgenossen so gar nicht ankam, schon gar nicht bei Goethe, was allerdings auch nicht verwundert, da dieser ihn als Konkurrenz fürchtete und nur mit „Ekel und Hirnkrämpfen“ las (er nannte Jean Paul „das personifizierte Alpdrücken der Zeit“, während Jean Paul Goethe wiederum als gefühllos, trocken und verkrustet sah und ihn den „ästhetischen Gaukler von Weimar“ nannte).
Vielleicht lag es aber auch am Zugang zu diesem Werk. Der Inhalt ist äußerst komplex und anfangs doch sehr verwirrend. Man begreift kaum, was eigentlich geschieht und erst zum Ende des Buches kommt allmählich Licht in die Sache. Nach dem Lesen setzt man sich dann auch in Ruhe hin und malt sich diesen weitverzweigten Stammbaum der Fürstentümer auf, um die Leute noch einmal nachträglich in ihrer Rolle zuzuordnen, da Jean Paul teilweise die Namen durch die Titel und andere Bezeichnungen vertauscht und hinter dem Ganzen sowieso der Tausch der Kinder steht und viel Verwirrung stiftet.

1.
Alles in diesem Werk dreht sich zunächst einmal um den langsam heranreifenden und gutherzigen Albano Cesara, der im Verlauf der Geschichte dennoch eigenartig blass bleibt, wie eine leere Fläche, an der gemessen die anderen ihre Charakterstärke gewinnen. Er ist die Idealgestalt, steht für das Schöne, Wahre und Gute und ist selbst in seinen Wutanfällen unspektakulär. Gelungener sind die Nebencharaktere, darunter Schoppe, Dian oder Roquairol, die ihre Sichtweise lauthals verkünden.

Es gibt zwei Fürstentümer, die miteinander verwandt sind und sich gleichzeitig bekämpfen, Hohenfließ und Haarhaar. Beide haben Anspruch auf die Erbfolge, was Neid und Missgunst hervorruft. In Hohenfließ regieren die Fürstin Eleonore und der Fürst Justus, mit deren Kinder Luigi und Juliette Albano bald Bekanntschaft macht, als der Fürst im Sterben liegt. Albanos angebliche Mutter, die Gräfin Cesara, ist bereits tot, während sein Vater Don Gaspard Cesara, der Ritter vom Goldenen Fließ, mit den Hohenfließer Fürsten verkehrt und ihn nicht selbst erzieht, sondern zu Pflegeeltern gibt, um seine wahre Identität zu verschleiern. Die Cesaras sind mit der Fürstenfamilie Hohenfließ befreundet und beide Frauen waren in der Vergangenheit gleichzeitig schwanger, so dass beschlossen wurde, die Kinder zu vertauschen, um Albano vor einem Anschlag durch das Fürstentum Haarhaar zu schützen. Das alleine ist aber noch nicht alles, denn Jean Paul hat keine Scheu davor, den Tausch noch einmal durch die irritierende Rolle Cesaras als Liebhaber der Fürstin Eleonore zu verkomplizieren, so dass man lange nicht weiß, ob Albano nun ein Kind von ihm und der Fürstin ist oder doch ehelich gezeugt wurde.

Dazu haben die Cesaras eine weitere Tochter, die zuerst Severina heißt und angeblich stirbt und dann als Linda wieder auftaucht. Sie ist die tatsächliche Tochter der Cesara, während Albano, wie sich später herausstellt, das Kind der Fürstenfamilie ist und Juliette damit zu seiner wirklichen Zwillingsschwester gerät, während der kränkliche Luigi vorher geboren wurde. Das alles kapiert man am Anfang des Buches natürlich überhaupt nicht und so kommt es zu vielen Begegnungen und eigenartigen Hinweisen und Zeichen, die etwas andeuten, aber kaum offenbaren, was tatsächlich geschehen ist. Da muss man als Leser schon ordentlich auf Zack sein, um sich auf das Gelesene einen Reim zu machen, das erst mit vielen Seiten allmählich klarer wird. Letztendlich ist das allerdings aber auch völlig unwichtig, weil das Buch durch seine poetische Sprache, durch die Traumbilder und die Spannung besticht, so dass der Inhalt in seinen Zusammenhängen dahinter zurücksteht.

2.
"Über der Wüste singen die Vögel und ziehen die Sterne, und kein Mensch sieht die Pracht. Wahrlich überall geht in und außer dem Menschen mehr ungesehen vorüber als gesehen."

Hier kann man das Ganze dann natürlich auch etwas linearer schildern, was vielleicht einfacher ist. Allerdings ist das dann auch keine Rezension mehr, sondern eher eine Inhaltsangabe (das nur für die erwähnt, die das Werk noch nicht kennen und selbst lesen möchten). Die Kapitel sind in Jodelperioden und Zyklen aufgeteilt. Sie erschienen zu Jean Pauls Zeiten nicht in einem Gesamtwerk, sondern nach und nach in mehreren Bänden, was sich auch durch seine Anmerkungen zeigt, die auf die Kritik am Werk reagieren. Tatsächlich gelobt wurde es erst Generationen später, als man Jean Paul wiederentdeckte. Seine Landsleute waren gar nicht begeistert und hielten ihm die Narrenkappe vor, die er angeblich nicht wechseln würde. Das nun kann man wirklich nicht sagen, denn „Titan“ unterscheidet sich erheblich von den anderen Schriften.

Alles beginnt als mysteriöses Treffen Albanos mit dem 'Vater des Todes', eine Erscheinung in der Nacht, die ihm zugleich den Tod der Schwester in Spanien als auch die Begegnung mit seiner künftigen Herzensfrau Liane ankündigt, (ein perfider Plan Cesaras, der Albano mit Liane vermählt sehen möchte und seinen Bruder, einen Bauchredner, auch später noch häufiger als Geistererscheinung nutzt). Nach einem kurzen Anriss der Gegenwart, als Albano in Begleitung seiner Erzieher in Isola Bella, seinem Geburtsort, eintrifft, vertieft sich Jean Paul erst einmal ganz in die Kinder- und Jugendzeit seines Protagonisten. Dort ist er bei seinen Pflegeeltern Wehrfritz und Albine aufgewachsen, deren Tochter Rabette heißt, und trifft nach dem Tod der leiblichen Mutter zum ersten Mal seinen kaltherzigen Vater, der äußerlich wie innerlich mehr an einen Leichnam erinnert und nur gekommen ist, um ihn an sein Erbe zu erinnern und langsam in die Wege zu leiten, dass Albano Zugang zum Fürstentum Hohenfließ findet. Die Jugend Albanos ist sehr blumig beschrieben, voller Tränen, Tränen, Tränen und kleinerer Erkenntnisse. Überhaupt wird sehr viel geweint, da Albano als empfindsamer Jüngling die Welt zu begreifen versucht. Schon in seiner Jugendzeit beginnt er sich für Liane und Roquairol zu interessieren, zwei Geschwister, die die Kinder des Minister Froulays sind und dem Fürstentum Haarhaar angehören. Sie erscheinen ihm wie höhere Wesen, die unerreichbar wirken, die aber schon bald in sein Leben treten.

Zunächst, mit einem kurzen Zwischengeplänkel des Autors über deutsche Gegebenheiten der Jurisprudenz (das Studium Albanos), geht es zurück in die Zeit der Erziehung, wobei Albano mehrere Lehrer hat, den herrlich lästernden Bibliothekar Schoppe, den griechischen Landbaumeister Dian, den Lektor Augusti, den Magister Wehmeier und den Zeremonienmeister Falterle, die sich die Aufgabe teilen, Albano auszubilden, während Falterle, indem er die Sinne seines Zöglings auf Liane lenkt, gleichzeitig versucht, ihn von ihrem wilden Bruder Roquairol fernzuhalten, der als Theaterschauspieler auftritt und sich aus verschmähter Liebe bereits in sehr jungen Jahren ein Ohr weggeschossen hat und droht, zum besten Freund zu werden. Tatsächliche freundschaftliche Gefühle entwickelt Albano allerdings nicht für all seine Erzieher, nur für Schoppe und Dian, während aber auch Augusti später, wie die beiden anderen, einiges zur Aufklärung der Umstände beiträgt.

Die vorerst noch in der Fantasie genährte Liebe wächst, bis er Liane und Roquairol beim Tod des Fürsten von Angesicht zu Angesicht trifft und annimmt, dass seine Angebetete, die durch eine unbedachte Bemerkung Roquairols am Sarg des Fürsten an einer nervenbedingten Blindheit leidet, bald sterben wird. Auch der Arzt Spex, der schon frühzeitig von ihrer sehr blassen und zarten Haut sprach, was statt Besorgnis Freude auslöste, bezogen auf den damals üblichen Trend der Mode und des Schönheitsideals (kleine Stichelei Seitens Jean Pauls), ist gleicher Meinung, während der Tod ihrer Freundin, die ihr im Traum erschien und ihren Tod voraussagt, zur Gewissheit wird, so dass Liana davon ausgeht, nur noch eine kurze Zeit zu leben, was sich später ungünstig auf ihre Liebe zu Albano auswirkt.

Währenddessen wächst Albanos Liebe zu Liane weiter, die ihr Augenlicht wieder erlangt und auch selbst Sympathie für ihn hegt. Dabei dient Roquairol als Brücke, um der Familie näher zu kommen und wird, trotz der Besorgnis des Lehrers, zum gefährlichen Freund. Lianes Vater jedoch hat andere Pläne und will sie an dem deutschen Grafen Bouverot verschachern, der darin eine Rache für die vorher stattgefundene Ablehnung durch die Fürstin Isabella aus dem Fürstentum Haarhaar sieht, die die Schwester Idoines ist. (Das nutzt Jean Paul übrigens dann auch für eine dazwischen gepackte Anklage an solche Eltern, die ihre Kinder und besonders Töchter nicht frei entscheiden lassen, um sich eine gute Partie zu sichern und trotz des Leids des Kindes davon zu profitieren.) Die Eltern verbieten Liane den Kontakt zu Albano, bis sie ein Missverständnis ganz auseinanderbringt, weil Albano einen Verrat wittert, den Liane nicht begeht. Da sie davon ausgeht, sterben zu müssen, beendet sie das Verhältnis, was Albano als Zugeständnis an den Wunsch ihrer Eltern interpretiert. Voller Wut wendet er sich von ihr ab und bereut das Ganze erst, als es zu spät ist.

3.
Man möchte nun nicht meinen, dass der Zugang in den poetischen Gedankenstrom des Schriftstellers so einfach wäre, was sich auch in der Schwierigkeit einer Zusammenfassung zeigt. Empfehlenswert sind für das Genießen dieses Romans Ruhe und volle Konzentration. Das Buch trägt einen wie ein Fluss, über Seiten hinweg, wobei es an Spannung zunimmt, je älter Albano und je verzweifelter die Lage wird. Man taucht in die farbigen und düsteren Tiefen des Erzählten ein und wird mit jedem Satz hinfort gerissen, um gleichzeitig in den zahlreichen dichten Beschreibungen zu versinken. Besonders spannend wird es nach dem Bruch zwischen den Liebenden, als sich die Freundschaft mit Roquairol ins Gegenteil kehrt und allmählich angedeutet wird, dass mit den familiären Verhältnissen etwas nicht stimmt und die Geburt Albanos ein Geheimnis umgibt. Auch der Tod Lianes ist unfassbar intensiv ins Bild gesetzt und hat mich tief bewegt, während Albano ihn in einer Version durch die Leichen-Seherin vorweggenommen sah:

"Schaudernd lief er draußen um die Stelle vorbei, wo in der vorigen Nacht die Leichen-Seherin gestanden hatte, um ihre in schwarze Menschen verwandelten Träume langsam von der Bergstraße herunterziehen zu sehen."

Verwirrung stiften im Buch auch immer wieder die Frauen, so Idoine, die Liane ähnelt, aber am Ende mit keinem verwandt ist, oder Linda, die der allmählich verrückt werdende Schoppe schon früh für Albanos Schwester hält, weil er annimmt, dass Cesara Albanos Vater ist, während das vor allen Dingen dann zum Problem zu werden droht, als Albano sie heiraten möchte. Roquairol, der zunächst die Tochter seiner Pflegeeltern Rabette entjungfert und sie dann verlässt, um getarnt als Albano schließlich auch Linda zu verführen, die nachtblind ist und nicht sieht, um wen es sich tatsächlich handelt, offenbart alles in einem Theaterstück auf der Bühne, um sich dann vor allen Augen in den Kopf zu schießen, ein ebenfalls sehr intensiv tragischer Moment.

Allmählich klärt sich, dass Juliette die echte Zwillingsschwester ist und Liane die Tochter der Cesara, während Albano sich mit der Rolle des Prinzen von Hohenfließ vertrauter macht, die durch die Erziehung der vielen Lehrer bereits vorweggenommen war. Am Ende entdeckt er in Idoine das ideale Abbild Lianes und bald wird die Verlobung verkündet, so dass beide Fürstentümer vereint sind und gemeinsam die Erbfolge antreten. Idoine war auch diejenige, die Albano beim Tod Lianes durch ihre inszenierte Erscheinung als ihr Geist vor dem Wahnsinn bewahrte, der durch seine Trauer ausgelöst wurde. Die Liebe ist in „Titan“ vielleicht das Tragischste überhaupt:

"Wenn weiß es denn der Mensch, daß gerade er, gerade dieses Ich gemeinet und geliebet werde? Nur Gestalten werden umfasset, nur Hüllen umarmt, wer drückt denn ein Ich ans Ich?"


4.
"Titan" ist deutlich komplexer als "Siebenkäs" und andere Werke Jean Pauls. Man steht mit Bewunderung vor solchen Zeilen, in denen jedes Wort ausgesucht und erhaben erscheint, und ringt gleichzeitig mit einer Abneigung gegen diese ideale und blumige Welt. Andererseits ist die Sprache ein Genuss, wenn man auf die Details achtet, denn Jean Paul ist ein wahrer Wort-Gefühl-Erfinder. Und auch philosophisch mangelt es natürlich nicht, z. B. durch solche Sätze:

"Das Alter ist nicht trübe, weil darin unsre Freuden, sondern weil unsre Hoffnungen aufhören."

Der Stil Jean Pauls ist einzigartig durch seine Art, Geschichten aus Skizzen und Notizen zusammenzusetzen und dabei auch als Erzähler in alles einzugreifen, das lässt sich nicht bestreiten, während der Aufbau des Romans vielleicht durch einige genauere Angaben oder eine durchdachtere Abfolge der Ereignisse besser gelungen wäre. Natürlich muss man zugestehen, dass der Roman selbst eine lange Entwicklung durchmachte und nicht auf einmal erschien. So ich mich erinnere, hat Jean Paul daran fast zehn Jahre gesessen und Albanos Geschichte immer weiter ausgebaut. Das erklärt auch den fast auf Augenhöhe stattfindenden Prozess, von dem der Schriftsteller noch nicht das Gesamtkonzept kannte.

„Wenn man fragt, warum ein Werk nicht vollendet worden, so ist es noch gut, wenn man nur nicht fragt, warum es angefangen. Welches Leben in der Welt sehen wir denn nicht unterbrochen? So tröste man sich damit, dass der Mensch rund herum in seiner Gegenwart nichts sieht als Knoten, – und erst hinter seinem Grabe liegen die Auflösungen; – und die ganze Weltgeschichte ist ihm ein unvollendeter Roman.“

Und selbst als moderner Leser findet man Befriedigung, da sich dieses Labyrinth an Lebensroman dann doch als gigantisch gelöstes Puzzle irgendwie zusammensetzt, aber nur mit viel Geduld und einem guten Gedächtnis, ist der Roman immerhin knappe 1.000 Seiten lang.

Von allen Figuren war mir Schoppe von Anfang an sympathisch, der aus Frust am Leben den Wahnsinn wählt und durch seine Furcht, dem eigenen Ich (nach Fichte) zu begegnen, zu Tode kommt. Witzig ist, dass Jean Paul ihn am Ende kurzerhand zu Siebenkäs werden lässt, der wiederum, wie man sich vielleicht noch erinnert, eigentlich Leibgeber ist, der dann als Doppelgänger auch in „Titan“ erscheint und die Freundschaft des alten Schoppe für Albano ersetzt. So stellt der Schriftsteller einen direkten Bezug zu seinem anderen Werk her und lässt seine Protagonisten, die auch mir die liebsten sind, immer wieder neu auferstehen.


(Alle Zitate stammen aus der Ausgabe: Jean Paul "Titan" Insel Verlag)




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#14

RE: Jean Paul

in Die schöne Welt der Bücher 04.06.2023 19:57
von Roquairol • 1.072 Beiträge

Sehr schön. Ich sollte das auch mal wieder lesen.




Homepage: http://www.noctivagus.net/mendler
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#15

RE: Jean Paul

in Die schöne Welt der Bücher 05.06.2023 11:46
von Taxine • Admin | 6.678 Beiträge

Ja, es ist schon ein sehr poetisches Werk, das ein Wiederlesen lohnt, und immerhin kommst du ja auch darin vor. Ich mochte von allen Figuren Schoppe am meisten. (Übrigens vielen Dank für deine guten Wünsche. Habe mich sehr gefreut. )




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