HirngespinsteAustausch zwischen Literatur und Kunst |
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Hermann Ungar
Die Verstümmelten
„Alles, weil sie Geld wollen, alle Geld, wozu das viele Geld!“
„Wir sind kleine Leute, dachte er. Wir müssen schlechte Kleider tragen, wir müssen! Da kommt alles her. Besser für uns, die guten Kleider zu zerreißen, als sie zu tragen, dachte er.“
Herman oder Hermann - das ist hier die Frage. Und wirklich, hier haben wir es mit einem unglaublich aufwühlenden Roman zu tun, von einem Autor, von dem schon Thomas Mann begeistert war, während Stefan Zweig von seinem Schreiben zwar fasziniert, aber auch angewidert blieb. Ich teile in jedem Fall die Ansicht Manns. Der feine Stil, aber besonders der Inhalt des Erzählten sind fesselnd und beeindruckend geschrieben.
Hermann Ungar war Jude und kam in Österreich-Ungarn zur Welt. Er lebte von 1893 bis 1929 und starb in Prag. Nach dem Ersten Weltkrieg, bei dem er sich schwerste Verletzungen zuzog, arbeitete er als Rechtsanwalt und Theaterregisseur. Neben den „Verstümmelten“ schrieb er weitere Werke wie z. B. „Die Klasse“, „Colberts Reise“ und „Knaben und Mörder“.
Seine Sprache ist unglaublich präzise, wie ein Skalpellmesser. „Die Verstümmelten“ zeigen eine äußerst genaue und gleichzeitig knappe Betrachtungsweise, die von äußerlichen Merkmalen lebt, aber dadurch umso tiefer ins Innere drängt. Ungar galt als Einzelgänger und war bei seinem Tod gerade 36 Jahre alt. Ein Blindarmdurchbruch, der zu spät bemerkt wurde, kostete ihn das Leben, heute erschreckend und kaum nachvollziehbar, damals noch gang und gäbe.
„Die Verstümmelten“ – das sind Menschen, nicht allein vordergründig Kranke, die sowohl physisch als auch psychisch angegriffen sind. Aber nicht eine Krankheit selbst ist das, was sie belastet, sondern die Krankheit, existieren zu müssen oder der Umgang mit der eigenen Situation. Einmal ist da Franz Polzer, ein regelrechter Bartleby, kleiner Bankangestellter, Untermieter bei Frau Klara Porges und unfähig, sich gegen die Gewalt des Lebens zur Wehr zu setzen. Er gehört für mich, wie die Figur von Melville, zu einer der faszinierendsten Schöpfungen der Literatur. Polzer fürchtet tatsächlich alles, das Leben, sein eigenes Sein, die Frauen. Als Kind erblickte er seine Tante, die sich ihm nackt zeigte. Seitdem ist etwas in ihm unwiderruflich zerstört.
Als Frau Porges ihm auch noch auf die Pelle rückt, da sie Witwe ist und sich für ihren Untermieter interessiert, bekommt Polzer es ganz und gar mit der Angst zu tun, so dass er, weil er nicht aus der Wohnung fliegen möchte, zum willenlosen Objekt ihrer Begierde und ihres Nicht-Verzeihen-Könnens wird, sich schlagen und ausnutzen lässt, so dass selbst die Freundin von Frau Porges ihn neugierig benutzen möchte. - „Der Körper war ausgebreitet und das üppige Fleisch füllte frech das Bett.(…) Sie riss ihn nieder und zwang ihn zu ihrem gequollenen Fleisch.“ - Klara Porges kann Polzer nicht verzeihen, dass er sie abgelehnt hat, dass er den Kontakt zu ihr die ganzen Tage und Wochen über gemieden hat, bis sie ihn darauf angesprochen hatte und sich alles veränderte. Nun ist Polzer ein unterdrückter Mann, der sich vor seiner Untervermieterin zu Tode fürchtet und von ihrem Fleisch erdrückt fühlt, und das im wahrsten Sinne des Wortes.
Polzer gehört damit sichtbar zu den geistig und psychisch Verstümmelten, während sein Freund Karl Fanta tatsächlich körperlich verstümmelt ist, da ihm die Beine amputiert wurden und sich seine Krankheit weiter über den gesamten Körper ausbreitet. Er wiederum fürchtet seine Ehefrau (auch ihre Liebe und Pflege) und es entspinnt sich zwischen den beiden Gestalten ein eigenartiger Kampf, bei dem der Leser lange nicht weiß, wer nun im Recht und wer im Unrecht ist. Während Fanta behauptet, sie wolle nur sein Geld und hätte heimlich, da er ein Krüppel ist, etliche Geliebte, würde auf seinen Tod warten und ihn auch planen, schiebt seine Frau das auf seinen angeschlagenen Geisteszustand, in dem er, durch seine körperliche Behinderung, alles Mögliche voraussetzt und wittern würde, ihr damit all das nur unterstellt, weil er mit seinem eigenen kranken Zustand nicht mehr zurechtkommt. Beide Argumentationen im Hinblick auf den anderen wirken echt. Dazu quält Fanta seine Frau auf seine Weise, lässt sie sich vor ihm ausziehen, möchte, dass sie ihre Fassung verliert, während sie seine Wunden pflegt.
Verzweifelt wendet sie sich an Polzer, um ihn um Hilfe zu bitten, gleichzeitig tut dies ihr Mann. Damit wenden sie sich ausgerechnet an einen Menschen, der selbst im Leben nicht weiß, wo er steht, geschweige denn etwas tun kann, schafft er es nicht einmal, seine eigenen Verhältnisse zu klären. Stattdessen lässt er sich von einem wohlhabenden Doktor einen neuen Anzug kaufen und glaubt, ganz dem Motto nach, dass Kleider Leute machen, damit mehr Selbstbewusstsein und Ansehen zu erlangen.
Und wirklich nehmen seine Kollegen an, er hätte geerbt oder einen großen Treffer gelandet, obwohl Polzer nach wie vor arm ist. Er wagt nicht, die Situation aufzuklären und findet sich bald in viel größerer Verwirrung wieder, denn der Direktor der Bank befördert ihn auch sogleich. Auf einmal sieht sich Polzer einer großen Verantwortung gegenüber und spürt diese Last, da er gerne ruhig und zurückgezogen lebt, umso schwerer.
„Der Gedanke an die gefahrvolle Unsicherheit des Bereitseins für tausend unerwartete, unberechenbare Zwischenfälle ließ ihn nicht schlafen.“
Würde man nun aus Polzers Mund „I would prefer not to“ hören, der Leser würde sich nicht wundern. Polzer ringt mit sich und schafft es schließlich, den Direktor dazu zu überreden, die Beförderung wieder rückgängig zu machen und alles beim Alten zu belassen.
„Du stehst dir selbst im Weg“, sagt einer seiner Kollegen zu ihm. Polzer gesteht dies ohne Zweifel ein.
Im Gegensatz zu Melvilles Figur werden die inneren Vorgänge Polzers von Ungar sehr offensichtlich ins Bild gesetzt. Bei Bartleby weiß man die ganze Zeit nicht, was in ihm vorgeht, bei Polzer spürt man vor allen Dingen die große Angst, die ihn bewegt, die er auf alles projiziert, um sich davor zu fürchten. Verantwortung, Entscheidungen, die Meinung anderer Menschen, all das bewegt ihn ständig und nimmt ihn dadurch umso mehr mit.
Mit der Übersiedlung des Verstümmelten in das Haus Klara Porges ist es dann mit der Ruhe vorbei. „Der Tod war im Haus und wartete.“ Auch der Pfleger Sonntag, einst Metzger, dann durch den Tod einer Nonne und einen Unfall bekehrt, bringt Unheil ins Haus. Bald sieht sich Polzer Gegebenheiten gegenüber, denen er kaum gewachsen scheint.
Was mir besonders gut gefallen hat, sind das Subtile, die offenen Wendungen, die nicht selten überraschen. Auch wenn Melville seine Figur wesentlich feiner und abstrakter gezeichnet hat, um alleine durch den Nachklang des „Dead Letter Office“ dann noch einmal das Ganze abzurunden, so führt Ungar seinen Polzer nicht weniger geschickt, wenn auch offensichtlicher durch seine eigenen Unzulänglichkeiten, die ihn bald reinreiten. Dieser Charakter ist wahnsinnig gut beschrieben. Als Leser kann man nur staunen, wie sich alles entwickelt. Und jene leisen Vorgänge, die zu all dem führen, sind dagegen ganz großartig nur angedeutet, lassen Freiraum zum Interpretieren und Hinterfragen.
Somit gehört auch der Roman „Die Verstümmelten“ zu jenen, die unbedingt im Regal des Literaturliebhabers stehen sollten. Ich zumindest bin froh darum.
Liebe Grüße
Taxine
Art & Vibration
„I would prefer not to“
Also ich sage dann: Ich möchte lieder doch! Soll heißen, auf zu Jokers und AbeBooks und Kombatanten.
Danke für deine interessante und wie immer so bildhafte und bildervolle Rezi, liebes Taxinchen, du bist dann so etwas wie die Göttin der "librischen" Verführung, und sowas alles...
RE: Hermann Ungar
in Die schöne Welt der Bücher 06.01.2013 18:20von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
... und das Ende, Patmos, das Ende ... es wird dich umhauen oder dich in tiefste Verwirrung über das "Was ist geschehen?" stürzen.
Art & Vibration
Mach mich doch jetzt nicht wuschig, Frau, mach mich jetzt nur nicht wuschig, denn siehe hier:
http://www.amazon.de/S%C3%A4mtliche-Werk...46&sr=8-1-fkmr1
eine Werkausgabe! Wenn auch etwas euronisch..., leider steht mein Kontostand derzeit auf: SollGehabtHaben...
Zu Hülf, ihr Götter, zu Hülf...
RE: Hermann Ungar
in Die schöne Welt der Bücher 06.01.2013 18:31von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Dann fang' einfach mit DEM an. Das Cover ist eigenartig, wenn auch interessant, denn eigentlich verhält es sich anders herum. Aber im Grunde herrscht im Roman ja dann doch die Frage vor: wer bestraft hier wen?
Art & Vibration
RE: Hermann Ungar
in Die schöne Welt der Bücher 06.01.2013 18:39von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Gibt nichts Besseres, um jemanden neugierig zu machen. Wenn sie das Buch so liegen sieht, dann wird sie sicher sofort einen Blick hineinwerfen und mit sagenhaft bögig aufgerichteten Augenbrauen die Frage an dich richten: "Was lieste denn da schon wieder, Kerl. Wo ist die Peitsche?"
Und dann wird sie in den Zeilen festhängen und das Buch noch vor dir zu Ende lesen.
Art & Vibration
Zitat von Taxine im Beitrag #7
"Was lieste denn da schon wieder, Kerl. Wo ist die Peitsche?"
Mhhh, nun ja, meine sicheläugige Nachtbarin hat es da mehr mit fest um den Leib gewundenen Knödelteig...
Und vor der Zigerette danach macht sie gern so eine Art von Amboss-Fahnenweihe...
Frauen werden mir immer ein ewiges Rätsel bleiben...
RE: Hermann Ungar
in Die schöne Welt der Bücher 07.01.2013 18:41von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Ob sich von Ungar nun wirklich das Gesamtwerk lohnt, weiß ich nicht. Aber der Roman "Die Klasse" ist ein weiteres Schmuckstück dieses Schriftstellers. "Colberts Reise" ist ein Fragment aus seinem Nachlass, "Knaben und Mörder" sind Erzählungen, genauer Novellen. Ich glaube, Ungar hat dazu auch noch einige Theaterstücke geschrieben. Wie das Wenige dann zu einem solchen Gesamtwerk mutieren kann, ist mir nicht ganz klar.
Egal. Kommen wir zum Wesentlichen. Zu Hermann Ungars
"Die Klasse"
„Der Mensch, sagte man, sei mit Güte und Mitleid begabt; wenn dem so war, waren vierzehnjährige Knaben keine Menschen.“
Der in ärmlichen Verhältnissen lebende Lehrer Josef Blau fühlt sich vor allen Dingen von den satten und wohlhabenden Knaben seiner Klasse bedrängt, die er unterrichten muss. Nie wendet er ihnen den Rücken zu, Zucht muss bei ihm herrschen, denn er ahnt, wenn er die Zügel aus der Hand geben würde, wäre seine Autorität unwiderruflich zerstört. Besonders seine Armut belastet ihn, so dass er unter größten Bemühungen dafür sorgt, gut gekleidet zu erscheinen, dass er so wenigstens hier keine Angriffsfläche bietet.
„Nichts, fühlte Josef Blau, war den Wohlhabenden verächtlicher als Armut. Selbst in ihrem Mitleid lag Überhebung.“
Dieser Minderwertigkeitskomplex reicht auch weit über das eigene Ich hinaus. Blau glaubt ebenso, dass seine Frau Opfer dieser Knaben sein könnte, dass ihre Vorstellungen zu ihrem entblößten Körper gleiten könnten, dass die Jungen nichts anderes zu tun haben, als sich ihn in der Ausübung seiner ehelichen Pflichten vorzustellen.
Den inneren Zersetzungsprozess, diese Zweifel des Lehrers, hat Ungar erschreckend (d.h. großartig) ins Bild gesetzt. Sichtbar war das Interesse des Schriftstellers auf die Armut gelenkt. Rote Hände, statt die feinen weißen der Reichen, sind ein häufiges Symbol seiner Werke, darunter besitzt sie gleichfalls Franz Polzer aus den „Verstümmelten“ und schämt sich ihrer.
Zwischen all den gutsituierten Kindern ist auch ein Knabe, der aus ärmeren Verhältnissen stammt. Diesen fürchtet Blau am meisten, da er die einzige Verbindung zu ihm aufzeigen könnte, was dann in seinen Augen erneut die Autorität kosten könnte. Er es ist, der ihn tagtäglich, alleine durch seine Anwesenheit, verrät. Das sagt natürlich eine Menge über Blau als Lehrer selbst aus, der diejenigen, denen er etwas beibringen soll, als Feinde betrachtet, ängstlich darauf bedacht, keinen Hohn auf sich zu ziehen. So stellt man sich dann jemanden vor, der vorne am Pult bibbert und hofft, keiner der Kinder würde jemals seine tatsächlichen Lebensumstände aufdecken, während die Kinder doch mit ihrer ganz eigenen Welt beschäftigt sind und womöglich keinen einzigen Gedanken an ihren von sich selbst so negativ eingenommenen Lehrer verschwenden.
Hier findet also der Prozess eines Wahns statt, der nicht nur durch das zerbrechliche Selbstbewusstsein des Lehrers gespeist ist, sondern auch durch seine äußeren Bedrängnisse, der gleichzeitig nicht damit klarkommt, dass diese Knaben bald zu Männern heranreifen. Er fürchtet ihre Stärke. Er möchte, dass sie ewig Kinder bleiben, dass er sie damit unter Kontrolle hat und über sie seine autoritären Gebärden stärken kann. Unter anderem vermisst er auch die mittlerweile verbotene Maßnahme, die Schüler schlagen zu dürfen.
„Die Züchtigung hätte den Schülern ihre körperliche Unterworfenheit unter die Macht des Lehrers augenfällig gemacht.“
Darum fürchtet er auch nichts so sehr, als das Erwachsenwerden dieser Kinder. Selbst das voneinander Abschreiben bezieht er auf sich und sieht es als persönliche Beleidigung an.
Und wieder einmal hat es Ungar äußerst treffend ins Bild gesetzt, als ein Meister der Darstellung äußerer Bedingungen, die die inneren Emotionen verdeutlichen:
„Die Starre und Unbeweglichkeit war nur über den Bänken, unter der Oberfläche war Bewegung und Anarchie. Unter den Bänken hatte sein Blick keine Gewalt.“
Überhaupt musste ich erneut darüber staunen, wie Ungar es jedes Mal schafft, seinen Figuren diese inneren Abgründe einzuverleiben, die das Stolpern in der Welt vorprogrammieren. Paranoia, Verfolgungswahn und das immer völlig verfehlte Interpretieren von Situationen sind seinen Figuren mitgegeben. Der Leser kann nur verwundert den Kopf schütteln, wie sehr sich diese Typen (die mich ein bisschen an Emmanuel Boves Figuren erinnern) immer mehr in etwas hineinsteigern, das so gar nicht existiert. Vergleiche mit Karl Fanta aus „Die Verstümmelten“ sind naheliegend, der die Machenschaften seiner Frau, dann bald all derer, die ihn umgeben, immer paranoider hinterfragt, so dass der Leser nicht weiß, woran er ist und was er überhaupt glauben soll. Auch Josef Blau verläuft sich in seinen Interpretationen und Verzerrungen der Wahrheit, so dass das, was in ihm aufsteigt, bedrohlich wird, nicht nur für ihn, sondern für jeden Menschen in seinem Umfeld.
Zitat von Ungar
„Die Bilder waren nicht zu vertreiben, wie er sie auch verjagen wollte, da er wusste, dass das Gedachte in der Welt war und ein Fluch werden konnte und dass man solche Gedanken ausstreichen musste, wie man böse Träume nicht erzählte, dass das Böse nicht in der Welt sei und eintreffe nach dem alten Glauben, der der Ahnung von dunklen Zusammenhängen entsprach.“
„Wenn alles vorherbestimmt wäre, man hätte sorglos sein können. Wenn es ein Schicksal gegeben hätte, ein unausweichliches vorbereitetes Schicksal, dem man verfallen war, man hätte nichts tun und sprechen können als das Bestimmte und hätte es leichten Herzens getan. Aber es lag kein Schritt und kein Wort, unausweichlich und vorbereitet, für einen da. Es war nicht so, dass man nur diesen Schritt tun, nur dieses Wort sprechen konnte, und mit jedem Wort, mit jedem Schritt das Schicksal erfüllte, das diesen folgte. Man wählte den Schritt und das Wort aus vielen. Man übertrat ein hartes, unbekanntes Gesetz, das über einem war, und taumelte in sein Schicksal.“
Das nicht vorhandene Schicksal, das Blau unweigerlich auf sich zieht, sieht so aus: Seine Frau Selma ist schwanger. Sie leben gemeinsam mit der tauben Mutter in einer kleinen Wohnung, bis sie ein Bekannter, Onkel Bobek, aufsucht und Blau dazu überredet, für einen Wechsel einzustehen und für ihn zu bürgen. Leihen will Bobek das Geld von einem Freund, daher sieht er auch keine Gefahr auf sich oder die kleine Familie zukommen, bis man dessen Absichten erkennt.
Eine andere Gefahr lauert im Auftritt von Blaus Konkurrenten, den von allen Schülern geliebten Lehrer Leopold. Dieser ist zu freundlich, zu aufmerksam und betritt bald auch das Haus Blaus, rückt damit in die Nähe seiner Frau Selma, was Blau gar nicht verträgt und bald zu immensen Konflikten führt.
Neben den feinen detaillierten, gleichzeitig auf den Punkt gebrachten Beschreibungen, die dem Leser ermöglichen, über das Äußere das Innere wahrzunehmen, spielt auch die Erotik und das Makabre bei Ungar immer wieder eine wichtige Rolle, Andeutungen, die er großartig miteinander vermengt. Die Leiber seiner Frauen, das Hässliche oder Gelbe des Alters, die Kümmerlichkeit seiner männlichen Figuren, das vordergründig ins Bild gesetzte Fleisch sind in dieser Form einmalig in der Literatur und machen es dem Leser einfach, sich all das bildlich vorzustellen.
Eine sagenhaft gute, wenn auch stark an Dostojewskis Smerdjakow erinnernde Figur ist bei Ungar der Diener Modlizki, der die Reichen hasst und verachtet, sich alleine zum Dienen bereitfindet. Genauer heißt das, er möchte sich als Gegenstand der eigenen Selbsterniedrigung verstanden fühlen, so dass er sich sogar Meinungen oder Anteilnahme versagt. Wer von ihm erwartet, ein Klavierspiel zu beurteilen, zu dem er sich als Beiwohnender gesellen muss, ohne es aus eigenem Willen zu wünschen, muss damit rechnen, dass Modlizki sein wahres Gesicht zeigt. Als Josef Blau ihn fragt, ob er z. B. mit seinem Herrn Ping-Pong spielen würde, sagt Modlizki so treffend:
„Ich spiele nicht. Herr Rat benützen mich als Gegenüber.“
Auch seine Einstellung zur Religion ist äußerst interessant. So glaubt er, dass der Ausspruch: „Die Armen kommen immer in den Himmel“ eine böswillige Taktik der Reichen ist, um den Armen mundtot zu machen. Die Aussage soll trösten, damit der Reiche den Armen weiter unterdrücken kann, da er, so der Aberglaube, nicht ins Himmelreich eingehen wird, sich dieses höchstens erkaufen möchte. Dass lässt den Armen wenigstens auf ein Später hoffen, während er sich zugrunde richtet. Zudem ist ein Armer, der nach der Bibel auch die andere Wange hinhält, viel einfacher zu steuern und zu unterdrücken, als würde er sich gegen die Ungerechtigkeit auflehnen. Die Vorstellung einer Belohnung nach dem Sterben hält nach Modlizki den Reichen und den Armen in der Waage seiner Position.
In seinen Worten und Handlungen gleicht Modlizki also Smerdjakow aus den „Brüdern Karamasow“. Während dieser tatsächlich die Tat beging, steuert Modlizki alles durch seinen Hass, bis es, ausgeführt durch den Ratschlag Modlizkis und die Tat Blaus, zu einem Unglück kommt, durch das Blau einen Blutsturz erleidet und zu einem fanatischen Weltbild gelangt. Er glaubt, dass Gedanken Ereignisse auslösen und das eine Aktion unweigerlich mit etlichen anderen zusammenhängt, wie auch der Mensch mit etlichen anderen Menschen verbunden ist, was eine Kettenreaktion bewirkt, die weder vorhersehbar noch aufzuhalten ist. Gedanken locken das Böse, so könnte man es zusammenfassen.
„… was blieb dem, der erkannt hatte, wie alles, was man tat, Verantwortung auflud, Schuld, wie jedes Wort, jeder Gedanke weiterging, unaufhaltsam, und zerstören konnte und töten.“
Als Blau durch den Vorfall „Laub“ dann zusammenbricht, verfolgt er seine Ansicht rigoros und weigert sich, überhaupt wieder etwas zu denken. Er lenkt sich vom Denken mit Multiplikationsaufgaben ab, was für alle Beteiligten nach Wahnsinn oder geistiger Verwirrung aussieht. Hier zeigt Ungar auf, wohin Aberglaube, in dem immer auch Gottes-Furcht mitschwingt, führen kann.
Hermann Ungar hat die Armut bis in ihre weitesten Winkel erforscht und dargestellt. Seine Figuren schämen sich ihrer Armut und versuchen, wie Josef Blau, diese so gut es geht zu verbergen und zu übertünchen, bis sie ihre eigene Paranoia fast das Leben kostet. Dass Armut keine Schande ist und schon gar nicht denjenigen kompromittiert, der arm ist, das haben die Figuren Ungars nicht begriffen und leiden daran, dass für den Leser auf diese Weise ein wunderbares und dramatisches Stück Literatur daraus hervorgeht.
Liebe Grüße
Taxine
Art & Vibration
Zu "Die Verstümmelten"
Zitat von Taxine
Als Kind erblickte er seine Tante, die sich ihm nackt zeigte. Seitdem ist etwas in ihm unwiderruflich zerstört.
Als Frau Porges ihm auch noch auf die Pelle rückt, da sie Witwe ist und sich für ihren Untermieter interessiert, bekommt Polzer es ganz und gar mit der Angst zu tun, so dass er, weil er nicht aus der Wohnung fliegen möchte, zum willenlosen Objekt ihrer Begierde und ihres Nicht-Verzeihen-Könnens wird, sich schlagen und ausnutzen lässt, so dass selbst die Freundin von Frau Porges ihn neugierig benutzen möchte. - „Der Körper war ausgebreitet und das üppige Fleisch füllte frech das Bett.(…) Sie riss ihn nieder und zwang ihn zu ihrem gequollenen Fleisch.“ - Klara Porges kann Polzer nicht verzeihen, dass er sie abgelehnt hat, dass er den Kontakt zu ihr die ganzen Tage und Wochen über gemieden hat, bis sie ihn darauf angesprochen hatte und sich alles veränderte. Nun ist Polzer ein unterdrückter Mann, der sich vor seiner Untervermieterin zu Tode fürchtet und von ihrem Fleisch erdrückt fühlt, und das im wahrsten Sinne des Wortes.
Offenbar geht es hier um sexuellen Missbrauch. Interessant, dass Ungar dieses Thema damals schon bearbeitete. Es ist auch ein Thema von Joyce Carol Oates, die in mehreren Romanen, besonders in "Die unsichtbaren Narben", sehr beeindruckend darüber geschrieben hat. Der Roman von Ungar scheint immer noch aktuell zu sein, obwohl der Autor leider ziemlich vergessen ist.
Übrigens habe ich eine Gesamtausgabe von Hermann Ungar, erschien damals 1989 beim Paul Zsolnay Verlag, herausgegeben von dem großen Literaturkenner Jürgen Serke, der auch das das Werk "Die verbrannten Dichter" geschaffen hat. Die Reihe, in der das Buch erschienen ist, heißt "Bücher der Böhmischen Dörfer".
Nach dieser Rezension, werte Taxine, wird mich der Autor noch beschäftigen. Ich beginne mal mit "Knaben und Mörder".
Liebe Grüße
mArtinus
„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
Hermann Ungar: Knaben und Mörder
Zwei Erzählungen
I. „Ein Mann und eine Magd“
Eine Ich-Erzählung. Der Protagonist ist ohne elterliche Fürsorge aufgewachsen und verbrachte seine Jungend in einem Siechenhause. Auch wenn er dort als einziger Knabe zu Arbeiten ausgenutzt wurde, fühlte er sich aufgrund seiner dortigenAufgaben als ein „notwendiges, wenn nicht bedeutendes Glied der Gesellschaft. In der Schule dagegen wurde er, weil seine Mutter ihm in Stich gelassen hatte, nur verhöhnt und verachtet. Im Siechenhaus fühlte er sich zur Magd Stasinka hingezogen. Ohne weiteres können wie sie als für den Jungen gewünschten Mutterersatzes sehen. Und hier wiederholt sich das Trauma des Verlustes seiner Mutter. Einen zärtlichen Annäherungsversuch wehrt die Magd ab.
Jahre später. Mit vierzehn Jahren verlässt der Junge das Siechenhaus, will sich mit Arbeit durch das Leben schlagen. Vor allem will er viel Geld verdienen und Stasinka beeindrucken, reist sogar nach Amerika und kehrt als reicher Herr zurück. Stasinka lässt sich von seinem Reichtum überhaupt nicht beeindrucken. Ihr Leben ist voll von Demut, eine Gehorchende, eine Fromme, die nur ihre Arbeit tut. Es bleibt dabei, Reichtum hat für sie keine Bedeutung. Stumm und völlig uninteressiert begleitet sie unseren Protagonisten auf seiner zweiten Amerikareise. Weil sie ihn zurückweist, will er sich an der Magd rächen und verkauft sie an ein Rotlicht – Etablissement.
Obwohl er reich geworden, ist er ein glückloser Mensch geworden, der, was Menschlkeit betrfft, arm geblieben ist. Hier dürfen wir an den Beginn der Geschichte anknüpfen. Von seinen Eltern hat er auch keine menschliche Wärme bekommen. Ungar zeigt aber auch, dass ein Mensch mit seinem Kindheitsschicksal sich auch ganz anders entwickeln kann. Gerade dieser Umstand verleiht der Geschichte Größe und hebt sie weg von banaler Schwarz – Weiß – Malerei eine ungünstige Erziehung müsse unbedingt auch ein ungünstiges Menschenschicksal hervorbringen. Die erotische Passagen dieser Erzählung waren zur Zeit der Enstehung, 1920, sicher außergewöhnlich und mutig, heute allerdings nichts besonderes.
Hermann Ungars intensive bildhafte Beschreibungen haben mir sehr gefallen.
Die zweite Erzählung heißt: "Geschichte eines Mordes". Darüber berichte ich noch.
Liebe Grüße
mArtinus
„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
RE: Hermann Ungar
in Die schöne Welt der Bücher 08.01.2013 15:46von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Hehe ... lese ich auch gerade. Ungar gehört einmal wieder zu den Autoren, die ich am Stück lesen kann, ohne Abwechslung zu benötigen.
Welche Sachen von ihm sind in deiner Gesamtausgabe, Martinus?
In den "Verstümmelten" geht es zwar um sexuellen Mißbrauch und Gewalt, aber es geht viel tiefer, ist viel extremer dargestellt, als dass man es oberflächlich rein psychologisch erörtern könnte. Es ist, tatsächlich, - anders kann man es nicht sagen -, literarischer. Viel extremer ist die Figur Franz Polzer selbst, ein Unikum, darum auch an Bartleby von Melville erinnernd, der sich machtlos dem Ganzen nicht entziehen kann, weil er auch in sich selbst gefangen ist und seine Angst einfach von stärkeren Menschen benutzt und ausgebeutet wird.
Art & Vibration
Hallo,
der Inhalt meiner Gesamtausgabe (s.o.)
Der rote General. Ein Schauspiel; Knaben und Mörder; Die Verstümmelten; Die Ermordung des Hauptmanns Hanika (Die Tragödie einer Ehe); Die Klasse; Die Gartenlaube. Komödie in drei Akten; Colberts Reise. Erzählungen; Nachwort von Jürgen Serke
Die Gedichte sind leider nicht drin.
Liebe Grüße
Martinus
„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
II. "Geschichte eines Mordes"
Die Geschichte beginnt mit der Überlegung, wo das sog. Böse zu orten sei. Der Protagonist weiß nicht, ob seine Abneigung gegen bucklige Menschen die Folge von seiner Abneigung gegen den buckligen Friseur der Stadt ist., oder ob es sich anders Verhalt, seine Abneigung gegen den Friseur seine Abneigung gegen Bucklige bestätigt. Sein Widerwillen gegen alles Schwache und mit Makel Gezeichnete ist nur ein Spiegel seiner selbst. Er, unser Protagonist, der Soldat werden wollte, aber da er zu kränklich und schwach ist, wurde er aus der Kadettenschule schnell wieder gefeuert.
Psychologisch gesehen schreibt Hermann Ungar über eine Form des Abwehrmechanismus, der „Verschieben“ genannt wird. Sein Selbsthass verschiebt sich auf den Friseur, außerdem auch auf Tiere, die er sadistisch quält. Es sei bemerkt, auch der Protagonist, der, obwohl er nie Soldat war, „Soldat“ genannt wird, war wie auch der Protagonist der vorangegangenen Erzählung in seinen Knabenjahren nie von Liebe umgeben. In den beiden Erzählungen, die Ungar unter dem Titel „Knaben und Mörder“ veröffentlicht hat, geht es immer darum, wie sadistisch ein Mensch werden kann, der ohne ohne Liebe aufgewachsen ist. Der Vater des sog. „Soldaten“ in unserer zweiten Erzählung, wird als „General“ verspottet. Er ist Militätarzt gewesen, aber niemals General. Unehrenhaft aus dem Dienst entlassen. Der Spott, der vom buckligen Fiseur eingeleitet wird, wird sehr subtil beschrieben und psychologisch meisterhaft ausgeleuchtet. Schließlich wird der Vater von vielen Menschen der Stadt als „General“ subtil verspottet. Der ehemalige Militärarzt kann sich dagegen wehren. Es ist wohl nicht übertrieben, wenn wir mit heutigem Vokabular sagen, der Vater wurde gemobbt. Sein Sohn, der sog. „Soldat“, will seinem Vater Würde zurückgeben. Er schafft es aber nicht.
Die beiden Erzählungen sind heute immer noch aktuell. Hermann Ungar hat ein großes Gespür für menschliche Verhaltensmuster.
Liebe Grüße
mArtinus
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