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Hirngespinste

Austausch zwischen Literatur und Kunst

#1

Die Freiheit auf "Unfreiheit"

in An der Gesellschaft/dem Alltag orientierte Gedanken 10.08.2013 09:17
von LX.C • 2.821 Beiträge

"Wenn Freiheit das höchste Gut aller Menschen ist, warum wurde sie dann nicht im Konsens etabliert, sondern mit Gewalt? Wahrscheinlich, weil die Freiheit nie ein absoluter Wert war. Auf jeden Fall kein größerer Wert als soziale Sicherheit und materielle Versorgtheit. […]
Wir halten die Demokratie nicht nur deshalb für die beste politische Ordnung, weil sie Freiheit ermöglicht, sondern auch, weil wir glauben, dass sie Wohlstand und Sicherheit bringt.
Dem Menschen das Recht auf Sicherheit zu rauben ist weitaus grausamer, als ihm das Recht auf Freiheit zu nehmen. Denn jener, den der Genius der Freiheit gerufen hat, der wird die Freiheit im Kampf erringen, sei es im Tod oder im Sieg. Die Sicherheit aber kann man nur als natürliches Recht erhalten.
Daher sind die Verfassungen aller demokratischen Staaten und auch die Erklärung der Menschenrechte ein Kompromiss zwischen dem Recht des Menschen auf Freiheit und seinem Recht auf Sicherheit. […]
Das Streben der sozialen Provinz nach Unfreiheit zeugt nicht von Unfreiheit selbst. Der vielfach und eindeutig ausgesprochene Protest der weißrussischen sozialen Provinz gegen die zahlreichen Versuche, ihr gegen ihren Willen politische, soziale und wirtschaftliche Freiheiten aufzudrängen, zeugt eindeutig davon, dass diese Menschen wissen: Das sind nicht ihre Freiheiten, sie sind für andere bestimmt, und daher können ihnen diese ‚Freiheiten’ für andere gestohlen bleiben.
Ich bin davon überzeugt, dass unsere ‚Provinz’ sich damals nicht irrte und sich auch heute nicht irrt. Es gibt keine abstrakte Freiheit, keine Freiheit für alle. Jede Freiheit ist eine Freiheit für jemanden. Freiheit ist ein so konkretes Ding wie eine Zahnbürste. Jeder hat seine eigene. Ein Maulwurf in seiner Höhle ist nicht weniger frei als eine Schwalbe am Himmel. Lediglich der Horizont und die Formen ihrer Freiheit sind verschieden. Wenn man den Maulwurf am Fell packt und ihn gen Himmel schleudert, so wird er dies zurecht als Gewalt empfinden und nicht als Befreiung, die ihm die Möglichkeit gibt, ein wenig zu fliegen."


Akudowitsch, Valentin: Der Abwesenheitscode. Versuch, Weißrussland zu verstehen, Suhrkamp Verlag, Berlin 2013, S. 94-98.


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[i]Poka![/i]

zuletzt bearbeitet 13.09.2013 10:36 | nach oben springen

#2

RE: Die Freiheit auf "Unfreiheit"

in An der Gesellschaft/dem Alltag orientierte Gedanken 13.09.2013 12:05
von LX.C • 2.821 Beiträge

Nun, was will der Autor dieses Zitates? Valentin Akudowitsch selbst möchte eine demokratische Gesellschaft und eine liberale Wirtschaftsordnung, ein Weißrussland, das sich auf sich selbst besinnt und von den Hinterlassenschaften des kommunistischen Sowjetrusslands und den Einflüssen des postkommunistischen Russlands emanzipiert.
Er distanziert sich gegenwärtig jedoch von dem Irrweg der liberalen nationalen Bewegung, die Anfang der 90er keine Mehrheit fand, sondern empfiehlt aufgrund der inhomogenen Entwicklung der Nation ein multikulturelles, universelles Staatsbürgermodell, in dem sich dann einzelne weißrussische Erscheinungen durchsetzen, aber keine einheitliche weißrussische Kultur, die in jedem Fall aufgrund der historischen Entwicklung Weißrusslands und der vielen damit einhergehenden Einflüsse immer nur konstruiert sein könnte. Ein Modell, das damals noch nicht gedacht wurde.
So macht er in seinem Buch „Der Abwesenheitscode“ anhand der historischen und zeitgeschichtlichen Entwicklung seit der Perestreuka auch deutlich, dass die Entwicklung Weißrusslands nach 1991, man spricht hierzulande ja von der letzten Diktatur Europas, keine Folge einer erzwungenen Gewaltherrschaft Lukaschenkos ist, sondern den Forderungen der Mehrheit und den Gegebenheiten der Gesellschaft folgte.
Es scheint wieder einmal ein Märchen der Medien des demokratischen Westens, dass die Masse Anfang der 90er in Minsk für Freiheit und Demokratie auf die Straße ging. Folgt man den Argumenten des Autors, so ging es ganz im Gegenteil um die soziale Sicherheit des alten sowjetischen Systems, die man zurückforderte. Lukaschenko griff diese Stimmung auf und nutzte sie. Er gab den Menschen, die ihn legitim an die Macht wählten und die liberale Nationale Bewegung inklusive der alten weißrussischen Symboliken abwählten, man muss es so sagen, bis heute, was sie forderten. Und so genießt er in großen Teilen der Bevölkerung Zustimmung, insbesondere bei den älteren Generationen und bei den Menschen auf dem Land, für die, aber auch für eine Vielzahl der arbeitenden Bevölkerung aus den Städten, der Wegfall des derzeitigen postkommunistischen weißrussischen Modells auf unabsehbare Zeit erneut, wie nach dem Wegfall der alten Sowjetunion, verheerende Folgen für die Lebensumstände hätte.


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[i]Poka![/i]

zuletzt bearbeitet 13.09.2013 12:22 | nach oben springen


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