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Hirngespinste

Austausch zwischen Literatur und Kunst

#1

Wie ich in einen Kriminalfall verwickelt wurde

in Prosa 01.05.2012 23:05
von Martinus • 3.195 Beiträge

Wie ich in einen Kriminalfall verwickelt wurde

Wenn ich in mein Stammcafé gehe, komme ich an dem alten jüdischen Betsaal vorbei, der sich in dem gotischen Gemäuer der Hausnummer 3 befindet. Natürlich ist das jetzt ein wenig geflunkert, denn die das alte Gemäuer gibt es längst nicht mehr. Wenn die Juden damals gewusst hätten, dass hier ein paar hundert Jahre vorher die Bigamie eines hessischen Lustgrafen legalisiert worden war, hätten sie ihren Gebetssaal vielleicht an anderer Stelle errichtet. Nicht alles Kopfsteinpflaster ist alt. Immer öfter treten wir auf chinesisches Gestein. Verschwunden ist der Discounte. Ihm gegenüber war ein Obstladen. Einst zierten Obststände die Gasse. Scharfe Konkurrenz. Vielleicht haben sich die Konkurrenten kaputt konkurriert und sind deshalb verschwunden, wie auch das „Ambrosius“ und das „Jenseits“ verschwunden sind. Natürlich weiß ich ich nicht, warum ein Geschäft oder ein Bistro verschwindet, bin aber froh, dass immer wieder etwas neues aus dem Boden gestampft wird.

Seit einiger Zeit gehe ich ins gepflegte Café Moritz, aus deren orange – und weißgefärbten Wänden gotische Rippengewölbe hervorlugen, als ob sie neugierig darauf abfahren, mitzubekommen , worüber man sich im 21. Jahrhundert sich unterhält und wie man sich die Zeit vertreibt. Geruch von Schnaps, Parfüm und Kaffeeduft schwirrt dem Gemäuer ans Gestein. Auf lackierten Holzstühlen wird geratscht und getrunken. Manchmal bin ich in Gedanken versunken, oder ich beobachte Pärchen, wie sie Händchen halten und süßes Gebäck naschen. Genau dort zwischen Tellern, Tassen, Cappuccino, wo vor sehr langer Zeit vielleicht auch Gebete gemurmelt wurden, denn ich habe mich oft gefragt, ob das nicht mal eine Kapelle gewesen war, saß vor drei oder vier Monaten eine junge Frau am Nachbartisch mir gegenüber. Sie erinnerte mich an Julia Roberts. A pretty woman, wirklich wahr. Zierlich, Mitte zwanzig, braune Locken. Wenn ich so nachdenke, war es mir manchmal doch etwas peinlich, dass solche jungen Frauen immer noch mein Interesse weckten.Immerhin gehe ich schnurstracks auf die fünfzig zu. Wenn ich von meinem Notizbuch aufschaute., fiel sie mir genau ins Blickfeld. Aber, um nicht zu aufdringlich zu wirken, schaute ich auch mal über ihren hübschen Kopf hinweg in den großen Spiegel hinter dem Tresen und beobachtete Menschen, wie sie vorübergingen. Mein Notizbuch hatte ich immer dabei. Sie müssen wissen, ich gehöre zu der extravaganten schon fast ausgestorbenen Variante Mensch, die sich in ein Café hockt und Gedichte schreibt. Heute machte Sabine ihren Job im Café. Als sie mir den Latte macchiato brachte, drückte ich ihr einen Zettel in die Hand, und bat darum, dieses beschriebene Papier der Julia Roberts, die so ausschaut wie, ja, genau, ihr den Zettel auf den Tisch zu legen. Sie warf mir einen Blick zu, der soviel hieß wie 'Muss das sein?', machte aber genau das, worum ich gebeten hatte. Das Mädchen, die Julia, ließ sich Zeit, dann nahm sie das Papier und las: „Darf ich mich zu Ihnen an den Tisch setzen?“ Gespannt schaute ich zu ihr und wartete auf eine Reaktion. Sie warf mir einen uninteressierten Blick zu, schaute in eine andere Richtung, drehte auch noch ihren Stuhl etwas nach links. Dumm gelaufen, dachte ich und drehte meinen Stuhl anders herum.

Ich schaute erst wieder zu ihr hinüber, als sie von einem Typen in schwarzer Lederjacke mit hässlichem Vokabular beschimpft wurde. In einer Hand hielt er eine Bierflasche. Ist dem ein Regenwurm durchs Hirn gekrochen?, dachte ich. Der spinnt wohl. Ich befürchtete eine Eskalation. Offenbar hatte sie erst mit ihm Schluss gemacht, kombinierte ich, und das musste dem jungen Kerl natürlich gestunken haben. Offensichtlich spionierte er ihr nach. Hoffentlich kein Stalkertyp. Ich stand auf und wollte den widerlichen Kerl aus dem Lokal schmeißen, obwohl ich kein Recht dazu hatte. Aber ich war so in Rage und dachte überhaupt nicht nach. Ich hatte aber Schwein gehabt, weil der Lederjackentyp nach diesem dämlichen Theater freiwillig verschwand, und darum mir glücklicherweise eine Schlägerei erspart geblieben war. Noch mal gut gelaufen. Dieser Zwischenfall kam mir sehr lang vor, war aber so schnell vorübergegangen, dass noch nicht mal der Chef der Lokalität Gelegenheit hatte, in diesem Streit einzugreifen. Ich mag mir gar nicht vorstellen, dass ich nahe dran war, in meinem Stammcafé unter diesem ehrwürdigen gotischen Rippengewölbe mich mit einem womöglich besoffenem Schnösel herumzuschlagen. Wie froh war ich, als wieder Ruhe einkehrte, auch die anderen Gäste diesen Zwischenfall ad acta legten. Die vertraute Atmosphäre versuchte sich wieder einzuklinken. Ich sah der zierlichen Frau hinüber. Richard Gere hätte seine Freude an ihr gehabt aber irgendwas war nicht mehr in Ordnung. Sie wirkte verstört. Ich wollte sie ansprechen, sie stand aber auf, bezahlte an der Theke und verschwand. Ich schaute in mein Notizbuch. Drei Verse hatte ich heute zustande gebracht. Ich war nicht mehr in Stimmung und klappte das Büchlein. „Hast du das gesehen mit dem Typen?“ , fragte ich Sabine. - „Bin froh, dass der von sich aus gegangen ist. Kommt nicht so oft vor, aber manchmal, wenn abends Leute auch mal angetrunken hineinkommen, verkauft mein Chef keinen Schnaps. Meinst du, der war besoffen?“ - „Also, gerochen habe ich nichts, aber das Mädel hat mit dem Schluss gemacht Das konnte ich heraushören. Ich finde den ja auch viel zu grob für die.“ Sabine fing an zu lachen. „Du“, fiel mir noch ein, „ war das hier mal ein Kapelle?“ - „Weiß nicht“, antwortete sie und nahm mir ein paar Euros ab. Ich ging wieder hinaus auf das Kopfsteinpflaster.

Bei diesem Sommerwetter dehnten sich die Cafés bis unter den freien Himmel. Im Grunde fühlen sich die Menschen, wenn sie die Altstadt betreten, wie im Urlaub. Eis essen, Cappuccino und die Menschen fühlen sich südlich der Alpen versetzt. Plötzlich heulte ein Martinshorn auf. Die sind wohl an der Eisdiele vorbeigeqietscht, dann die Wahlenstraße hoch, denn ein Blick Richtung Kohlenmarkt brachte mir kein Sanitätsfahrzeug zu Gesicht. Noch ein Martinshorn. Was ist denn hier los? Die ungewohnte Hetze von Rettungswagen oder Polizei brachte ein kurzes Raunen hervor. Ich bummelte die Straße hinunter, aber irgendwie war heute alles anders. Dort, wo gewöhnlich ein Renaissancegefühl aufkam, im Innenhof mit dem Goldene Turm, wo ich einige Minuten der Stille zu genießen gewohnt war, war ein nervöser Menschenauflauf. Polizisten drängten Gaffer zurück und wollten den Hof absperren. Einer fotografierte. Irgendwas ist passiert. Keine Ahnung. Ich fragte einen Mann, der aus dem Getümmel kam: „Was ist dort passiert?“ - „Eine Frau ist zusammengeschlagen worden. Wahrscheinlich von einem Besoffenen. Jedenfalls lagen dort Glassplitter herum.“ - „Scheiße,“ sagte ich. Der Mann ging weiter. Plötzlich schlug mir wie die Axt eines Hackerbeilmörders ein Schreck durch die Physiognomie, mein Mund klappte auf, mich packte das Entsetzen. Das kann nur das bekloppte Lederjackenarschloch gewesen sein, riss es durch meinen Schädel. Ich war wie gelähmt. Für einen Moment lehnte ich mich an das Schaufenster hinter mir.

Inzwischen war der Hof dicht, konnte nicht mal schauen, ob... Ich lief zurück zum "Moritz", riss die Tür auf, wandte mich aufgeregt Sabine zu: „ Da, beim Goldenen Turm, in dem Hof da, ...da ist eine Frau erschlagen worden. Ich fürchte, dass war der Scheißkerl, der die Frau vorhin zusammengestaucht hat.“ - „Wie?“, fragte sie verdutzt, „soll ich Sanitäter rufen?“ - „Was soll ich machen, wenn die tot ist?“ - „Ich rufe erstmal 112. - „Nein, die waren schon da, Polizei auch. Ich konnte nicht sehen, wer die Verletzte war. Aber was, wenn sie tot ist?“ - Ich zitterte. „Hoffentlich nicht“, sagte Sabine umsorgt. - „Ich hatte doch mit ihr reden wollen, sie ging aber so schnell weg,“ sagte ich nervös, „sie wäre sicher noch am Leben, wenn ich sie angesprochen hätte.“ - „Du weißt doch gar nichts, vielleicht ist sie nur verletzt. Gib dir bloß nicht selbst die Schuld.“ - „Sabine, ich gehe zur Polizei. Ich weiß wie das Schwein ausgesehen hat.“ - „Was stand denn auf dem Papier, das sie von dir bekommen hat?“ - „Nichts besonderes, ich dachte nur...ach lass das doch.“ - Sabine hatte eine Idee: „Ich rufe die Polizei an, dann brauchst du da jetzt nicht hin. Ich habe den Scheißtyp doch auch hinausgehen sehen.“ - „ Ich glaube, ich muss mich erstmal setzen.“

Als ich mein Notizbuch aufschlug, träumte die Stadt schon längst wieder von ihrer bewegten Historie.

(18.04. - 01.05. 2012)

Liebe Grüße
Martinus

PS: Handlung ist fiktiv, die Örtlichkeiten real.
Meine erste Regensburger Geschichte.




„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
zuletzt bearbeitet 01.05.2012 23:13 | nach oben springen


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