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Herman Melville
in Die schöne Welt der Bücher 10.07.2012 12:09von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Herman Melville
Moby Dick
Vielleicht verträgt es sich aber gar nicht mit wahrer Lebensweisheit, bewusst danach zu streben.
…denn der tragische Mensch wird immer nur durch eine gewisse innere Zerrüttung groß. Verlasst euch drauf, die ihr nach Ruhm trachtet: alle Größe hienieden ist letzten Endes Krankheit.
Seinem Werk voran schickt Melville etliche Zitate, in denen der Wal erwähnt oder näher betrachtet wird. Auch zeigt er auf, was „Wal“ in den verschiedenen Sprachen heißt. Schließlich folgt das erste Kapitel mit den bezeichnenden, einleitenden Worten: „Man nenne mich Ismael.“
Der Erzähler Ismael spricht davon, sich von seiner verwitterten Seele zu befreien und, sobald er den Hass auf die Menschen in sich verspürt, auf einem Schiff anzuheuern, um auf See seine Seele wieder im Gleichklang zu wiegen. Nach der biblischen Geschichte ist Ismael der Sohn einer Ägypterin, die als Sklavin von ihrer Herrin gezwungen wird, ein Kind mit deren Mann Abraham zu zeugen und zur Welt zu bringen, das ihr dann weggenommen wird, während sie selbst aus Eifersucht verjagt wird. Ismael ist also mit ihr ein Verstoßener und Leidender. Melville bedient sich in all seinen Romanen am biblischen Stoff. Gleichzeitig ist alles auch Metapher. Das Meer ist nach ihm die wahre Behausung des Menschen, während die Erde nur voller sklavischer Spuren ist.
Zitat von Melville, S. 192
Die Wahrheit, dass alles tiefe, ernsthafte Denken nur das unerschrockene Streben der Menschenseele ist, sich die hohe Freiheit ihrer Meere zu bewahren; dieweil die wildesten Winde zwischen Himmel und Erde sich verschworen haben, uns an der elenden Knechtschaft der Küste scheitern zu lassen.
Das Meer ist Gott näher, seinem Zorn unterworfen und in seiner Kraft ausdruckstärker und tödlicher, als andere Geschehen.
Ismael ist an Land von Depressionen geplagt, daher heuert er auch auf einem Walfänger an, der nach seinen Aussagen wesentlich länger auf See unterwegs ist als andere Schiffe. Wenn er spürt, dass er durch sein eigenes Leiden Hass auf die Menschen bekommt, flüchtet er auf eines der Schiffe. Die Entscheidung, sich als Walfänger zu versuchen, deutet darauf hin, dass er auf diese Art und Weise versuchen will, sich durch die anstrengende und langwierige Erfahrung von seinen Selbstquälereien befreien zu wollen. Walfänger sind nicht nur Monate, sondern häufig mehrere Jahre auf See unterwegs. Die Schiffsleute setzen sich großen Strapazen und Gefahren aus.
Wie anders und dennoch gleich steht dem gegenüber Kapitän Ahab, der sein eigenes Leid auf einen Wal projiziert, das er einmal natürlich durch ihn erlitten hat, weniger durch den Verlust des Beines selbst als die quälende Zeit der Genesung. Zum anderen steht der Wal aber auch für seinen Kampf gegen die Natur, die er für ungerecht und grausam hält, die gleichbedeutend mit Gott ist, der ein grausamer, blutrünstiger Herrscher über Leben und Menschen ist. Er schwört bittere Rache, fürchtet weder den Tod noch den Untergang seines Schiffes. Gleichzeitig ist Ahab auch das Abbild Ismaels, wie dieser nach langem Leben in der eigenen Bitterkeit werden könnte, wenn er sein Leben weiter so gestaltet wie bisher. Dieser versucht noch den anderen Weg, die Befreiung vom eigenen Leid durch Abenteuer, Jagd, durch das Nichts und die Weite des Meeres… Er möchte sich dadurch von der Schwermut befreien und gleichzeitig ist sie der Grund, überhaupt auf einem Walfänger anzuheuern. Diese Verdoppelung der Gründe zerstäubt erst, als er der einzige Überlebende dieses Abenteuers wird.
Interessant zu erfahren war in diesem Zusammenhang auch, dass die Schiffe damals mehrere Eigner hatten, verschiedene Menschen in ein Schiff investierten und an der Ladung mitverdienten, daher natürlich Hoffnung trugen, dass das Schiff keinen Schaden erleidet. Ahab ist der einzige Schiffsherr, der auf die Geldgeber keinen Wert legt, also nicht versucht, das Schiff wieder heil in den Hafen zurückzubringen.
Ismael besitzt wenig, daher sucht er, bevor es auf einen Walfänger geht, nach einer billigen Bleibe, wo der Wirt ihm nur noch die Hälfte eines Bettes anbieten kann. Das Bett soll er sich mit einem Harpunier teilen. Zunächst ist Ismael einverstanden, malt sich dann mit aufkommender Müdigkeit aber aus, wie absurd es ist, mit einem Fremden das Bett teilen zu müssen, reflektiert über Sauberkeit und Peinlichkeit. Er ist unsicher, findet aber keinen anderen Schlafplatz, und als er sich schließlich entschließt, das Angebot des Wirtes anzunehmen, ist der Harpunier auch noch ein Wilder, ein Menschenfresser, ein Eingeborener, übersät mit vielen Tätowierungen und ausgerüstet mit einem Beil, das gleichzeitig Pfeife ist. Die erste Nacht bangt Ismael um sein Leben und fühlt sich allgemein bedroht durch das Wilde und Fremde dieses Menschen, am nächsten Tag aber, als er ihn besser kennenlernt, stellt sich heraus, dass sie einander trotz ihrer Unterschiede mögen und sie schließen tiefe Freundschaft. Quiqueg, so der Name des Eingeborenen, der Sohn eines Häuptlings, erzählt von sich und seinem Interesse an der christlichen Welt, bis er feststellt, dass die Welt überall böse Menschen birgt. Seine Enttäuschung über die Entdeckungen kann er nicht verhehlen. Und diese teilt auch Ismael mit ihm.
Schon mit den ersten Zeilen ist man mitten in dieser wahnsinnig schönen Erzählung. Melville versteht es hervorragend, den Leser voranzuführen, ihm diese Welt ganz zu eröffnen. Seine Figuren, Begebenheiten, Ereignisse sind lebendig, durchkreuzt von philosophischen oder gesellschaftskritischen Gedanken. Zum Beispiel denkt Ismael in der Kirche über die teuer erkauften Gedenktafeln der „höheren Toten“ nach (vgl. hier auch Aries „Geschichte des Todes“) und fühlt, wie leer diese Platten sind, die all die Toten verhöhnen, die „ohne ein Grab umgekommen sind“.
„Doch der Glaube, wie ein Schakal, findet seine Nahrung unter Grabstätten, und gerade aus dem Leichenacker solcher Zweifel bezieht er seine wesentlichste Hoffnung.“
Quiqueg weiß durch seinen Totem bereits, welches Schiff das Schicksal ihrer beider ist. Er schickt Ismael, damit er die Entscheidung trifft. Dieser wählt aus drei Walfängern die verhängnisvolle „Pequod.“ Als er anheuert, trifft er auf zwei ehemalige Kapitäne, nicht aber auf Ahab, den eigentlichen Kapitän. Der zeigt sich erst, als das Schiff längst abgelegt ist und dann auch deutlich in seinem ganzen Wesen. Man erzählt sich über Ahab viele Geschichten, so soll er unter anderem ein Bein verloren haben und nur noch mit einem Holzbein bestückt sein. Das Bein verlor er durch einen Pottwal, mit dem er kämpfte, durch den er seine Schiffe und die gesamte Mannschaft einbüßte. Gleichzeitig zieht sich eine Narbe über sein Gesicht, die ein Blitz bei ihm verursacht hat, und entstellt ihn, macht seine Züge grausamer und verwirrter.
Ismael wird von einem der Kapitäne aufgefordert, über die Reling zu sehen und zu verkünden, was er sieht. Das, worauf sein Blick fällt, ist „grenzenlos, aber über alle Maßen eintönig und abstoßend; nicht die kleinste Abwechslung – nichts als Wasser“. Hier muss Ismael einsehen, dass die Schiffsfahrt auf einem Walfänger nicht die übliche abenteuerliche Fahrt ist, sondern ein Erleben anderer Art. Dennoch nimmt er die Herausforderung an. Man könnte hier weiterhin deuten, dass Ismael so seinen jugendlichen Drang überwindet, die Schiffsfahrt als reine Ablenkung von sich selbst zu betrachten. Die unendliche Weite, und damit Leere des Meeres sollte ihn ernüchtern und damit reifer machen.
Nun nimmt sich Melville die Zeit, das Seewesen und den Walfänger näher zu beschreiben, samt der Gewohnheiten der Schiffscrew, die hauptsächlich aus Quäkern (die einzige christliche Gruppierung in Amerika, die konsequent jeden Krieg ablehnt) und unterschiedlichen „Wilden“ besteht, wie auch die zu seiner Zeit bekannte Einordnung der Walarten. Während Melville für Toleranz wirbt, dass ein Neger nicht schlechter als ein Weißer ist, weist er auch auf die Schönheit der „Heiden“ hin, unter denen häufig bessere Menschen zu finden sind als unter den sogenannten Christen. Dennoch stellt er auch den fremden Glauben in Frage:
Zitat von Melville, S. 160
Nun mag meinetwegen jeder nach seiner Art selig werden; solange nicht einer seinen Glauben den andern mit Gewalt aufzunötigen sucht, habe ich, wie gesagt, gegen keinen Glauben etwas einzuwenden. Wenn jedoch der wildgewordene Glaube eines Menschen ihm selber zur Qual wird und diese unsere Erde zu einem ungemütlichen Aufenthalt macht, dann erachte ich die Zeit für gekommen, mir diesen Menschen beiseite zunehmen und ihn womöglich zur Vernunft zu bringen.
Quiqueg begreiflich zu machen, dass all dieses Fasten, Bußetun und Herumhocken in kalten, trostlosen Kammern barer Unsinn sei; es sei Gesundheit schädlich, nütze dem innern Menschen nichts und widerspreche überhaupt den selbstverständlichen Gesetzen der Körperpflege und des gesunden Menschenverstands.
… alle aus dem Fasten hervorgegangenen Gedanken taugten daher nicht eben viel. Das sei die Ursache, weshalb die meisten magenkranken Glaubenseiferer so düstere Anschauungen vom Jenseits hegen.
Damals war der Pottwal noch der größte bekannte Wal, daher ist „Moby Dick“ auch von dieser Walart. Heute weiß man natürlich, dass der Blauwal mit einer Länge bis zu 33 Metern der größte Wal der Welt ist. Diesen erwähnt Melville nur als unbedeutend nebenbei. Ansonsten ist sein Wissen sehr fundiert. Er beschreibt die verschiedenen Arten und ihre Gewohnheiten, ihr Aussehen und ihre Angriffslustigkeit, stellt den Mythos des "Untiers" der Wirklichkeit gegenüber.
Bald erscheint Ahab höchstpersönlich als alternder Kapitän mit einer langen Narbe im Gesicht. Er hat die Eigenheit, über Stunden auf Deck entlang zu spazieren und in sich gekehrt seinen Gedanken nachzuhängen. Eines Tages aber ruft er endlich die gesamte Mannschaft zusammen und erklärt ihnen, wozu sie wirklich auf See sind. Sie wollen nicht Wale fangen, um geschäftstüchtig zu sein, sondern Ahab verfolgt die Absicht, den weißen Wal – Moby Dick – zu jagen und zu töten, der ihn das Bein gekostet hat. Seine Rache ist alles, was ihn interessiert und die Mannschaft erklärt sich nur zögerlich mit seinen Befehlen einverstanden. Er setzt eine Goldmünze aus für denjenigen, der den weißen Wal als Erster entdeckt.
„Man glaubt, ich sei von Sinnen; ich aber bin besessen, bin die außer sich geratene Besessenheit selber! Jene Raserei, die nur abflaut, um sich selbst zu begreifen.“
… spricht Ahab zu sich selbst. Seine Besessenheit kam nicht in dem Moment auf, als er mit einem Messer auf den fürchterlichen Wal losging, der ihn drei Schiffe und etliche Leute gekostet hat, einschließlich seines Beines, sie kam erst da auf, als er an Land viele Wochen mit der Verstümmelung leben und den Schmerz ertragen musste, sie darüber bewusst wurde, dass er nun endgültig ein Krüppel war.
„… damals begab es sich, dass sein zerstückelter Leib und die zerrüttete Seele ineinanderbluteten und diese Verquickung seinen Geist zerstörte.“
Hier beginnt Ahabs Kampf gegen das personifizierte Böse – der Wal, der ihn zum Krüppel gemacht hat, das Leiden, das er ertragen musste, wo er ein so stolzer Mann war und nun seine Verstümmelung umso schwerwiegender empfindet. Wenn schon die Götter grausam sind, während so mancher, angeblich schlechter Mensch immerhin Mitleid empfinden kann, wenn schon die Natur so gleichgültig ist, so muss sein Hass auf den Verursacher übertragen werden, den er finden kann und das ist „Moby Dick“, der weiße Wal.
Moby Dick ist ein Pottwal und ein Mythos. Die Seeleute sprechen von einem blutrünstigen Seeungeheuer, dass unsterblich ist. Am Schrecklisten erscheint Ismael seine Farbe, so reflektiert er über das Weiß verschiedenster Tiere und Albinos. Leichenfarbe ist eines der Worte, die Melville benutzt:
Zitat von Melville
„In mehr als einer Beziehung wird das Unheimliche dieser Farbe auch durch Urerlebnisse der Menschheit bezeugt. Zweifellos ist es beim Anblick eines Toten vor allem dessen marmorne Blässe, vor der uns graut, als ob sie, hienieden ein Zeichen der Todesangst, noch über das Grab hinaus Bestürzung bedeutete. Dieser Totenblässe entlehnen wir auch die sprechende Farbe des Leichentuches.“
Die älteste Darstellung eines Wals oder Seeungeheuers, so Melville, schufen die Brahmanen im Grottentempel von Elefanta. Sie behaupten, „auf den fast unabsehbaren Bildwerken dieser uralten Kultstätte sei alles berufliche Tun und Treiben, jedes nur erdenkliche Handwerk und Gewerbe des Menschen vorweggenommen, lange bevor es Wirklichkeit wurde.“ Daher ist dort auch der Walfänger in seinem Tun verewigt.
Hier wird der Wal als halb Mensch, halb Fisch verkörpert.
(Quelle: BibliOdyssey)
… Als Brahma , der Gott der Götter, die wieder einmal aus den Fugen gegangene Welt neu zu erschaffen beschloss, da setzte er Wischnu als Werkmeister ein; doch die Weden, die Bücher des geheimen Wissens, deren Kenntnis offenbar für Wischnu unerlässlich war, ehe er sein Amt antreten konnte, und die daher wohl eine Art Anleitung für künftige Welterbauer enthielten; diese Wedalieder lagen auf dem Grund der Wasser; daher nahm Wischnu die Gestalt des Walfischs an, tauchte als solcher bis auf den Grund der Tiefe und rettete die heiligen Bücher.
(Meville "Moby Dick", S. 602)
Melville spricht aber auch von anderen Gemälden, auf denen die Darstellung des Wals mythisiert und verfehlt ist, darunter der Maler Guido Renis Andromeda (siehe Bild „Perseus und Andromeda“)
„Jedermann kennt die erbauliche Geschichte von Perseus und Andromeda; wie die schöne Königstochter an einen Uferfelsen gefesselt war und der Leviathan bereits Miene machte, sie zu entführen, als Perseus, der Fürst der Walfänger, unerschrocken nahte, das Ungeheuer mit der Harpune erlegte, die Jungfrau errettete und zum Weibe nahm.“
(Melville „Moby Dick“, S. 598)
… oder Hogarths „Perseus und Andromeda“
(Quelle: callmeherman.org)
Auch im Buchdruck und auf Bibeln finden sich eigenartige Schöpfungen, wie die Künstler sich den Wal vorstellen. So bei „Jonas und der Wal“:
(Quelle: eardstapa)
Dagegen gelungen findet Melville die Kupferstiche von Ambroise Louis Garneray:
Garneray "Peche de la Baleine"
(Quelle: blueworldwebmuseum.org)
Garneray „Peche du Cachalot“
(Quelle: newbedcoll)
Von den französischen Malern ist Melville an sich begeistert, stellen sie am besten die großen Schlachten dar, „wo jedes Schwert gleichsam vom Abglanz eines Wetterleuchtens schimmert und die Reihe der waffenstarrenden Kaiser und Könige wie eine Kavalkade gekrönter Kentauren vorübersprengt“. Diese Werke hängen zu Melvilles Zeiten hauptsächlich in Versailles und er findet, dass Garneray mit seinen Seeschlachtbildern dort ebenfalls einen Platz verdient hätte. Hier ein Eindruck eines solchen Werkes aus seiner Hand:
(Quelle: culture.gouv.fr)
Schön ist, dass Melville neben den Fundstätten an Walskeletten und Kunst auch erwähnt, dass ein echter Walfänger den Wal überall entdeckt, so auch in den Sternen oder in Felsformationen. Er erkennt die Umrisse und versucht die Stätten wiederzufinden, was nicht so einfach ist, da sich auch Felsen und Gebirge gleichen.
Nicht nur weiß Melville den Wal ganz und gar zu umkreisen, er zeigt auch, wie ein Wal gefangen, getötet und geschlachtet und schließlich enthauptet wird. Die Lebendigkeit dieser Beschreibungen, der treibende Leichnam, die gierigen Haifische, die ihm von unten Löcher in den Wanst hacken und mit ihren Schwänzen gegen den Schiffsrumpf krachen, das blutige Fett usw. sind unglaublich und sollen sicherlich auch in Frage stellen, was dort geschieht. Moby Dick ist damit nicht nur ein Roman mit einer allein fiktiven Geschichte, sondern ein Erfassen dieses mächtigen Tiers, das die Ozeane durchschwimmt und zu so viel Aberglauben und Geschichten anregte. Hier wird deutlich die Begegnung Mensch - (Un)tier betrachtet, die in Tötung und Schlachten ausartet, eine Masse blutiges Fleisch, aus der der Mensch so wenig gewinnt. Sehr auffällig ist das Schwanken des Erzählers zwischen seiner Bewunderung für das Untier und den Ruf des Walfängers, wobei seine Sympathie für Letzteren dem Anschein nach überwiegt, da er das Tun verteidigt, hauptsächlich aber, weil Ismael selbst ein Suchender und Zweifler ist. Dennoch reflektiert er darüber, ob der Wal irgendwann vom Aussterben bedroht sein könnte, wie in Amerika das Bison, was ihm aufgrund seines Alters und seinem ewigen Vorkommen unmöglich erscheint.
Die Darstellung des blutigen Leichnams, das Zucken des sterbenden Wals, die Grausamkeit in all diesen Vorgängen, die die Waljagd ausmachen, steht im extremen Gegensatz zu den trockenen Beschreibungen Ismaels und seiner Bewunderung für dieses mächtige, göttliche Tier und den Walfang. Heute wissen wir, wie schnell diese Entwicklung sich bestätigt hat und der Walfang verboten gehört, da die Tiere tatsächlich aussterben und mit schrecklichen Methoden ausgerottet werden. Ismael aber verteidigt ihre Unsterblichkeit metaphysisch, indem er behauptet, sie wären Millionen Jahre alt, noch vor dem Menschen da gewesen und würden die Ozeane auch noch lange nach ihm durchschwimmen, jene Tiefen, die der Mensch nie ganz erfassen wird. An seiner Darstellungsweise zeigt sich bereits, dass der Wal nicht nur ein Tier oder Untier ist, sondern ein Wesen anderer Art, wie es für Ahab von Bedeutung ist und seinen Untergang mit sich bringt, dass über die schlichten Tatsachen hinaus hier ein Ungeheuerliches verborgen liegt. Das Tier selbst und der Tod, den es erleidet, ist schändlich, gerade bei einem Tier, das so wenig hergibt, zumal man auch weiß oder annimmt, dass Wale sehr intelligent sein sollen.
Nun stelle man sich vor, wie diese riesigen Geschöpfe die Ozeane durchschwimmen und wie klein für sie die Erde sein muss. Und dagegen steht der kleine, gefräßige Mensch, der glaubt, sich sogar solcher Riesen zu bemächtigen, alleine, weil er es kann…
Andererseits lässt sich der Wal als Säugetier auch gleichzeitig metaphysisch erfassen, mit der Aussage, dass der kleine Mensch, sobald er versucht, gegen die Natur anzukämpfen, unterlegen ist und sein Leben einbüßt, während die Natur bleibt und den Sieg davon trägt. Der Wal als das Böse, als Natur bzw. das Göttliche ist beständig, der Mensch vergänglich.
Vieles, was zu Melvilles Zeiten noch nicht bewiesen war, fasst er in seinem Werk ins Auge, so z. B. den Blast, den er in Frage stellt, ob er nun eine Wasserfontäne oder reiner Atem ist, wobei er sich für den Atem entscheidet. Mittlerweile ist bewiesen, dass es sich bei dem fontänenartigen Ausguss um Luft handelt, nicht um Wasser, eine Art Nebel, der aus dem Wal schießt. Melville, wenn auch noch auf Schriften und Selbstdeutungen angewiesen, liegt häufig richtig, wenn er den Wal wissenschaftlich untersucht. Seine Umrundung des Wals dient aber auch dazu, Ismael als Erzähler besser hervorzuheben. Dieser schwankt zwischen der Wirklichkeit und biblischen Darstellung des Levianthans. So glaubt er nicht, dass der Wal ein Säugetier ist, sondern hält ihn für einen Fisch.
Was aber ist dieser Wal eigentlich? Melville war auf der Suche nach Gott, was für ihn gleichbedeutend mit der Natur war. Gott ist die Natur, und die Natur ist grausam und gleichgültig. Sie gibt und nimmt Leben, ohne dass der Mensch etwas dagegen tun kann. In diesem Konflikt steckt Ahab, dem Melville den Hass auf diese Gleichgültigkeit einflößt. In Moby Dick versucht er die Natur, die in seinen Augen das Böse darstellt, zu töten, sich an ihr zu rächen, damit an Gott. Das Meer wiederum, das, so der Erzähler Ismael, der eigentlich menschliche Lebensraum ist, somit das Leben repräsentiert, ist gleichsam grausam. Es nimmt ebenso das Leben etlicher Seefahrer und birgt in seinen Tiefen Tod und Verderben. Natur und Leben stehen einander nicht gegenüber, sondern sind eins, und Ahab, der kleine Mensch, will gegen beide ankämpfen, obwohl er das Leben, also das Meer, als einzig wahren Lebensraum für sich anerkennt, immerhin verlässt er für diese Fahrten Frau und Kind. Es zieht ihn auf das Wasser, wo er sich lebendig fühlt, die einzige Möglichkeit, sich so zu fühlen, und sein Kampf gegen die Natur, den Wal, verleiht ihm eine Aufgabe, gegen sein Schicksal anzugehen, vor dem er sich ängstigt. Es ist also der Kampf gegen seine eigenen unbewussten Ängste, die Verletzbarkeit, das Nicht-Liebenkönnen (insbesondere sich selbst als Mensch und dann als Krüppel), schließlich das Sterben selbst. Und je mehr Ahab versucht, gegen all das anzukämpfen, umso mehr muss er daran scheitern und zugrunde gehen, gefesselt an den Wal, der unsterblich bleibt, die Natur, die über alles siegt.
Die tiefsten Erinnerungen bleiben ohne Inschrift…
Ahabs tatsächliche und reale Jagd auf Moby Dick findet gegen Ende des Werkes statt, dann aber mit aller Gewalt. Die Zwischennuancen aber, die Vorbereitung, die Hoffnung, den Wal zu finden, das Schnitzen des Holzbeines und Fertigen der Harpune, die in Blut geschmiedet und gelöscht wird, das Überbord-Gehen und dabei in der Einöde des Meeres den Verstand verlieren am Beispiel des schwarzen Schiffjungen Pip sind von einprägsamer Bildgewalt:
Zitat von Melville, S. 678
Nun bereitet es bei windstillem Wetter dem geübten Schwimmer keinerlei Mühe, sich auf See über Wasser zu halten; man lässt sich einfach tragen. Nicht auszuhalten aber ist die schauerliche Einsamkeit. Die Zusammenballung des Ichgefühls inmitten der herzlosen Unendlichkeit, du lieber Gott, davon macht man sich gar keinen Begriff.
Pip, der den Verstand und damit sich selbst im Meer verliert, repräsentiert die Schwäche, und Ahab, der durch die Begegnung mit dem Wal und seinem verlorenen Bein auf seine Art seines Verstandes beraubt ist, stellt Kraft und Stärke dar, genährt durch seinen Hass; sie sind einander ergänzende Bezugspunkte. Ahab nimmt sich für einen winzigen Augenblick des kleinen Narren an und wäre durch seine Fürsorge für ihn vielleicht zu einer eigenen Genesung fähig. Doch er zieht die Jagd auf sein verhasstes Objekt vor, als hätte er in seinem Hass auf den Wal endlich Gelegenheit, über alle Zweifel und Menschen hinweg hassen zu dürfen. Er genießt seinen Dämon, dem Wunsch nach Rache, und lässt sich ganz und gar von ihm einnehmen.
((c) Jagenholz "Der dem Wahnsinn verfallene Pip und Ahab in der Spiegelung des Weißen Wals")
Auch die Auseinandersetzung zwischen Crew und Kapitän, die Sinnlosigkeit des Ganzen, die Besessenheit, die lieber dem Wal nachjagt, als einem anderen Schiff bei der Suche nach Überlebenden zu helfen und vieles mehr, sind spannend beschrieben, die Jagd aber, die dann drei Tage dauert, ist wahrhaftig der Höhepunkt des gesamten Werkes, einschließlich des sprühend versinkenden Endes.
Zitat von Melville, S. 704
So sind wir in diesem Jammertal von Gott umfangen, und über all der Düsternis strahlt immer noch die Sonne der Gerechtigkeit, als Höhenfeuer und Hoffnung. Senken wir den Blick, so zeigt sich uns das dunkle Tal mit seinen verrotteten Erdreich; blicken wir hingegen empor, kommt uns die strahlende Sonne auf halben Wege entgegen und gibst uns Mut. Und doch, die große Sonne ist nichts Festgefügtes, wenn wir um Mitternacht ihres süßen Trostes bedürfen, sehen wir uns umsonst die Augen aus dem Kopf.
Nach all diesen schlimmen Erfahrungen und dem brennenden Gefühl der Rache, der sich Ahab bewusst war, könnte eine Schlussfolgerung wenigstens für Ismael wichtig sein:
Zitat von Melville, S. 682
Denn jetzt, da ich nach mannigfachen Erfahrungen innegeworden bin, dass der Mensch durchwegs seine Vorstellung vom erreichbaren Glück herabschrauben oder wenigstens verlagern muss, dass er es nicht in erdachten oder erträumten Dingen findet, sondern in Frau und Kind, im Gemüt, im Bett, Tisch, Sattel, Kaminfeuer; im Vaterland…
Denn alles, was sinnloser Hass, Rache und beharrliches Streben nach Größe ist, ist, wie im Eingangszitat bereits dargestellt, Krankheit.
((c) Jagenholz "Moby Dick gegen Ahab - Tag 2 und Tag 3 der Jagd")
Entscheidend beeinflusst war Melville von Shakespeare, den er mochte und ablehnte. Dennoch ist die Suche Ahabs, seine Besessenheit, sein Drang, bis ans Ende zu gehen, auch wenn dafür etliche Leben geopfert werden, gerade in Gestalten Shakespeares zu finden, die von einem ähnlichen Fieber beseelt sind. Deutlich wird das an den im Werk verstreuten Gesprächen und Gedankengängen, die wie ein Theaterdialog oder –Monolog von Melville gestaltet sind. Der, der also in sich gekehrt spricht oder zu anderen, tritt auf eine Art Bühne, seine Bewegung wird wie in einem Stück auch kursiv bekannt gegeben. Er tritt auf…
Kein Wunder also, dass Camus es wohl am besten ins Wort gefasst hat, wenn er über „Moby Dick“ sagt: „Die Bilder, die Gefühle verzehnfachen die Philosophie.“
Ja, zum Schluss kann ich nur sagen, dass mir "Moby Dick" sehr gut gefallen hat und reichlich Stoff zum Nachdenken ermöglichte. Die Gestalten, das Meer, der Wal, die Jagd, die Reflexionen und besonders die Bilder sind beeindruckend gelungen. Melville ist ein großartiger Schriftsteller, von dem ich weitere Werke lesen werde (z. B. "Pierre oder Die Doppeldeutigkeiten", "Mardi", "Maskeraden"...usw.)
Dennoch sollte man sich bei aller Begeisterung gerade diese Worte Melvilles zu Herzen nehmen:
Zitat von Melville, S. 705
Bücher sind ja ganz gut und schön, aber sie geben uns nur Wörter; die Gedanken dazu müssen wir uns schon selbst machen.
Und mit diesen schließe ich.
Liebe Grüße
Taxine
Art & Vibration
RE: Herman Melville
in Die schöne Welt der Bücher 29.07.2012 20:45von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Mardi – oder eine Reise dorthin
(862) „Hört, o Leser! Ich bin ohne Karte gereist. Mit Kompass und Blei hätten wir diese Inseln von Mardi nicht gefunden. Wer kühn in See sticht, kappt alle Taue und wendet sich von der gewöhnlichen Brise ab, die jedermann gewogen ist; und füllt die Segel mit seinem eigenen Atem.“
Was ist Mardi? Ein fiktiver Archipel voller verschiedener Inseln. Auf jeder leben Eingeborene mit anderen Riten und Gesetzen. Mardi ist Melvilles Gesellschaftskritik, getarnt als „eine Reise dorthin“. Seine Eingeborenen sind ebenso eitel und nach Besitz strebend, sind Einsiedler oder Könige, Halbgötter oder Verachtende, wie man sie aus anderen Gesellschaftsformen kennt, gemischt mit tatsächlichen polynesischen Eindrücken, die Melville auf seinen Reisen gesammelt hat. Im Grunde zeigt uns Melville lustige, bunte Bilder, unter denen sich das ernste Gesicht der Hinterfragung verbirgt. Das Zahlungsmittel auf Mardi sind menschliche Zähne und nicht wenige geben für diesen „Gold“ alles andere auf, schleppen riesige Beutel voller Zähne mit sich herum, die man ihnen „weniger entreißen kann als ihre Gliedmaßen“.
Zitat von Melville, S. 863
„Diese neue Welt aber, die hier gesucht wird, ist weitaus fremder als die desjenigen, der seine Schwingen von Palos her ausbreitete. Es ist die Welt des Geistes, in der sich der Fahrende verwunderter umschaut als die Schar Balboas, die durch die goldenen Wälder der Azteken streifte.
Doch schafft glühendes Verlangen seine eigenen phantomhafte Zukunft und hält sie für Gegenwart. (…) Und wenn ich schon Schiffsbruch erleidet, dann, gebt Götter, dass ich ganz und gar zerschelle.“
Der Ich-Erzähler bricht auf einem Walfänger in die Südsee auf. Sein Freund Jarl, ein stämmiger und ihm ergebener Gefährte, flüchtet eines Nachts mit ihm vom Schiff, da der Kapitän eine andere Route einschlagen möchte, die dem Erzähler nicht passt. Es würde ihm weitere Jahre kosten.
In ihrem gestohlenen Boot bereisen sie jetzt das weite Meer, um gen Westen zu gelangen. "Gen Westen" heißt zu Melvilles Zeiten nichts anderes als weg von der Zivilisation, zurück zu den Ursprüngen, hinein in die Wildnis. Der edle Wilde steht dem Stadt- und Gesellschaftsmenschen gegenüber. Kein Wunder, dass Melville später in seinem Gedichtzyklus "Clares" die Frage formuliert:
"Am Boden liegen Ära, Mensch Nation,
Um in Erniedrigung zu schlittern?"
Der Wilde bewegt sich natürlich in seinem Umfeld, der Gesellschaftsmensch wird - eingeengt von Vorschriften, Gesetzen und Wänden - zum Sitzenden, dass sogar naturwissenschaftliche Theorien erfolgten, dass zu viel sitzen den Menschen in den Wahnsinn treiben könnte, stattdessen die Bewegung zu klarem Verstand beiträgt.
Aber genug der Abschweifungen.
Der Ich-Erzähler und Jarl sind also nun alleine miteinander und müssen mit den geklauten Vorräten zurande kommen, darunter das wertvolle Wasser, für dessen Genuss sie einfallsreiche Regeln entwerfen.
Eines Tages treffen sie auf ein größeres und leerwirkendes Schiff. Sie gehen an Bord und versuchen herauszufinden, was geschehen ist. Während Jarl sich noch vor Geräuschen und Geistern fürchtet, stellt sich bald heraus, dass das leere Schiff dennoch zwei Bewohner hat. Zwei Eingeborene, einen Mann und eine Frau, die miteinander im Krieg sind. Beide haben die Plünderung an Bord überlebt und danach den Schatz zwischen sich aufgeteilt, wobei die Frau sich als raffgieriger herausstellt und ihren eigenen Mann bestiehlt, bis zwischen ihnen der Hass aufwallt. Auch dem Erzähler ist das Weib nicht ganz geheuer und als sie die Fahrt auf dem Schiff fortsetzen, gemeinsam die Segel setzen und das Ruder in die Hand nehmen, gibt es immer wieder unangenehme Zwischenfälle von Diebstahl, da die Frau in ihrer Gier auch vor dem Kompass oder dem Logbuch nicht Halt macht. Als ein Sturm wütend und das Schiff fast zum Kentern bringt, wird sie von einem Mast erschlagen und über Bord gespült.
Nun sind sie nur noch zu Dritt, müssen aufgrund der Schäden wieder auf ihr Boot Zuflucht nehmen. Eine Weile fahren sie miteinander und entdecken Land, als sich auf einmal eine andere Schallupe nähert. Darauf ist ein alter Priesterhäuptling mit seinen Söhnen unterwegs, um ihrem Gott ein Opfer zu bringen. Dieses Opfer stellt sich allerdings als menschlich heraus, als eine wunderschöne Frau, in die sich der Erzähler verliebt. Er beschließt, sie zu befreien, und tötet dabei den alten Priester, während ihm die Söhne böse Rache schwören.
Mit der Ankunft auf den ersten Inseln beginnt das Abenteuer. Hier werden sie als weiße Halbgötter begrüßt, der Erzähler verwandelt sich durch den Glauben der Wilden in den lang erwarteten Halbgott Taji. Bald stellt sich allerdings heraus, dass Halbgötter auf Mardi eine Art Massenware sind, fast jeder sich so bezeichnet, der etwas zu sagen hat. Auch König Media fühlt sich als ein Halbgott und lädt die drei Ankömmlinge ein, bei sich zu wohnen. Damit bildet sich eine Freundschaft, die sich durch das Buch hindurch erhält.
Das befreite Mädchen Yillah erzählt ihre Geschichte und noch bevor die Liebe zwischen ihr und Taji wachsen kann, verschwindet sie spurlos. Somit macht sich Taji mit seinen Gefährten und dem König Media, samt eines Chronisten, eines Philosophen und eines Sängers und Poeten auf, sie auf dem gesamten Archipel zu suchen. Diese sind die Sprachrohre Melvilles, durch die Taji in unterschiedliche Reflektionen und Unterhaltungen gedrängt wird. Der junge Poet Yoomy ist das Bildnis des noch unreifen Künstlers und Dichters, der auf der Suche nach seiner Stimme ist. Seine Lieder sind schwärmerisch, kitschig, kurz: Karikaturen einer Dichtung. Der Philosoph Babbalanja ist das Abbild eines zweifelnden und hinterfragenden Geistes, der aufgrund seiner etlichen Überlegungen selbst nicht mehr weiß, wer er ist, daher spaltet er sich häufiger in andere Gestalten, darunter ein Teufel, der ihn „reitet“, durch den er seine abstrusen Theorien vermittelt oder auch seinen Irrsinn offenbart. In ihm verkörpert Melville seine theologischen Zweifel. Der Chronist Mohi wiederum stellt beide beständig in Frage. Er ist auch derjenige, der zu allen Zielen die Geschichte der jeweiligen Insel kennt, die Ankunft in diesem Sinne einleitet und kommentiert.
Hier beginnt also die eigentliche Reise. Von Insel zu Insel treffen sie auf verschiedene Charaktere. Da ist ein König, der eigentlich nicht König sein möchte, da er durch seine Krone seine gesamte Freiheit einbüßt. Auch König Media ist einer jener Könige, dessen Untertanen nicht in schönen Behausungen leben, sondern in stinkenden Höhlen. Feste werden gefeiert, dem Wein gefrönt, andere Könige geladen. Sie alle zeigen ihre Masken und wirklichen Gesichter.
Neben gesellschaftlichen Normen und Dekadenz wird auch viel philosophiert. Über Glauben, Götter, das Schicksal, über den freien Willen, die Versklavung, die Notwendigkeit von einer politischen Führung, über Monarchie, Demokratie, der Freiheit per se… Über den Sinn der Philosophie, Geschichte und Poesie, selbst über Wein, Gesang und Pfeife. Auffallend häufig sind die Zechgelage, die mit zunehmenden Weingenuss in Unsinn und Geschwätz ausufern. Sie wirken wie Ruhepausen des Schriftstellers, der aber, statt zu schweigen, dennoch irgendetwas erzählen muss. Sie wiederholen sich nicht nur, sondern sind auch alle irgendwie gleich und belanglos.
Auch in diesem Werk, ähnlich wie bei "Moby Dick", zeigt sich Melvilles Kampf mit der Frage: Wer oder was ist Gott?
Die Halbgötter auf Mardi sind vielfältig, der oberste Gott aber ist Oro. Oro ist ist in allem, weil er alles ausfüllt. Weil aber so viel Leid geschieht und Oro dies zulässt, ist er nicht alleine gut, sondern auch von böser Natur.
Zitat von Melville, S. 661
„Wenn das absolut wahr ist, ist Oro nicht bloß ein universeller Zuschauer, sondern er erfüllt und besetzt allen Raum; und keinen Wesen oder Ding außer Oro bleibt noch Platz. Daher ist Oro in allem und er ist auch alles – ein Glauben, so alt wie die Zeit. Doch da Böses reichlich vorhanden ist und Oro in allem ist, kann er nicht vollständig gut sein.“
Melville vertritt in "Mardi" die seinem eigentlichen Denken entgegen gerichtete Ansicht, dass Gott und Glaube nicht hinterfragt gehören. Der Mensch muss nicht weiter nach den Mysterien suchen und zufrieden mit dem sein, was er hat, nichts als Liebe kennen.
Zitat von Melville, S. 989
„Liebe ist allumfassend. Je mehr wir lieben umso mehr wissen wir und umgekehrt.“
Der Zwang, glauben zu müssen, bringt hingegen nichts.
Zitat von Melville, S. 890/891
„Selbst auf den heiligen Inseln werden viele unterdrückt; werden viele wegen Ketzerei getötet; und es verhungern Tausende unter den Altären, die sich unter der Last der Opfergaben biegen.“
(…) Doch so ist es, Brüder! die Weisesten sind gegen die Wahrheit aufgebracht wegen derer, die ihr Gewalt antun.“
Die Natur ist grausam, daher ist auch der Mensch grausam. Diese Philosophie kennt man bereits seit Marquis de Sade. Die natürliche Auslese, der Kampf um Nahrung und Revier, die Reduzierung der Anzahl an Leben durch Brot und Spiele, ggf. Krieg. Melville lässt auf seinem Archipel auch zwei Könige miteinander Freundschaft schließen, die um ihr Königreich fürchten und daher „die Spiele“ ins Leben rufen, wo sich ihr Volk selbst aus der Welt schaffen soll, damit es sich nicht so schnell vermehrt und alles mit ihrem Dasein zerstört. Da beide Könige auf eine Pest nicht hoffen können, wird das Sterben mit Spaß und Kampf verbunden. Das Volk fügt sich nicht nur willig, findet sogar Gefallen daran. Auch hier wird mit dem Glauben an das Gute böswillig gegen die Natur gehandelt.
Was darüber steht, ist für Melville doch eindeutig:
„Das Universum ist gänzlich eines Sinnes.“
Wie die Hinterfragung des freien Menschen erfolgt, so wird auch darüber reflektiert, ob die Menschen (die vielgesichtigen Einwohner Mardis) einer Führung bedürfen.
Zitat von Melville, S. 867
„Die Welt dreht sich um das I im Ich; und wir drehen uns um uns selbst, denn wir sind unsere eigenen Welten. (…) Darum sollten wir, gleich wie sie sein mögen, unsere Welten offen zeigen und nicht vor den Menschen verbergen…“
Eine Reise dorthin ist, wie sich am Ende zeigt, eine Reise zu sich selbst.
„Alles, was wir suchen, ist in unseren Herzen…“
Wer hier sucht, wird finden. Wer zu dieser Erkenntnis gelangt, wird Frieden finden. So z. B. der Philosoph Babbalanja, der durch seinen neu gefundenen Glauben endlich seine Zweifel überwindet, so der König Media, der anhand der Erfahrung von Glaube und Liebe erkennt, dass auch er ein guter König für sein Volk sein muss. Allerdings trifft er bei seiner Rückkehr auf rebellierende Untertanen, die ihn stürzen wollen. Deutlich kann man hier Melvilles Auffassung herauslesen. Er ist für Demokratie, verehrt aber manche Würde eines Königs. Wenn dieser, seiner Meinung nach, seinem Volk Gutes tut, ist er würdig, es zu regieren. An der Welt aber hat sich häufig gezeigt, dass Chaos herrscht und selbst Erkenntnisse nicht immer mit der Wirklichkeit übereinstimmen. Manchmal, das wäre eine andere Deutung, kommen Erkenntnisse auch zu spät, wie bei König Media und seinem Volk. Zu viel ist schon geschehen, die Dinge sind nicht mehr aufzuhalten in ihrem verheerenden Lauf.
Auch Yillah erweist sich schließlich als Phantom, dem der Erzähler nachjagt. Er ist der Einzige, der von allen Suchenden scheitert. Er setzt seine Reise fort, verlässt Mardi und verschwindet im Unbekannten. Er ist immer noch ruhelos und hat aus den vielen Erkenntnissen, Erfahrungen und Eindrücken nichts gelernt. Er landet in seinem eigenen Abgrund, stirbt oder lebt weiter, was in diesem Fall das Gleiche ist.
Alles in allem war der Roman trotz vieler Perlen doch auch etwas langatmig. Man benötigt viel Luft und Zeit, um ihn zu lesen. Viele Hinweise auf andere Werke, darunter Shakespeare, Robert Burton, Platon usw. sind nicht immer gleich zu erkennen. So wurde eine Situation erst durch das Lesen von „Pierre oder die Doppeldeutigkeiten“ für mich sichtbar. Im letzten Kapitel wird Haji aufgefordert, nach Perlen zu tauchen, um Yillah habhaft zu werden. Er kehrt mit leeren Händen an die Wasseroberfläche zurück. Erst durch „Pierre“ und Shakespeare ist ein Zusammenhang erkennbar, denn die Perle steht für die Liebe und ihre Abgründe.
In „Pierre“ heißt es:
„Die Liebe blicket zehn Millionen Faden in die Tiefe, bis sie geblendet ist von perlenübersäten Grund.“
Noch lässt sich nicht eindeutig der Abgrund entdecken, der Schmerz, der gleichfalls durch Liebe erzeugt wird, während sie immer in Freude beginnt. Erst die Quelle macht ihn sichtbar.
Melville bezieht sich auf Shakespeares „Tempest“:
„Fünf Faden tief liegt Vater dein
Sein Gebein wird zu Korallen;
Perlen sind die Augen sein…“
Dass Haji keine Perle findet, bedeutet einerseits die Liebe zu Yillah, andererseits könnte man auch deuten, dass Haji nicht wahrhaben möchte, dass Yillah tot ist. Er lebt lieber weiter seine Illusion, während man um ihn herum tausende funkelnde Perlen aus den Tiefen des Meeres heraufholt.
Der Roman ist also durchaus schwierig zu deuten, dabei auch häufig surreal, ermöglicht ein Dahintreiben in exotischen Bildern und vielen philosophischen Theorien und Ansichten über Welt, Mensch, Sein und Gottglaube. Er ist Dichtung und Wahrheit, voller Metapher, Episoden, Hinterfragung und wenig Ereignis. Jede Insel offenbart eine andere Seite des Menschen, jede Ankunft weist bereits auf die Erfolglosigkeit, Yillah zu finden, hin. Melvilles Frauen sind reine Musen-Geschöpfe, und sollten sie sich einer Wirklichkeit nähern, dann sind sie charakterlich eher so, wie die Eingeborene am Anfang des Romans, die raffgierig alles stiehlt, was glänzt und leuchtet.
So fahren und fahren seine männlichen Protagonisten und kommen doch nicht an. Das aber ist die Aussage, dass irgendwann die Erkenntnis des Weges und dem Gelernten alles ist, was wir haben.
Mir hat der Roman sehr gut gefallen, und für alle, die ihn nicht lesen werden, bleiben die Perlen:
* „Selbst unsere Instinkte sind Vorurteile…“
* „Im Hinblick auf das Universum ist der Mensch nur ein Ausschnitt…“
* „Wir reklamieren Ewigkeit für unser Leben; und sind doch schon oft von unseren sterblichen Stunden gelangweilt.“
* „Wir sind mit Wundern so eingedeckt, dass wir sie gar nicht mehr für Wunder halten.“
* „Halten wir uns also mit nutzlosen Spekulationen zurück! Man braucht uns nicht zu sagen, was Recht ist; wir sind mit dem ganzen Gesetz im Herzen auf die Welt gekommen.“
* „Der erste Mensch dachte schon wie wir.“
* „Alles, was wir entdecken, hat uns schon begleitet, seit die Sonne zu rollen begann…“
* „Der Wirklichkeitssinn ist ein sturer Despot, der sich meistens durchsetzt. Er prüft und genehmigt Dinge, die gar nichts mit ihm zu tun haben.“
* „Stück für Stück, nein, Atom auf Atom wurde sie aufgeschichtet. Diese Welt ist aus Winzigkeiten gemacht.“
* „Die gesamte Autobiographie Mardis besteht aus einem Ausrufezeichen.“
!
Liebe Grüße
tAxine
Art & Vibration
Wie konnte ich diesen Ordner nur übersehen.
Danke, Taxinchen, denn inwischen ist Melville, bei mir, zu einen meiner absoluten Lieblingsschriftsteller geworden. Nicht nur wegen des Moby und des Bartleby, sondern auch wegen seiner vielen kleinen und doch so großen Menschen, die als unvergessliche Gestalten durch seine unvergänglichen Werke ziehen. Und sein Moby Dick, der wird noch so lange munter durch die Meere schwimmen, bis an jenem Tag da diese Welt nicht mehr sein wird.
Und dabei weiß ich schon jetzt, den Moby Dick, den werde ich schon bald wieder lesen...
Und für alle Freunde dieses wohl schon heilig weißen Wales, dann hier diese schon fast einzigartige Seite:
http://ismaels.wordpress.com/bucherliste/
RE: Herman Melville
in Die schöne Welt der Bücher 27.01.2013 21:22von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Ich habe sie alle verschlungen, seine Werke. Selbst "Maskeraden". Selbst "Pierre und die Doppeldeutigkeiten". Letzteres war mehr als anstrengend.
Apropos:
Herman Melville
Pierre oder Die Doppeldeutigkeiten
… dass all die großen Bücher dieser Welt nur die verstümmelten vorausgeworfenen Schatten unsichtbarer, auf ewig körperloser Bilder in der Seele sind; so dass sie nur die Spiegel sind, die uns unser Ureigenes verzerrt widerspiegeln; und wie immer auch der Spiegel beschaffen sein mag, wenn wir das Ding sehen wollen, müssen wir das Ding selber anschauen, nicht den Spiegel.
Was für ein Roman. Für den Leser in jeglicher Hinsicht eher ein Kampf als ein Vergnügen, wenn er auch dennoch glänzende, ja beeindruckende Passagen enthält, weshalb ich auch nicht von Melville lassen kann. Sein Geist, seine Gedanken, sein Trotz, gegen Meinungen und Vorschriften anzuschreiben, ist das, was mich in all seinen Werken beeindruckt.
Nicht umsonst ist „Pierre“ eines der umstrittensten Werke Melvilles, in dem man kaum seine Stimme wiedererkennt. Stattdessen findet man sich in ein mächtiges Durcheinander äußerst unausgewogen zusammengebauter Abschnitte geworfen, die in ihrer Schönheit und Erhabenheit dem sinnlosen schwülstigen Geschwätz und den häufig langatmigen Passagen gegenüberstehen.
Natürlich ist der Kenner Melville’scher Werke von ihm gewohnt, dass er zwischen seine Kapitel gerne philosophische Hinterfragungen oder enzyklopädische Belehrungen einfließen lässt (und wie haben sie mir in "Moby Dick" gefallen). Was sie nun aber in diesem Werk so unsortiert zu suchen haben, ist nicht ganz nachvollziehbar.
Tatsächlich steht immer wieder die unlösbare Frage vor Augen: was hat Melville nun mit diesem Roman tatsächlich zeigen wollen? Wollte er Hamlet modernisieren? Die Tugend ironisieren oder gar hervorheben? Wollte er eine Liebe zwischen Geschwistern der Aufopferungsbereitschaft Christus gegenüberstellen oder einfach nur zeigen, dass eine Entscheidung für einen Menschen automatisch eine Entscheidung gegen einen anderen oder gar sich selbst bedeutet?
Und dann diese Sprache, das Durcheinander … Leicht kann es passieren, dass auf einmal, nach Lust und Laune des Autors, neue Personen eingeführt werden, die im vorangegangenen Geschehen nicht ein einziges Mal aufgetaucht sind, obwohl sie doch zur Geschichte gehören und nun dem Anschein nach diese voranbringen sollen, oder dass dem Protagonisten nach etlichen Seiten auf einmal ein Talent zugesprochen wird, dass in seiner Vorgeschichte an ausführlicher Beschreibung von Kindheit, Jugend und Erwachsenwerden kein einziges Mal Erwähnung fand, nun aber, als eine Art Rückblick, vorausgesetzt wird, um wieder einmal die Geschichte voranzukatapultieren. Dazwischen werden Orte wachgerufen, die einfach nur genial beschrieben sind.
Wie also soll sich der gutwillige Leser hier noch ein Bild machen können? Hin und her gerissen von diesem Chaos an Buchstaben? Von seiner Sympathie für diesen herrlichen Schriftsteller und solch einem abtrünnigen Werk? Wenn man bei Melville auch bei „Pierre“ das Meer sucht, so nur in diesem Auf und Ab, in diesen Wogen an wunderschönen philosophischen Gedanken und Beschreibungen voller Spannung und Feinheit und dem ganzen dazwischen gestreuten Blabla seiner Figuren, das nicht nur unnötig, sondern auch anstrengend zu lesen ist. An einigen Stellen fragt sich der Leser dann nicht ganz umsonst, ob er das Buch nicht doch lieber zuklappen sollte und, ich bin mir sicher, einige haben und werden es auch tun. So ist dieses Werk zwar mächtig, aber doch nur geeignet für wahre Melville-Fans.
Worum geht es also…
Pierre Glendinning ist der liebevolle, aufmerksame, fügsame Sohn von Mary Glendinning. Er entstammt einer reichen und bekannten Familie, lebt in einer leichtfüßigen, idealen Welt und vertritt auch eindeutig idealistische Ansichten, die weltfremd gegenüber der Wirklichkeit stehen. Das, was später in einem Pamphlet des Gurus zu lesen ist, zeigt, wie sehr Pierre in vielerlei Hinsicht keine richtige Vorstellung von der Welt hat, denn nach dem Guru ist das Göttliche und Menschliche unterschiedlich und als andere Zeit zu deuten, so dass der Mensch nach Menschlichem streben und handeln sollte, nicht nach Göttlichem. Himmel und Erde sind zwei verschiedene Orte und lediglich Idealvorstellung, will der Mensch nach dem Himmel streben, ist er himmelgemacht, demnach ein Engel, sehnt er sich nach dem Schmutz, ist er aus diesem geboren.
Niemand hält in Wirklichkeit die andere Wange hin, darum ist das Beharren auf Sündenlosigkeit, auf Ideale, die nicht umsetzbar sind, nutzlos und unmöglich. Es wäre lediglich Heuchelei. Und das ist das, was man allgemein Frömmigkeit nennt. Dem gegenüber steht all das, was Pierre schon bald umsetzen wird. Er versucht, das Handeln über das Denken zu stellen.
Pierre liebt Lucy Tartan, eine wunderschöne, junge Frau. Ihre beiden Väter waren einst befreundet, bevor sie starben. Auch die Mutter von Lucy ist interessiert daran, dass beide sich vermählen. An dieser Stelle hat Melville Zeit, über die Liebe zu reflektieren:
Der Mensch, den Sorgen niederdrücken, kann nicht lieben; der Trübsinnige kann Gott nicht finden.
Alles verläuft bestens, bis Pierre eines Tages dem „Antlitz“ begegnet. Eine junge, ärmlich und schlicht gekleidete Frau fällt mit einem „delphischen Schrei“ in Ohnmacht. Ihr Schrei und ihr Gesicht gehen ihn von da an nicht mehr aus dem Kopf, bringen seine heile Welt ins Wanken. Ein Geheimnis umgibt die Frau, ebenso das, was ihn dabei so aufwühlt.
Bald schon klärt sich alles auf, allerdings nur, wenn der Leser dieser eigenartig verqueren Welt Melvilles viel Freiheit und Großmütigkeit zu gestattet. Pierre erhält einen Brief, in dem ihm niemand anderes als seine Schwester Isabel schreibt, sie sei ebenfalls ein Kind seines Vaters, allerdings von einer anderen Frau. Sie stellt sich dann auch als das „Antlitz“ heraus.
Pierre trifft sich mit ihr, erfährt einiges über seinen hochverehrten Vater (der viele Züge von Melvilles eigenem Vater trägt und auch wie dieser an Fieber und Fieberwahn stirbt) und dessen Verfehlungen, vergleicht die Züge Isabels mit einem geheimen Porträt, das er von seinem Vater besitzt und das ihn jung und ganz anders darstellt, als das bekannte, das seine Mutter besitzt, schließt daraus, dass Isabel tatsächlich seine illegitime Tochter sein muss, erinnert sich auch, dass der Vater im Fieberwahn von einer Tochter gesprochen hat, und schwört sich nun, aus Liebe zu seiner neuen Schwester, sein ganzes Leben zu ändern.
Da seine Mutter diese Frau niemals akzeptieren würde, da sie ansonsten erfahren müsste, dass ihr verstorbener Ehemann noch eine andere Frau geliebt und sogar eine Tochter mit ihr gezeugt hat, beschließt Pierre in seinem Idealismus zu handeln und so zu tun, als hätte er seine Schwester geheiratet. So kann er sich öffentlich mit ihr zeigen, ohne dass die Menschen wissen, in welchem wahren Verhältnis sie zueinander stehen. Dafür löst er die Verlobung mit Lucy, die ihm immer noch alles bedeutet, die er aber für das Glück seiner Schwester opfert und ins Unglück stürzt. Isabel, die dunkelhaarige und schwarzäugige Schönheit steht der reinen blonden und blauäugigen gegenüber und wird dieser vorgezogen. Die Tugend und Reinheit bleibt sich selbst überlassen, während Pierre sich dem dunklen Geheimnis Isabels überlässt und annimmt. Möglich, dass man diese Entscheidung als Metapher deuten kann, als das Abweichen vom Wege. Er erklärt auch seiner Mutter, er hätte gegen ihren Willen ein armes Mädchen geheiratet. Ist all das vollbracht, zieht er mit Isabel nach New York, eine ihnen beiden fremde Stadt, nimmt auch ein ehrlos gewordenes Mädchen mit, und wohnt dort als Mann und Frau, um sich als Schriftsteller zu verdienen.
Soweit, so gut. Das Problem an dieser ganzen Geschichte ist nicht so sehr ihre eigenartige Entwicklung als die seltsame Eigenart Melvilles, Schwester und Bruder über endlose Seiten hinweg in derartig schwülstige Liebesgespräche geraten zu lassen, dass der Leser diesem Geplänkel schnell überdrüssig wird. Noch absurder aber ist die Entscheidung Pierres, alles hinter sich zu lassen, mit den Frauen in eine fremde Stadt aufzubrechen und dort ein Leben als Schriftsteller zu führen, auf das er sich nicht nur urplötzlich neu besinnt, sondern es schon von vorneherein lebte, wie uns Melville etwas leichtherzig mitteilt, als hätte er Pierre nicht längst näher betrachtet und dessen Entwicklung ins Wort gefasst.
Fast wirkt es wie jene Menschen, die keine Witze erzählen können und den Ablauf der Geschichte durcheinanderbringen und ständig vergessen, was erzählt werden muss, bis es ihnen einfällt und sie es nachträglich in ihren Witz einbauen, wodurch sich der Witz dann völlig verliert. Melville erklärt, dass er schreibt, wie er möchte, dass ihm die normalen Romanablaufbedingungen im Grunde egal sind. Daher traut er sich und dem Leser auch zu, Pierre, einen doch eher eitlen, jungen, sorglosen Burschen, auf einmal in einen Schriftsteller zu verwandeln, der bereits in seiner Jugend (zuvor allerdings mit keinem Wort erwähnt) Erfolge feierte.
Bekannt ist, dass Melville in „Pierre“ seine eigenen Erfahrungen beim mühseligen Verfassen und Beenden seines Romans „Moby Dick“ verarbeitete. In damaligen Rezeptionen sprach man von einem Verrückten, einem Wahnsinnigen, der sich an seinem verflixt siebten Roman die Zähne ausgebissen hätte.
Tatsächlich war Melville zu diesem Zeitpunkt sehr frustriert und kämpfte mit Geld- und Eheproblemen. Das Einfügen seiner Schimpferei auf die Literatur- und Kritikerwelt wäre auch nicht so schlimm und liest sich hervorragend, wenn dadurch die gesamte Geschichte des jungen Pierres nicht in eine völlig abwegige und falsche Richtung kippen würde. Hätte Melville beispielsweise zwei Romane daraus gemacht, wäre die Figur und der Weg, den sie geht, wesentlich glaubwürdiger. Hätte er am Anfang seines Buches bereits angedeutet, dass Pierre Interesse an der Schriftstellerei hat, so wäre die spätere Passage nicht so eigensinnig und auffällig. So aber kracht sie irgendwie viel zu lärmend mitten in das Geschehen, wobei zuvor die Fahrt in die Stadt, in dieser wackelnden Kutsche, noch so grandios erzählt wurde, die dann durch die plötzliche Wendung zum "Leben eines Schriftstellers" unangebracht unterbrochen wird.
Dabei muss man wirklich betonen, dass diese Reise in die Stadt samt ihrem überraschenden Ausgang von Melville wunderbar spannend gestaltet wurde. Hier erreicht er dostojewskijsche Größe an engen, dunklen Straßen, Ängstlichkeit und bitteren Enttäuschungen. Nach dem vorangegangen Liebesschwulst – Meine Schwester – mein Bruder, wie sehr verehre ich dich und du mich… usw. – will man natürlich unbedingt wissen, wie sich dieses Einleben der beiden Frauen an der Seite Pierres gestaltet. Er, der sich auf seinen Cousin Glen verlassen hat, wird bitter enttäuscht und muss nun irgendwo unterkommen. Der Leser, bereits häufiger durch Geduld geübt, freut sich daran, zu erfahren, wie Pierre das in die Wege leitet. Aber Melville sieht gar nicht ein, hier näher auf das von ihm so gut aufgebaute Eintreffen in der Stadt weiter einzugehen, nein, er widmet sich ganz den Kümmernissen und Plagen des neu geborenen Pierres als Schriftsteller, wobei Pierre dann auch immer wieder im Gedankengut des Erzählers verschwindet.
Und dennoch… die ganzen philosophischen Betrachtungen, die man von Melville ja grundsätzlich als jene Abweichungen gewohnt ist, die auch durchaus gerne einmal eine Geschichte für die Erörterung von „Sein und Nichtsein“ ganz und gar unterbrechen, sind einfach nur herrlich zu lesen.
So muss man dieses ganze eigenwillige (nicht umsonst umstrittene) Werk einfach wie einen riesigen Patchworkteppich lesen, aus dem man sich die wertvollen Gedanken herausgreift und dann wieder dankbar ist, wenn es mit der Geschichte des wandelbaren Pierres weitergeht. Bruchstückhaft setzt sich der Roman also zusammen, mit ausgedehnten Beschreibungen, noch ausführlicheren Betrachtungen, häufig langatmigen und unnötigen Gesprächen, die nur noch einmal beinhalten, was längst gesagt wurde und auch vom Leser durchaus schon verstanden war. Auch weicht der Roman ganz und gar von Melvilles anderen Werken ab, nicht nur im Inhalt, sondern auch in der Atmosphäre.
„Pierre“ ist also kein Werk, dass angenehm zu lesen wäre oder den Leser nicht häufiger in die Überlegung treibt, es einfach zur Seite zu lesen. Liest man dann weiter, müht sich über bestimmte langweilige Passagen, wird man andererseits auch belohnt. So zeigt sich, dass genauso doppeldeutig, wie der Roman in vielen Ecken und Kanten ist, auch der Genuss des Lesens seine Wirkung zeigt. Doppeldeutig gut und schlecht ist das Werk „Pierre“. Doppeldeutig spannend und langweilig bis zum Abwinken. Doppeldeutig mit schönen Figuren ausgestattet, die ihr Gesicht dann so plötzlich wechseln, dass sie unglaubhaft werden.
Der Roman ist also nicht umsonst mit dem Untertitel „Die Doppeldeutigkeiten“ versehen. Die englische Bezeichnung von „ambiguity“ spiegelt aber auch Vielschichtigkeit und die Gegenüberstellung subjektiver und objektiver Wahrnehmung wider. All das findet sich zu Genüge im Roman. Alles ist vielschichtig, und wenn auch die Geschichte hin und wieder an dieser Doppeldeutigkeit zu scheitern droht und sich verschlechtert, so kann man nicht sagen, Melville hätte seine Hintergedanken nicht ganz in seiner Eigenart zu Papier gebracht. Dieser Roman verhalf ihm zu keinem Erfolg, kostete ihn aber auch nicht das, was er schon erreicht hatte, da danach Erzählungen wie „Bartleby“ oder der Roman „Maskeraden“ folgten.
(Vielleicht ist es auch sinnvoll, Melvilles Werke im Original zu lesen, da er ein Meister neuer Sprachschöpfungen ist, die ins Deutsche kaum zu übertragen sind.)
Liebe Grüße
Taxine
Art & Vibration