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Hallo,
Thomas Hardy (1840 - 1928) ist ein Romancier meines Geschmacks
Thomas Hardy: Am grünen Rand der Welt (1874)
Schon auf den ersten Seiten habe ich das Gefühl, einen großartigen Erzähler vor mir zu haben. Der Mensch in der Natur. Hardy lässt viel Raum für Naturbeschreibungen und für die Charakterisierung des Protagonisten. Damals, als dieser Roman entstand, im Jahre 1874, galt es schon als etwas besonderes, wenn Menschen „die Zeit an den Sternen und an Sonne und Mond ablesen“ (Kap.XV) können. Nach Kap. XV galt Oak als sehr gebildet. Dieses Einssein mit der Natur, was bei Oak noch vorhanden ist, gilt nicht mehr für selbstverständlich. Der Farmer Gabriel Oak, von dem der Roman handelt, besitzt eine Uhr, die älter ist als sein Großvater. Minuten lassen sich noch ablesen, aber es war nicht sicher, zu welcher Stunde sie gehörten. Also schaute er in den Himmel. Zur Sonne und den Sternen. Der Himmel, d.h. der Kosmos wird als ein zusammenhängendes Gebilde betrachtet, es heißt
Zitat von Hardy
das Funkeln all der Sterne schien wie der Rhythmus eines einzigen Körpers, im Takt eines allumfassenden Pulsschlags
(Kap.II).
In einem fiktiven Landstrich, den Thomas Hardy „Wessex“ nennt, dort in der Ortschaft Norcombe besitzt der Farmer Gabriel Oak eine kleine Schaffarm. Er ist 28 Jahre alt und Junggeselle.
Es mutet schon wie ein Märchen an. Das Mädchen Bathsheba Everderne kümmert sich um die Kühe ihrer Tante. Die Kühe grasen auf Gabriel Oaks Weide. Das Mädchen verliert eines Nachts ihren Hut, den Oak findet und ihr wieder zurückgibt. Die zweite Begegnung ist noch märchenhafter. Oak hat in seiner Hütte fasst das Bewusstsein verloren, weil die Luftzufuhr in dem Raum verhindert war und wacht im Schoß von Bathsheba auf. Sie hat ihm wohl das Leben gerettet, und er verliebt sich in sie. Es geht ziemlich schnell, wie ihm Märchen. Der 28 jährige Bauer möchte Bathscheba heiraten. Darum geht er zu ihrer Tante, und bittet Bathsheba sprechen zu dürfen. Die Tante sagt, Bathsheba habe schon Verehrer, deswegen Oak keine Chance mehr sieht, das Mädchen zu bekommen Er geht wieder. Batheba läuft Oak aber nach, was für ihn bedeutet, sie wolle ihn heiraten. Warum sollte sie ihm sonst hinterherlaufen? Bathscheba lehnt aber eine Heirat ab, weil sie ihn nicht liebe und sich nicht binden wolle. Sie sei ihm nur nachgelaufen, weil die Tante fälschlicher Weise ihr einige Verehrer angehängt hatte. Sie wollte nur richtigstellen, dass das nicht stimmt. Gabriel Oak fühlt sich an der Nase herumgeführt. Der Leser bekommt den Eindruck, er sei beleidigt. Als ob er schon alles Menschenmögliche versucht hat, sie umzustimmen, sagt Oak am Ende des vierten Kapitels, er werde sie nicht mehr fragen.
Durch eine tragischen Zwischenfall verliert er seine Schafherde und gerät in Armut. Als er sich mit diesem Schicksal arrangiert hatte, ist er froh, dass er keine Frau hat, wie sollte sie auch diese Armut ertragen. In Kap. VI heißt es:
Zitat von Hardy
Hof und Herde waren dahin, aber er hatte zu einer Gelassenheit gefunden, die er vorher nicht gekannt hatte, und dazu jenen Abstand zu den Wechselfällen des Schicksals, der zum festen Grund für menschliche Größe wird, wenn er den Betreffenden nicht, wie das oft geschieht, auf schlimme Wege bringt. So war Gabriel in seiner Erniedrigung erhöht worden, und sein Verlust wurde zum Gewinn.
(Kap. VI).
Trotz dieser Gelassenheit hat er aber Bathsheba nicht vergessen. Er hat mitbekommen, dass sie nicht mehr bei ihrer Tante lebt, sondern in Weatherbury. Seine Suche nach Arbeit führt ihn durchaus gewollt an diesem Ort. Bathsheba ist dort, weil ihr Onkel gestorben ist, zu einer Farmersfrau aufgestiegen und Oak wird ihr Untertan, wird Schäfer ihres Betriebes. Bathshebas Verhalten ihm gegenüber ist sehr kühl. Thomas Hardy erläutert das so:
Zitat von Hardy
Wenn Zeus und seine Familie in den Schriften der späteren Dichter plötzlich aus ihrer engen Behausung auf dem Gipfel des Olymp in den weiten Himmel darüber erhoben werden, wird auch ihre Rede entsprechend arroganter und distanzierter.
(Kap. X).
Trotz des tragischen, ernsten Inhaltes zeigt sich Thomas Hardy auch von der humoristischen Seite. So gibt es ein Gespräch zwischen Männern in einer Mälzerei, heute Kneipe, in dem einer über den anderen herzieht. Leicht spöttelnd, schmunzelerregend.
Amüsant ist auch, wie der junge Cain Ball, der auf der Farm Unterschäfer werden soll, zu seinem Namen gekommen ist:
Zitat von Hardy
Seine arme Mutter war keine besonders bibelfeste Frau und hat sich bei der Taufe geirrt. Sie hat geglaubt, es sei der Abel gewesen, der den Kain getötet hat, und darum hat sie den Jungen Cain genannt, obwohl sie den Abel gemeint hat.
(Kap. X).
Was Bathshebas Beziehung zum Farmer Boldwood betrifft, so gilt sie als leichtfertig, unernst und unreif. Aus purem Spaß schickt sie Boldwood eine Valentinskarte, die mit einem Siegel versehen ist, auf dem „HEIRATE MICH“ steht. Bathsheba denkt sich nichts dabei, für den Farmer ist es aber ein Auslöser, dass er sich für sie interessiert und ihr einen Antrag macht, der von Bathsheba abgelehnt wird.
Über Bathsheba heißt es:
sie
Zitat von Hardy
wußte einigermaßen, wie sich Liebe äußerst; aber von dem, was Liebe bewirkt, hatte sie keine Ahnung
(Kap. XIII)
Thomas Hardy ist ein feiner psychologisch tiefsinniger Beobachter. Darin zeichnet sich der Roman aus. Sehr sorgfältig bildet er Charaktere und lässt den Leser in innerpsychische Vorgänge blicken.
Bathshebas Gespaltenheit in ihrer Beziehung zu Boldwood kommt in der ersten Begegnung mit dem Farmer sehr schön zum Ausdruck, und zeigt auch, dass Bathsheba mit der Liebe verantwortungslos herumspielt:
Zitat von Hardy
„Ich habe mich nicht in Euch verliebt, Mr. Boldwood – das muß ich offen aussprechen.“ Zum ersten Mal erlaubte sie sich ein winziges Lächeln, und in den weißen Zähnen, zusammen mit dem dezidierten Schnitt der Lippen, deutete sich ein Gefühlskälte an, die sofort von der Wärme des Blicks widerlegt wurde.
(Kap. XIX).
Wenn sich Boldwood und Bathsheba erstmals von der Ferne aus betrachten, erzählt Hardy ganz wunderbar, was in den Personen vor sich geht. (XVIII).
Dann taucht Sergeant Frank Troy in Bathshebas Leben auf. Troy macht sie mit Komplimenten völlig kirre (Kap XXVI). Wie herrlich Hardy Dialoge formt, kann der Leser u.a. auch hier genießen. Lebendig, realistisch, unterhaltsam. Doch ist Frank Troy ein Blender. Bathsheba aber lässt sich blenden und verliebt sich in diesem Exentriker. Diese Liebe steht unter keinem guten Stern.
Liebe Grüße
mArtinus
weiteres folgt.....
„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
Gabriel ist der Ruhepol der turbulenten Handlungen und Geschehnisse und ist gleichzeitig Bathshebas vertrauter Freund. Das zeigt sich inbesondere in den Kapiteln um das Gewitter. Francis Troy und die Arbeiter der Farm schlafen ihren Rausch aus, in dieser Nacht aber ein starkes Gewitter die Weizenernte gefährdet. Der einzige der sich um die Gefahr kümmert ist Gabriel Oak und Bathsheba kommt hinzu. Die Kapitel um das Gewitter (Kap. XXXVI – VII) sind vielleicht der Höhepunkt des Romans. Gabriel, der Naturmensch, der die Uhrzeit an den Gestirnen abließt, riecht auch das aufkeinemde , unheilbringende Gewitter und handelt verantwortungsvoll. Hardys Beschreibung des Gewitters finde ich einmalig schön. Desweiteren erfährt der Leser, die Vertrautheit zwischen Gabriel und Bathsheba, welche hier schon einen Grundstein für den Romanschluss legt.
Thomas Hardy ist ein ausgezeichneter Schreiber von Dialogen, denen es an dramaturgischer Spannung nicht fehlt. Zusammengefasst lässt sich sagen, ein Roman, der den Spannungsbogen bis zum Schluss hält. Unterhaltung auf hohem Niveau, damit meine ich, ein hervorragender Schmöker. Hardy ein wunderbarer Erzähler, der sein Handwerk versteht.
Liebe Grüße
mArtinus
„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
RE: Thomas Hardy
in Die schöne Welt der Bücher 23.01.2013 17:00von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Zitat von Martinus
Thomas Hardy ist ein ausgezeichneter Schreiber von Dialogen, denen es an dramaturgischer Spannung nicht fehlt. Zusammengefasst lässt sich sagen, ein Roman, der den Spannungsbogen bis zum Schluss hält. Unterhaltung auf hohem Niveau, damit meine ich, ein hervorragender Schmöker. Hardy ein wunderbarer Erzähler, der sein Handwerk versteht.
Jetzt hast du ihn mir aber mehr als schmackhaft gemacht, Martinus. Hardy wurde schon in einigen von mir gelesenen Büchern hochgelobt. Vielen Dank für deinen Eindruck zu diesem Buch.
Liebe Grüße
Taxine
Art & Vibration
Ja, Hardy ist wirklich klasse. Ich warte schon auf den nächsten Roman: "Der Bürgermeister von Casterbridge"Nach "Bücherwiki" ein "Meisterwerk". Na, denn. Mal sehen.
Zitat von Hardy, Kap. XXXVII
Dieser Blitz war silbrig und zog schimmernd über das Firmament wie ein waffenstarrender Heerwurm.Das Grollen wurde zum Geschepper. Gabriel überblickte aus seiner gehobenen Position das Land auf etwa ein Dutzend Meilen in der Runde. Jede Hecke, Busch und Baum war scharf wie mit einem Gravurstichel herausgearbeitet. Auf einer Koppel in derselben Richtung befand sich eine Herde von Kühen, die nun für einen Augenblick sichtbar wurden, in völliger Auflösung. Schwänze und Hinterhufe oben, die Schädel unten. Eine Pappel im Vordergrund war wie ein Tintenstrich auf poliertem Zinn. Dann verschwand das Bild, und die Finsternis, die es hinterließ, war von so absoluter Pechschwärze, daß Gabriel sich auf das Gefühl in seinen Händen verlassen mußte.
„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
Der Bürgermeister von Casterbridge
Der Roman beginnt, „als das neunzehnte Jahrhundert sein erstes Drittel noch nicht voillendet hatte,“ als kurz bevor das Viktorianische Zeitalter anbricht. Ein junges Ehepaar ist in südenglischer Landschaft auf Wanderschaft, auf dem Weg nach Weyden-Priors, einem größerem Dorf in Upper Wessex. Die Frau trägt ihr Baby in einem Korb, welchen sie vor dem Bauch gebunden hat. Schweigsam gehen sie des Weges. Es sind Michael Henchard, der Heubinder und seine Frau Susan.
In den Beschreibungen zu Beginn des Romans lässt Thomas Hardy Beobachtungen einfließen, die auf die Charaktere der Personen hindeuten. So erzählt er über Michael, „in dem Heben und Aufsetzen der Füße lag auch eine verbissene und zynische, ihm eigentümliche Gleichgültigkeit...“ (Kap. 1). Die Frau dagegen, „hielt ihre Augen meist starr nach vorn gerichtet“ (dto). Das sagt schon vieles. Das Verhältnis zwischen den beiden ist innerlich schon zerbrochen, bevor Michael Henchard im betrunkenen Zustand auf dem Markt von Weyden-Priors seine Frau leichtfertig an einem Seemann verkauft. Im nüchternen Zustand bereut Henchard diese Tat, seine Frau bleibt aber verschwunden. Erst zwanzig Jahre später taucht sie mit ihrer Tochter Elisabeth-Jane in Casterbridge auf, dem Ort, an dem Michael Henschard inzwischen Karriere gemacht hat. Er ist Bürgermeister, Getreidelieferant und Friedensrichter, hat alles erreicht, was ein Mensch an Ansehen erreichen kann. Damals, als er seine Frau aus den Augen verlor, schwor er, die nächsten einundzwanzig Jahre( „das sind so viele Jahre, wie ich gelebt habe“, Kap 2) in Abstinenz zu leben. Er trank keinen Alkohol mehr und konzentrierte sich auf seine Karriere. Doch als seine Frau nach 19 Jahren wieder in sein Leben tritt, wird er von seiner Vergangenheit eingeholt, und sein ungehobelter, leichtsinniger Charakter tritt wieder in den Vordergrund. Die einundzwanzig Jahre Abstinenz sind abgesessen, und er beginnt, sich wieder dem Alkohol hinzugeben. Alle seine menschlichen Schwächen, sein übler Charakter zeigt sich wieder, bringt Kummer, Leid und Tod.
In Kapitel 17 verweist Hardy auf ein Zitat des Romantikers Novalis: „Charakter ist Schicksal“, das bedeutet, nach Novalis Ansicht und auch Hardy vetritt in diesem Roman diese These, ist der Mensch seinem Charakter ausgeliefert. Auch Michael Henchard kann seinem Charakter nicht entfliehen. Es gelingt ihm nur einundzwanzig Jahre. Er hat eine Auseinandersetzung mit seinem Assistenten Donald Farfrae, der sich dann selbständig macht und Henchard im Getreidegeschäft zum ernsthaften Konkurrenten wird. Michael Henchard wird von Missgunst getrieben und versucht vergeblich seinen Widersacher in den Konkurs zu jagen. Thomas Hardy kann sicherlich auch deswegen Farfrae nicht in den Niedergang rutschen lassen, weil dieser Getreidelieferant moderne Maschinen benutzt, Farfrae im Roman als Symbolfigur des aufkommenden Industriezeitalters ist.
Zitat von Hardy
Es war ein neumodisches landwirtschaftliches Gerät, Sämaschine genannt, das bis dahin in diesem Teil des Landes in seiner modernen Form unbekannt gewesen war, da hier wie in den Tagen der Heptarchie der ehrwürdige Saatkorb zum Säen benutzt wurde.
(Kap. 24).
Michael Henchard, Vertreter der älteren weniger fortschrittlich eingestellten Generation muss auch aus diesem Grunde ins Verderben stürzen.Über die vielgestaltigen zwischenmenschlichen Kontroversen und Probleme Henchards lasse sich der Leser des Romans überraschen und mitreißen.
Interessant finde ich Hardy's Konsumkritik:
Zitat von Hardy
Denn nichts ist heimtückischer als das Wecken von Wünschen aus einer bloßen Laune heraus, sowie von Bedürfnissen aus bloßen Wünschen.
(Kap. 15).
Dazu gibt Hardy ein eindrucksvolles Beispiel, was ich als Falle des Konsums bezeichnen möchte:
Henchard schenkt Elisabeth-Jane ein Schachtel zartfarbener Handschuhe. Elisabeth hatte aber keinen passenden Hut dafür und kaufte sich einen. Dann musste sie sich auch noch ein Kleid kaufen und einen passenden Sonnenschirm. All das nur wegen ein paar Handschuhen.
Auch mit diesem Roman hat mich Thomas Hardy fesseln können. Sehr bildhaft beschreibt er Landschaft, Häuser, Charaktere. Der Leser bekommt einen Eindruck davon, wie Menschen damals gelebt haben. Die Handlung ist mitreißend.
Liebe Grüße
mArtinus
„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
Tess
Im Unterschied zu früher entstandenen Romanen wie „Am grünen Rand der Welt“ oder „Der Bürgermeister von Casterbridge“ trumpft Thomas Hardy in diesem seinem berühmtesten Roman noch ein mal auf, was die Beschreibung innerseelische Vorgänge betrifft und die Beschreibung landwirtschaftlicher Betriebe. Wie im „Bürgermeister von Casterbridge“ spielt die zunehmende Industrialisierung eine große Rolle.
Tess wächst als Tochter armer Landarbeiter auf, der Vater ständig betrunken, erfährt, dass sie Nachkommen der adligen Familie der "D'Urbervilles" sind und erhofft sich daraus Vorteile. Die Familie steht nämlich vor dem wirtschaftlichen Ruin, und Tess wird zur aangeblig adligen Mrs. Mrs. d'Urberville nach Tantridge geschickt, um dort Arbeit aufzunehmen, und macht Bekanntschaft mit ihrem Sohn Alec, der sie verführt und unehelich schändet. Diese Schande lastet auf Tess schwer und treibt ihre spätere Ehe mit Angel Clare auseinander.
Alec d'Urberville ist eine zwielichte Gestalt des Romans, außerdem, so stellt es sich heraus, ist er kein Nachkomme des adligen Geschlechts. Er schändet Tess, erlebt eine Läuterung als Wanderprediger und begehrt Tess wieder sehr hartnäckig, als sie sich später begegnen. Wie in seinem Roman „Der Bürgermeister von Canterbridge“ vertritt Hardy auch hier die These, dass der Mensch seinen Charakter nicht andern kann. Genau hier setzen die Zweifel von Tess an. Sie glaubt nicht an spirituelle Läuterung von Alec. Mit dem Gedanken ihrer Schändung im Hinterkopf heißt es in Kap.45:
Zitat von Hardy
Je größer der Sünder, desto größer der Heilige- es war nicht nötig, sich tief in die Geschichte des Christentums zu begeben, um dies zu entdecken.
(Kap.45)
Hardy bezieht sich auf die große Sünde, die Alec ihr angetan hat, und verbindet sie mit einer allgemeinen Kritik des Christentums. Im Kapitel 47 heißt es:
Zitat von Hardy
Sie und Ihresgleihen, ihr frönt sittsam eurem Vergnügen auf Erden, indem ihr das Leben von meinesgleichen bitter und düster vor Kummer und Sorgen macht; und dann, wenn ihr genug davon habt, ist es eine feine Sache, daran zu denken, euch euer Vergnügen im Himmel zu sichern und euch zu bekehren!
Tess ward von Alec geschwängert. Sie fühlt sich als Ausgestoßene. Ihr Kind stirbt und bekommt auf dem Friedhof nur Platz, wo Trunkenbolde, Ungetaufte und Selbstmörder liegen. Als Angel Clare, Sohn eines Geistlichen, Tess heiratet und von ihrer Schande erfährt, lässt er sie sitzen, verlässt das Land um in Brasilien als Landwirt beruflich weiterzukommen.
Im englischen Original heißt der Roman: "Tess of the d'Urbervilles: A Pure Woman Faithfully Presented". Tess „die Reine“ wird den unreinen Männern ,Alec und Clare, gegenübergestellt. Denn auch Clare, der seine Frau verlässt und versucht eine andere Frau mit nach Brasilien zunehmen, ist in seinem Verhalten eine zwielichte Persönlichkeit. Tess, alleine gelassen, verhält sich weiterhin als Ehefrau und geht Komplimenten aus dem Weg. Um bei den Männern nicht aufzufallen, rasiert sie sich die Augenbrauen ab und zieht mit unansehlicher Kleidung umher, deswegen Hardy sie wohl als „rein“ betrachtet. Sie geht der Sünde aus dem Weg.
Werfen wir abschließend einen Blick auf die zunehmende Industralisierung. In Kap. 47 behandelt Hardy ausführlich die Dampfmaschine, eine dampfbetriebene Dreschmaschine. Da es noch nicht so viele Dreschmaschinen gab, wanderte der Maschinist mit der Maschine von Betrieb zu Betrieb. Hardy beschreibt, wie der Mensch in Abhängigkeit zur Maschine gerät:
Zitat von Hardy
Auch diejenigen auf dem Weizenschober, redeten ein wenig aber alle, die an der Maschine schwitzten, einschließlich Tess, konnten ihre Arbeit nicht durch den Austausch vieler Worte erleichtern. Es war die pausenlose Anspannung bei ihrer Arbeit, die tess auf eine so harte probe stellte und sie schließlich wünschen ließ, sie wäre nie nach Flintecomb-Ath gegangen.
Diejenigen die nicht an der Maschine standen konnten Bier oder Tee trinken, sich im Klatsch austauschen, sich den Schweiß abwischen, doch für Tess an der Maschine war das nicht möglich, für sie gab es keine Atempause.
Clare ist der Prototyp eines Karrieristen, der allerdings Opfer der zunehmenden Industrialisierung. In Brasilien ist er krank geworden und kehrt heim, abgemagert bis zum Knochengerüst.
Das Lesepublikum hat es Hardy übel genommen, dass die geschändete Frau als „rein“ bezeichnet wird. Das lief den viktorianischen Vorstellungen konträr. Und dann rächt sie sich auch noch. Im Nachwort der dtv- Ausgabe heißt es, im Vorabdruck in Literaturzeitschriften wurden einige Stellen, die als zu gewagt galten gestrichen. Die Verführung durch Alec wurde in eine Scheinhochzeit verwandelt. Tess' Schwangerschaft und die Geburt des Sohnes fielen der Zensur zum Opfer u. a.m. Dorothee Birke vermutet im Nachwort ein Zähneknirschen Thomas Hardys, was die Änderungen betrifft. Im Nachwort heißt es:
Zitat von Dorothee Birke
„Große Literatur, so schreibt Hardy, könne nur entstehen, wenn es möglich sei, sich über die engen Moralvorstellungen der Hauptleserschaft dieser Instutionen hinwegzusetzen und gerade das Verhältnis zwischen den Geschlechtern ohne Prüderie und ohne den Blick durch eine rosarote Brille darzustellen.“
Liebe Grüße
Martinus
„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
Thomas Hardy: Herzen in Aufruhr
Dies ist der letzte Roman von Thomas Hardy. Danach hörte er auf Romane zu schreiben und widmete sich Gedichten. Hardy musste viel Kritik einstecken. Viele Menschen aus seiner Zeit ging Thomas Hardy zu weit. Er rüttelte an den Moralvorstellungen der Viktorianischen Epoche und hielt keinen Blatt vor dem Mund. Er sprach das aus, was viele nicht zu sagen wagten aber dachten. Er hielt nichts von der Scheinmoral seiner Zeitgenossen und stellt ganz lapidar die Institution der Ehe in Frage, genauer gesagt, er hielt nichts vom Sakrament der Ehe.
Der Schulmeister Phillotson eröffnet seinem Freund Gillingham dass er seine Frau Sue wieder freigegeben hat, weil er erkennt, sie gehöre zu Juda Fawley. „Es ist ,als wären sie ein und derselbe Mensch, in zwei gespalten.“ Phillotson sieht nicht ein,
Zitat von Thomas Hardy
daß man, bloß weil man eine Frau in die Kirche geführt und ihr einen Ring an den Finger gesteckt hat, in so eine fortdauernde, tägliche Tragödie verwickelt werden könnte, wie es ihr und mir geschehen ist.
Für seine Zeit war Thomas Hardy sehr radikal. Gillingham vertritt die Moral seiner Zeit und kann Phillotsons Ansichten nicht teilen:
Zitat von Thomas Hardy
Aber wenn sie die Menschen so verhielten, wie du dich verhalten willst, so würde eine allgemeine Auflösung des bürgerlichen Lebens die Folge sein.
Es geht um den Eros. Er lässt sich nicht binden, nicht fesseln. Der Mensch ist in Freiheit geboren. Wenn er sich zwingt, sich der bürgerlichen Moral zu unterwerfen, so verursacht das Leid, wie uns in diesem Roman vor Augen geführt wird. Der Eros lässt sich auch nicht fesseln, nur weil jemand ein Ansinnen hat, keusch leben zu wollen, wie Juda Fawley, der seinem Lehrer nacheifert und neben einer Steinmetzerlehre alte Sprachen büffelt, damit er in Christminster Theologie studieren kann.
Zitat von Thomas Hardy
...vielleicht könnte er sogar Bischof werden, wenn er sich eines reinen, tatkräftigen, christlichen Lebenswandels befleißigte.
Juda Fawley träumt von seiner Zukunft. Unmittelbar darauf lernt er Arabella kennen, die er überstürzt heiratet, diese Frau ihn von seinen edlen Träumen abbringt. Allerdings lässt sie ihn sitzen und reist alleine nach Australien. Juda, wieder allein, ist aber verheiratet und begegnet in Christminster seine Cousine Sue Bridehead, in die er sich verliebt. Juda ist ins Trudeln gekommen. War gerade noch sein Keuschheitswunsch gewesen, verliebt er sich in Arabella und begeht aus kirchlicher Sicht dann auch noch die Sünde, dass er mit Sue eine intime Beziehung eingehen will, obwohl er noch mit Arabella verheiratet ist. Mit dieser Konstellation führt Hardy die Moralvorstellung seiner Zeitgenossen iad absurdum und setzt krönend Sues leichtfertiges Heiratsversprechen mit Phillotson oben drauf, die Ehe der beiden dann, wie sollte es sonst sein, unglücklich verläuft.
Außerdem ist Juda Fawleys Leben durch deterministische Vorstellungen geprägt.
Zitat von Thomas Hardy
Die Fawleys waren nicht für die Ehe geschaffen
, sagt Judas Tante und spielt damit auf seine Eltern an.
Zitat von Thomas Hardy
Es ist was in unserem Blut, das wehrt sich gegen die Idee, gezwungenermaßen zu tun, was wir freiwillig mit Freuden tun.
Der Roman ist ein frühes Zeugnis emanzipatorischer Vorstellungen. Ist es heute allgemein akzeptiert, dass Paare unverheiratet zusammenleben, galt es damals als schräg und verwerflich. Die heutige Diskussion geht noch weiter, ob Frauen berufliche Karriere machen oder sich dafür entscheiden, ihr Dasein der Kindererziehung zu widmen. Heute kann und sollte sich jeder selbst entscheiden, wie er sein Leben gestaltet, im neunzehnten Jahrhundert wurde alles ins moralische Korsett gezwungen, wogegen Thomas Hardy sich in diesem Roman auflehnt.
Liebe Grüße
Martinus
„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
Zitat von Martinus im Beitrag #5
In Kapitel 17 verweist Hardy auf ein Zitat des Romantikers Novalis: „Charakter ist Schicksal“, das bedeutet, nach Novalis Ansicht und auch Hardy vetritt in diesem Roman diese These, ist der Mensch seinem Charakter ausgeliefert.
Eigentlich ist das von Heraklit (ἦθος ἀνθρώπωι δαίμων).
Liebe Grüße,
Roq
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