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Sascha Sokolow-Die Schule der Dummen
in Die schöne Welt der Bücher 12.08.2013 17:49von Sokolow • 197 Beiträge
Ich kann keine Buchrezension schreiben, aber ich kann jubeln und wenn ich
dieses Buch da sehe, möchte ich am liebsten hineinspringen, dem toten Lehrer
zuwinken, ihm fragen stellen, auf Antworten hoffen, sie bekommen.
Dieses Buch ist so wunderbar, man möchte Teil der Blätter sein, oder eine Seitenzahl.
Vielleicht die Seite 35 dort heißt es
"Irgendwo auf der Waldwiese hatte sich das Blasorchester niedergelassen. Die Musiker hatten sich auf frische Tannenstümpfe gesetzt, die Noten hatten sie vor sich gelegt, nicht auf Notenständer, sondern auf das Gras. Das Gras ist hoch, dicht und stark wie Schilf an einem See, und es hält mühelos die Notenhefte, die Musiker unterscheiden mühelos alle Zeichen. Man weiß das nicht genau, vielleicht ist es auch gar kein Orchester auf der Waldwiese, doch man kann die Musik durch den Wald gut hören und fühlt sich wohl. Schuh und Strümpfe möchte man ausziehen, sich auf die Zehenspitzen erheben und zu dieser fernen Musik tanzen, den Blick zum Himmel, nie sollte die Musik aufhören."
Sascha Sokolow
Die Schule der Dummen
erschienen bei Suhrkamp Taschenbuch
RE: Sascha Sokolow-Die Schule der Dummen
in Die schöne Welt der Bücher 12.08.2013 18:30von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Dann fasse ich einfach mal den Inhalt zusammen:
Sascha Sokolow
Die Schule der Dummen
Hier trifft der Leser auf ein wahnsinnig schönes Durcheinander an Gedanken aus dem zweigespaltenen Geist eines Sonderschülers, der von Größerem träumt, der sagt, er sei frei, daher wäre er auch kein Sonderschüler, sondern bereits Ingenieur, der sich sein Leben ganz einfach eben mal kurz zurechtträumt, sich auf eine Wiese setzt und Bücher um Bücher liest, klug wird, den Abschluss macht und erfolgreich studiert, mit diesen Worten auch zu seiner Mutter sagt:
„Ich bin Ingenieur.“
In diesem hier großartig entfalteten inneren Monolog teilt sich das Wesen des Erzählers. Dieser zweigeteilte Bericht, die Stimmen im Du und Ich, sind poetisch und voller Geschichten.
Trotz dass nur ein geringer Zusammenhang in den Dingen liegt, behält man dennoch den Faden, denn es geht nur um das Wesentliche, das Träumen-Dürfen, das Verwirklichen von Wünschen, wenn auch nur im Geiste.
Dass der Erzähler (oder die Erzähler) sich nicht in die gleiche Reihe mit all den "Idioten" ihrer Schule reihen, zeigt sich in vielerlei Hinsicht. So ist der Scham groß, wenn der häufig betrunkene Rektor von ihnen verlangt, einen Schuhbeutel mit Name und Schulbildung durch die Stadt tragen zu müssen, auch besitzen sie ein selektives Gedächtnis, merken sich nur das, was sie brauchen, und nicht “...was jene Trottel brauchen, die es wagen uns unterrichten zu wollen.“
Da die Zeit - auch umgekehrt - in die andere Richtung fließen kann, das, was Vergangenheit ist, eigentlich in der Zukunft liegt und noch kommen wird, das, was Zukunft ist, bereits geschehen ist, all das als Trost, um sich den Tod des Menschen zu erleichtern, der, wenn er geht, erst in der Zukunft geboren wird, so ist diese Geschichte auch ohne Zeitstruktur.
Da reden die beiden Ichs mit dem bereits toten Lehrer und erklären ihm, wie er gestorben ist, während der Tote sein Skelett an die Schule für die Biologiestunden verkauft, da tanzt eine jüdische Hexe um den Plattenspieler und lauscht dem knarrenden Stockschlurfen der Proteste ihres gestorbenen (vergifteten) Mannes, während sich ihr Geliebter ein Jahr später aufgehängt hat, da entbrennt der Sonderschüler, besser gesagt, sein zweites Ich, das sich, im Gegensatz zu ihm, tatsächlich traut zu handeln, in heißer Liebe zu seiner älteren Lehrerin und fragt deren einst verbannten und zurückgekehrten Wissenschaftler-Vater, ob er sie heiraten würde, berichtet ihm ausführlich, als wäre es eine Tatsache, von der Zeit ihrer Ehe (wie sie also längst in seinem Kopf Gestalt annimmt), während er die Frau noch nicht einmal gefragt hat.
Alles ist für ihn klar und verständlich. Die Zukunft ist nicht ungewiss, sondern bereits geschehen. Er ist (wird sein) Ingenieur und heiratet (hat geheiratet) seine Lehrerin.
Im Grunde findet sich in diesem Buch eine außergewöhnliche und außerordentliche Betrachtung geistiger Wunschvorstellungen im Vergleich mit der sehr harten Realität, an der ein Mensch aber nicht verzweifeln muss, gerade weil er seinen inneren Traum-Kosmos zur Verfügung hat, die Dinge leben kann, wie er sie sich erträumt, weil er hier frei ist und jede Bedingung nach seinen Sehnsüchten steuern kann. Umso trauriger, könnte man annehmen, wird dagegen die Realität sein, das Trostlose, das Scheitern, aber durch das Erzählen und Vermischen beider Barrieren gewinnt auch die Wirklichkeit ein anderes, gar nicht einmal grausames Gesicht, durchweht von leiser Wehmut und Menschlichkeit.
Der Sonderschüler spaltet sich in Wirklichkeit und Traum. Im Traum macht sein anderes Ich all das, wozu er den Mut nicht aufbringt, verändert das, was war, verbessert Reaktion oder Situation und erschafft damit für beide Ichs ein annehmbares Dasein, einen gemeinsamen Zusammenhalt gegen das Wüten der Welt.
Für mich gab es keinerlei Schwierigkeiten, das Ich und das andere Ich auseinanderzuhalten, wie der Verfasser des Nachworts angibt. Auch finde ich das Buch keinesfalls kompliziert oder völlig chaotisch, nicht zu ordnen, denn es erzählt durchaus eine Geschichte. Nie aber habe ich erlebt, dass jemand durch die zwei Stimmen seines Ichs das Sein und Wunsch-Sein so wunderbar wiedergegeben hat, so glaubhaft und gar nicht irrational, sondern als die Grenze, die man sowieso mit dem Lesen fallenlässt.
Da sitzt einfach ein Erzähler, sein Ich und der Autor, und alle reden durcheinander, aber nie so, dass man als Leser nicht versteht, wer redet und um was es geht. Auch ist das Ich oder der Erzähler nicht, wie von anderen gedeutet, ausschließlich geisteskrank (höchstens in dem Sinne, dass das Ich eine Irrenanstalt auch von innen kennt und psychologisch behandelt wurde), sondern versucht sich nur mittels einer Traumwelt über das eigene Elend zu erheben. Es versetzt den Leser in sein Inneres, zeigt ihm, wer der Erzähler ist, sowohl in der Wirklichkeit als auch in seiner eigenen Spiegelwelt, jener Welt, in der er sein kann, wer er möchte – ganz einfach: frei.
So kann auch eine einfache Datschensiedlung zur Paradies werden, an ihr vorbei der Fluss der Toten „Lethe“ fließen, um die Lebenden von den Toten zu trennen, ohne sie zu trennen, denn die Unterhaltung wird über den Fluss hinweg im Geiste des Erzählers weitergeführt.
Liebe Grüße
Taxine
Art & Vibration