HirngespinsteAustausch zwischen Literatur und Kunst |
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Heinrich von Kleist
in Die schöne Welt der Bücher 08.04.2013 18:58von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Eines der schönsten Gedankenspiele Heinrich von Kleists ist sein Essay "Über das Marionettentheater". Dieses Gespräch entfacht beim Leser sofort eine ganze Gedankenflut, die ihn einmal mehr auf sich selbst zurückwirft, ist zeitunabhängig und ewig aktuell.
Kleist hatte eine Nomadenseele, war ständig auf der Suche nach sich selbst und hielt es an keinem Ort lange aus. Er schlug seine Wurzeln nicht in Häuser und Stühle, war nicht bereit, sich in ein Muster pressen, sich Stellungen aufzwingen zu lassen oder einem Kleist-Abbild zu entsprechen, das verfremdet alleine Erwartungen erfüllte. Das machte ihn mitunter zu einer unsteten Seele, der es nicht gelang, zu sich selbst zu finden. Die Kant-Krise, die ihn überfiel, dass die Wahrheit der Dinge nie zutage treten würde, so sehr er auch danach forschte, dass alles, was er erblickte, verfälscht war, spiegelt die Sehnsucht Kleists wider, eine innere Sicherheit finden zu wollen, die ihm letztendlich nur im Tod möglich schien, wo er sich gegen Ende seines Lebens so innerlich wund fühlte, dass ihm, wenn er die Nase zum Fenster hinaushielt, das Tageslicht schmerzte. Dennoch zeugen seine Schriften und Werke von jener Suche.
"Das Paradies ist verriegelt und der Cherub hinter uns; wir müssen die Reise um die Welt machen, und sehen, ob es vielleicht von hinten irgendwo wieder offen ist."
(Heinrich von Kleist "Über das Marionettentheater")
In seinem Essay führt Kleist dem Leser eine Unterhaltung zwischen zwei Menschen vor Augen, die darüber diskutieren, ob eine mechanisch gelenkte Marionette mehr Grazie durch ihre Berechnung und Führung entwickeln könnte als ein lebendiger Tänzer. Der Tänzer bewundert den Schwerpunkt der Marionette an ihren Fäden, träumt davon, eine perfekte Figur zu erschaffen, die jenen göttlichen Funken wiedergeben könnte, der im Tanz erahnt, von Menschen und Tänzern jedoch selten erreicht wird, denn der Mensch ist nicht perfekt und ringt mit seinen geistigen und körperlichen Gebrechen, seinen Selbstzweifeln, seinem Unvermögen, perfekt zu sein.
Das Gespräch führt bis hin zu Beinprothesen, die als Wunder der Mechanik nicht nur den Schritt wieder möglich machen, sondern gar im Kreis ihrer Möglichkeiten einen ganz eigenen Tanz, doch was dem Menschen tatsächlich fehlt, ist etwas ganz anderes, die Einfachheit seiner selbst, nicht um seines Körpers, nicht um seines Tanzes willen, sondern um eine natürliche und schöne Seele bereichert, wie auch der Mensch dankbar zu sein hat, für das, was er ist und kann.
Lukian schrieb:
"Wahrhaftig, guter Charon, du würdest keine Worte finden, das Lächerliche
der eitlen Bestrebungen zu schildern, in welchem die Menschen sich abmühen."
Darauf möchte auch Kleist hinaus. Sein Ich-Erzähler berichtet dem Tänzer die Geschichte eines jungen Narziss‘, der sich in ganz natürlicher Bewegung einen Splitter aus dem Fuß holt, sich in dieser Haltung im Spiegel erblickt und dabei selbst gefällt. Als ihm dann geraten wird, die Haltung zu wiederholen, da er sie nie wieder in gleicher Eleganz erreichen würde, versucht er sich daran und muss einsehen, dass es der Wahrheit entspricht, die natürliche Haltung durch den Versuch ins unnatürliche kippt. Nach einem Jahr hat sich der eitle junge Mensch verändert, hat jede Spur an Lieblichkeit und Fröhlichkeit eingebüßt. Was er aber wirklich verloren hat, darauf will Kleist wohl hinaus, ist seine Selbstsicherheit, sein Vertrauen, und damit das, was jeden Menschen, selbst wenn er nicht perfekt ist, ausmacht, die eigene Persönlichkeit, genauso, wie sie ist, das Natürliche seiner selbst, damit der Einklang zwischen Körper und Geist, Natur und Sein, Mensch und „Gott“. Diese Natürlichkeit ist nicht nachahmbar, nicht durch die perfekte, mechanisch gelenkte Marionette, nicht durch angeeignete Fähigkeiten und neue Strategien, nicht durch Techniken oder Kunstfertigkeiten, nicht durch den Blick in den Spiegel aller Äußerlichkeiten, nicht im Versuch, etwas Gegebenes ständig verbessern zu müssen und damit immer mehr zu verfälschen.
Mit der Erkenntnis, so Kleist, wich die Unschuld. Das, was der Mensch natürlich in sich fühlt, durchwandert nun den Verstand und wird aus seiner Leichtigkeit gerissen, um in verzweigten Labyrinthgedanken den Faden zu verlieren. So soll der Mensch danach streben, seine Unschuld zurückzuerlangen, nicht durch unnatürliche Versuche, sich selbst zu bestimmen, sondern im Loslassen seiner antrainierten Bewegungen als ein natürliches Zurückfallen auf sich selbst, um sich selbst zu spüren und führen zu können wie der Marionettenspieler seine Figuren. Es geht nicht um Vollkommenheit. Es geht alleine um das Mensch-Sein, den in jedem Menschen vorhandenen inneren Buddha zu beleben, denn die meisten leben vor sich hin, wie es Goethe formulierte:
"Wundersam eigen,
Die sich immerfort selbst erzeugen
Und niemals wissen, was sie sind."
(Goethe, Faust II)
Liebe Grüße
Taxine
Art & Vibration
RE: Heinrich von Kleist
in Die schöne Welt der Bücher 09.04.2013 07:26von Jatman1 • 1.188 Beiträge
Sie baute sich auf, wuchs und verwuchs, um dann mit bekannter allumfassender Gesamtheit alles in der Fahrtrinne Stehende niederzuwalzen: Taxines wortgewaltige Philanthropenwalze.
Herzlichen Glückwunsch zu diesem kompakten philosophischen Rundumschlag. Wenn man Dir unbegrenzte Zeit zum Schreiben einräumen würde, wären sicher ALLE Betrachtungswinkel erschöpfend abgearbeitet und fänden sich in deiner 50bändigen Gesamtausgabe wieder.
Wenn man das Jetzt-Deutsch in die Form um 1800 transferieren würde, könnte man solche Texte unbemerkt in Schillers und Goethes Briefwechsel einschmuggeln. Auf dass es niemanden Geiste gar seltsam dünken sollt.
Kleist scheint mir auch einer der Geister, die das Pech hatten schlichtweg verkorkst aufgewachsen zu sein und in seiner Jugendzeit mit hoher Wahrscheinlichkeit zudem noch missbraucht wurde. Und schon haben wir das Trauma. Zu seiner Zeit konnte man es halt nicht so groß „raushängen lassen“, wie es z.B. Kafka dann später fabriziert hat. Das Suhlen im eigenen Elend und es mit Weltenschmerz zu garnieren.
Beide haben es nicht ausgehalten und sind auf eigenen Entschluss früher gegangen. Kleist jedoch mit Grandezza und Stil. Wenn man so was sagen darf.
E.T.A. Hoffmann hat die neuzeitliche Flucht, die Droge, gewählt.
Ich weiß es nicht, aber es könnte sein. Wächst man ohne ernsthafte Irritationen auf und bleibt auch im Alter von massiven Schicksalsschlägen unberührt, hat man die Chance relativ in sich zu ruhen und kommt in der Regel nicht so solch ausgeprägter innerer, wenn auch intellektuell auf hohem Niveau, Zerfressenheit, sondern macht sein Ding.
Für die Außenwelt vielleicht langweilig anmutend (siehe Goethe-Zitat). Aber die inneren Qualen all jener geplagten Geister möchte ich nicht erleiden müssen. Und erst recht nicht, um lediglich ein vermeintlich anregendes Leben geführt zu haben.
Die Kerze, die von zwei Seiten anbrennt. Sie brennt nicht so lange, aber intensiver. Gähn.
Vergessen wird, dass es dann auch doppelt so sehr schmerzt.
Soweit das gar nicht beabsichtigte Plädoyer für ein spießiges langweiliges Leben.
Schon klar. Ich habe mit meinen Zeilen das Thema verfehlt. Warum aber nicht?! Man tu halt was man kann :-)
www.dostojewski.eu
RE: Heinrich von Kleist
in Die schöne Welt der Bücher 09.04.2013 16:58von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Zitat von Jatman1 im Beitrag #2
Kleist scheint mir auch einer der Geister, die das Pech hatten schlichtweg verkorkst aufgewachsen zu sein und in seiner Jugendzeit mit hoher Wahrscheinlichkeit zudem noch missbraucht wurde. Und schon haben wir das Trauma. Zu seiner Zeit konnte man es halt nicht so groß „raushängen lassen“, wie es z.B. Kafka dann später fabriziert hat. Das Suhlen im eigenen Elend und es mit Weltenschmerz zu garnieren.
Beide haben es nicht ausgehalten und sind auf eigenen Entschluss früher gegangen. Kleist jedoch mit Grandezza und Stil. Wenn man so was sagen darf.
Kafka starb an Tuberkulose. Interessant bei ihm wiederum ist die negative Verherrlichung des Todes, in all seinen Schriften, die Sehnsucht nach dem Sarg. Ich glaube, die Welt war ihm allgemein ein großer Sarg. Als er dann tatsächlich krank wurde und wusste, dass er sterben wird, sagte er, er hätte Angst vor dem Tod. Schade, wenn die Erkenntnis so spät kommt, wenn man es sich eben nicht mehr aussuchen kann.
Kleist, Kafka, all die, die so lebten und auch früh starben (ob nun durch sich selbst oder einfach nur jung), die in ihrem „Leben“ verherrlicht werden, konnten es sich natürlich nicht aussuchen, so zu sein, wie sie waren. Bei Kleist gab es auch keine verkorkste Kindheit, sondern nur sehr viel Suche und Zweifel, … Unstetigkeit.
Der elegante Tod samt Abschiedsbriefe ist dann ja auch nur für diejenigen romantisch, die es in Anbetracht der „Kunst“ sehen, des literarischen Lebens. Und ich denke, wenn Kleist nicht Henriette Vogel als Unterstützung gehabt hätte, hätte er den Schritt vielleicht gar nicht gewagt. Vielleicht doch, wer weiß. Er war sehr unglücklich gegen Ende seines Lebens. Aber ich kann mir vorstellen, zu Zweit ist es doch einfacher. Alleine, wie sie da am See ihren bevorstehenden Tod begrüßt und gefeiert haben. Fröhliche Stimmung und dann ... Naja.
Wie du sagst: schön ist so ein Leben nicht, immer nur Kampf, Traurigkeit, Verzweiflung. Wer möchte das schon …
Verrückt sind die, denen es eigentlich gut geht und die, alleine um der "Romantik" willen, so ein Leben anstreben oder sich selbst herunterziehen oder ständig verwildern. Verzweiflung und Kunst gehen nicht Hand in Hand. Auch das ist und bleibt eben ein Klischee.
Art & Vibration
RE: Heinrich von Kleist
in Die schöne Welt der Bücher 09.04.2013 20:46von Jatman1 • 1.188 Beiträge
Hoho. Das kommt dann raus, wenn man Bücher - in diesem Fall Kafkas Biographie - nicht zu Ende liest. Jetzt wo ich Tuberkulose lese, schimmert es ein wenig bei mir. Ich bin eben auch nur Mitglied im Club des leichfertigen Halb, wenn nicht gar Nichtwissens. Sorry.
"wenn man es sich eben nicht mehr aussuchen kann."
Kafka schien eins zu wollen: Leiden. Zwei Drittel habe ich gelesen. Ich kann mich eigentlich garnicht erinnern, dass er al nicht seinem Selbstmitleid ergeben war.
Kleist-Biographie lese ich auch zur Zeit - gelegentlich. Nach dieser Biographie war seine Jugend / Kindheit nicht außergewöhnlich - aber eben unzweifelhaft übel. So der Biograf, der zudem angibt, dass es aus dieser Zeit kaum Fakten gibt und vieles interpretatorisch gehalten ist. Was hast Du für Quellen, die eine gut bekömmliche Jugend wissen lassen?
"wie sie da am See ihren bevorstehenden Tod begrüßt und gefeiert haben. Fröhliche Stimmung und dann ... Naja."
Kann ich mir sehr gut vorstellen. Man muss sich ja nicht immer herzzerreißend nach dem Tode sehnen. Man kann sicherlich auch "einfach" beschließen, dass man auf den irdischen Stress keinen Bock mehr hat und gehen will. Wenn der Entschluss dann wirklich steht, könnte das sicherlich zu etwas Lebensfreude führen. (Wunderschön paradox) und eben einem "Kleistschen Abgang".
Meine Kleist-Biographie ist von Hans Dieter Zimmermann rororo 1991
Es wär ja amüsant, hättest Du die auch gelesen und wärst zu einer anderen Wahrnehmung / Wahrheit gelangt als ich.
Ich bin übrigens (natürlich) über Dostojewski (Brand, Hans Erich; Kleist und Dostojevskij - Extreme Formen der Wirklichkeit als Ausdrucksmittel Religiöser Anschauungen, H. Bouvier & Co Verlag Bonn 1970) auf Kleist gestoßen. Da kam er sehr lebhaft rüber, sodass ich neugierig wurde und die Biografie gekauft habe. Liest sich ein bisschen zäh. Da war der wissenschaftliche Text lebendiger. Achja - und gelesen habe ich Kleist noch garnichts Werde ich wohl auch nicht tun. Scheint zumindets jetzt so.
Gibt es denn online ein wenig Kleist, zur Erweiterung meines knapp geschneiderten Halbwissens?
Ein wenig später.
Habe mir das Marionettentheater durchgelesen. Och nö. Ich brauch Profaneres. So etwas zu lesen begreife ich immer irgendwie als intellektuellen Auftrag. Da stellt sich bei mir keine Freude ein. Und die (schnarch - ich wiederhole mich) will ich haben. Lierarischer Hedonismus - was es aber auch so alles wo geben tut, auf das Erdenrund.
www.dostojewski.eu
RE: Heinrich von Kleist
in Die schöne Welt der Bücher 13.04.2013 20:24von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Zitat von Jatman1 im Beitrag #4
Kleist-Biographie lese ich auch zur Zeit - gelegentlich. Nach dieser Biographie war seine Jugend / Kindheit nicht außergewöhnlich - aber eben unzweifelhaft übel. So der Biograf, der zudem angibt, dass es aus dieser Zeit kaum Fakten gibt und vieles interpretatorisch gehalten ist. Was hast Du für Quellen, die eine gut bekömmliche Jugend wissen lassen?
Ich las vor längerer Zeit die Biografie von Günter Blamberger (die übrigens sehr zu empfehlen ist, überhaupt nicht langweilig und auch mit den vielen "Interpretationen" der Kleist-Forschung aufräumend.) Fakt ist, dass es über Kleists Kindheit und Jugend so gut wie keine Informationen gibt. Blamberger sagt also nicht viel darüber. Ich wüsste daher auch nichts von einer bekömmlichen Kindheit, allerdings auch nicht von einer üblen. Da müsstest du mir dann wiederum etwas auf die Sprünge helfen. Ich weiß nur, dass Kleist mit zehn Jahren beide Eltern verloren hat und gegen seinen Willen zum Militär geschickt wurde, wo er dann irgendwann die Flucht ergriff.
In eine anderen Biografie von Rudolph Genee (schon sehr alt und mehr eine Lobpreisung, wie mir schien) las ich, dass Kleist von seinem Hauslehrer als "nicht zu dämpfender Feuergeist" geschildert wurde, also bereits als Kind exaltiert gewesen sein soll.
Liebe Grüße
Taxine
Art & Vibration
Ja, und Kleist war ganz anders als Kafka ein Weltenbummler. Er hatte für die damalige Zeit unglaubliche Strecken zurückgelegt und kannte die Welt. Aus diesem Umstand entstanden sogar biographische Mutmaßungen, dass er ein Spion gewesen sein soll, wie ich mal in einer Dokumentation sah. Vielleicht verfestigte sich durch diese Kenntnis von der Welt, die zu seiner Zeit von Unruhen und Kriegen gezeichnet war, sein Desillusionismus. Ich glaube auch gar nicht, dass er unglücklich starb, sondern auf dem (gefühlsmäßigen) Höhepunkt seines Lebens. Die Todesstelle hier am Wannsee in Berlin wurde vor kurzer Zeit erst restauriert. Ich mochte vor allem, wie könnte es anders sein, Michael Kohlhaas.
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[i]Poka![/i]