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Hirngespinste

Austausch zwischen Literatur und Kunst

#1

Goethes "Wilhelm Meisters Lehrjahre" - ein Leitfaden

in An der Literatur orientierte Gedanken 09.03.2014 18:02
von LX.C • 2.821 Beiträge

Erstes Buch

Nach einem Theaterabend wird Wilhelms Liebschaft zur Schauspielerin Mariane vorgestellt, die eigentlich einem honorigen Offizier versprochen ist, sowie seine eigene Zuneigung zur Kunst. Schon seit früher Kindheit trägt ihn die Begeisterung, zunächst für das Puppenspiel, dann für das Schreiben von Stücken, die ihm jedoch noch nicht so recht gelingen wollen. Ein erster Dialog über die Kunst mit seinem rationalistischen Freund Werner zeigen zugleich, wo wir in diesem Bildungsroman stehen: "'Ich wette, du hast nicht die Absicht, eines oder das andere zu vollenden! Du siehst sie durch und wieder durch und beginnst allenfalls etwas Neues.' 'Zu vollenden ist nicht die Sache des Schülers, es ist genug, wenn er sich übt.'"
Wilhelms Vater lehnt das Schauspiel ab und möchte, dass sein Sohn sich an den kaufmännischen und spekulativen Geschäften des bürgerlichen Hauses beteiligt. So wird Wilhelm von seinem Vater und dessen Partner in die Welt geschickt, einige ausstehende Zahlungen einzutreiben und Handelsbeziehungen zu pflegen, in der Hoffnung, dass er Geschmack daran finden würde. Bei seiner ersten Station jedoch wird er zu seiner Leidenschaft zurückgeführt.
Die Tochter eines väterlichen Handelspartners ist mit einem Schauspieler durchgebrannt. Als das verliebte Paar gefasst und zurückgebracht wird, übernimmt Wilhelm aufgrund seiner Sympathie für den Beruf des jungen Mannes die Rolle des Vermittlers. Doch die hohen Erwartungen, die Wilhelm in das Schauspiel setzt, teilt sein aus der Praxis desillusionierter Schützling nicht, der anders als Wilhelm das bürgerliche Leben herbeisehnt.
Für Wilhelm lässt sich nur ein Fazit daraus ziehen: "'Unglücklicher Melina, nicht in deinem Stande, sondern in dir liegt das Armselige, über das du nicht Herr werden kannst! Welcher Mensch in der Welt, der ohne inneren Beruf ein Handwerk, eine Kunst oder irgendeine Lebensart ergriffe, müsste nicht wie du seinen Zustand unerträglich finden?'" Er kehrt bestärkt, seiner Profession folgen zu müssen, in sein Elterhaus zurück, um sich zugleich wieder als Schauspiellehrling aufmachen zu wollen. Doch die Liebe macht ihm einen Strich durch die Rechnung, als er Marianes Verhältnis entdeckt und sich darauf in tiefe Verzweiflung stürzt.


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zuletzt bearbeitet 09.03.2014 18:15 | nach oben springen

#2

RE: Goethes "Wilhelm Meisters Lehrjahre" - ein Leitfaden

in An der Literatur orientierte Gedanken 13.03.2014 11:10
von LX.C • 2.821 Beiträge

Zweites Buch

Seine partielle Verzweiflung führt in eine tiefen Seelenkrise, die zeitweise in starke Krankheit mündet, und dazu, dass Wilhelm die schönen Künste aufgibt. Er verbrennt alle seine Schriften. Der Hinweis seines Freundes Werner, dass er in seiner Freizeit noch genug Muse haben würde, seiner Leidenschaft zu frönen, erwidert Wilhelm mit dem Grundsatz, dass man sich der Kunst ganz verschreiben oder es lassen müsse. Die eigene, oben zitierte Erkenntnis missachtend, geht er nun selbst ohne Berufung und ohne Leidenschaft dem kaufmännischen Beruf seines Vaters nach und begibt sich nach seiner vollständigen Genesung erneut auf Handelsreisen.
Als er nach erfolgreichen Geschäften in einem Dorf pausiert, trifft er auf eine Schauspieltruppe, die vor Ort Furore macht. Die Schauspielerei zieht ihn, in Form einer anders als Mariane leichtherzigen und leichtfüßigen weiblichen Gestalt namens Philine, wieder in den Bann. Über Mariane indes erfährt Wilhelm, dass sie ein Kind erwartend von ihrer Schauspieltruppe ausgesetzt wurde; Näheres hierzu erfährt man noch nicht. Auch Melina, den Absprung ins bürgerliche Leben nicht geschafft, taucht mit seiner inzwischen Angetrauten wieder auf und schließt sich der lustigen Gesellschaft an. Er beweist ein Mal mehr, dass ohne Berufung und Leidenschaft der Schauspieler ein grober Klotz bleibt.
So ermöglichen die sich darbietenden Gegensätze einen in diesem Buch zentralen und nach Manier des Bildungsromans klassischen Dialog über die Anlagen und die Ausbildung des Schauspielers sowie dem Wesen der Schauspielerei zu platzieren, inklusive dem Aspekt des Geniewesens, den Wilhelm mit einem eigens für diese Abhandlung eingeführten "Geistlichen" führt, der spontan in der Truppe mitspielt und die Mimesis aufs trefflichste beherrscht. Anlass zu weiteren Diskussionen über Art der Stücke und das Ausführen der Schauspielerei bietet ein Spielmann, der mit seiner Mimik und Gestik zu beeindrucken weiß. Nichtsdestotrotz bekommt am Ende des zweiten Buches Melina von Wilhelm, in einem schwachen Moment wohlgemerkt, Geldmittel ausgehändigt, um sich eine Schauspielausstattung für das eigene Gewerbe zuzulegen. Wilhelm indes beschließt eifersüchtig und enttäuscht seinen Aufbruch, nachdem er Philines Untreue vorgeführt bekommen hat.


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zuletzt bearbeitet 13.03.2014 12:16 | nach oben springen

#3

RE: Goethes "Wilhelm Meisters Lehrjahre" - ein Leitfaden

in An der Literatur orientierte Gedanken 15.03.2014 10:47
von Krümel • 499 Beiträge

Schade, dass du das Buch nicht früher gelesen hast, dann hätte ich mich nicht quälen müssen, hätte nur diesen Fred gelesen.

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#4

RE: Goethes "Wilhelm Meisters Lehrjahre" - ein Leitfaden

in An der Literatur orientierte Gedanken 19.03.2014 14:29
von LX.C • 2.821 Beiträge

Dieses kleine Fredchen? Nu tak, weiter im Text

Drittes Buch

Zur Abreise Wilhelms kommt es dann doch nicht. Für die - wir erwähnten es noch nicht - gestrandete Schauspieltruppe, neu organisiert unter Melina, der sie durch Wilhelms Geldmittel wieder in Lohn und Brot bringen kann, ergibt sich ein ausgesprochen interessantes und lukratives Arrangement auf dem Landsitz des Grafen.
Auf Bitten des Barons, dem Kultur-Protege’ des Grafen, der einige übrig gebliebene Schreibübungen Wilhelms sichtet und lobt, sowie seiner eigenen Neugierde, die sich aus der hohen Gesellschaft und speziell der anmutigen Gräfin speist, folgt Wilhelm der Schauspieltruppe aufs Schloss, mit samt seiner – auch sie erwähnten wir noch nicht – "wunderbaren Familie, die Wilhelm seit einiger Zeit als seine eigene ansah". Das sind zunächst ein kleines Mädchen namens Mignon, der alte Spielmann und ein bezüglich Philine junger, ungestümer Leidensgenosse kommt in diesem Buch hinzu, die Wilhelm alle durch seinen verständigen Charakter ansich gebunden hat.
Auf dem Schloss angekommen werden die freudig hohen Erwartungen zunächst getrübt. Durch die überraschende Ankündigung des sich auf der Durchreise befindenden Prinzen und seiner Gefolgschaft, wird die Schauspieltruppe in einen verlassenen Schlossbau abgeschoben und vernachlässigt. Nur Philine wird von der Gräfin zu sich geholt, ihr als Weggefährtin auf Zeit Gesellschaft zu leisten. Das bunte Treiben, die Kabale und Liebe im Einzelnen wollen wir uns an dieser Stelle aussparen.
Wilhelm bekommt schließlich die Chance, ein Vorspiel dem Prinzen zu Ehren zu inszenieren, das dessen Tugenden huldigen, die "Eigenschaften dieses großen Helden und Menschenfreundes" ganz personifizieren soll. Die dem Künstlergenius widerstrebende Hürde, das Stück ganz nach Vorgabe des Grafen zu fertigen, kann Wilhelm mit Hilfe des Barons, der Baroness und vor allem der Gräfin heimlich überwinden. In ihre Anmut verliebt sich Wilhelm, so wie sich die Gräfin – man ahnte es fast – in ihn verliebt. Ein weiterer Schulterschluss von Empfindsamkeit und Bildungsroman. Das Stück wird jedoch ein für Wilhelm betrüblicher Misserfolg, da sich nach kurzer Aufmerksamkeit der zu Huldigende wie der Auftraggeber, Prinz und Graf, abwenden und sich im Nebenzimmer Geschäften widmen.
Um doch noch irgendwie Eindruck zu machen, verwickelt Wilhelm den Prinzen anschließend in ein Gespräch über das den Prinzen einzig interessierende französische Ständetheater, über dessen Vortrefflichkeit Wilhelm referiert. Ein zwielichtiger aber kulturbeflissener Gefolgsmann namens Jarno mischt sich darauf ein und konfrontiert Wilhelm mit Shakespeare, der, wie wir wissen, wie später Lessing (Bürgerliche Trauerspiel) und darauf Goethe selbst (Sturm und Drang), die Ständeklausel auf der Bühne ordentlich ins Wanken brachte. Wilhelm könne seine Zeit nicht besser anwenden, als mit Shakespeare, so Jarno, "Es ist sündlich, daß sie Ihre Stunden verderben, diese Affen menschlicher auszuputzen und diese Hunde tanzen zu lehren."
Mit großer Zuneigung und Dankbarkeit folgt Wilhelm dieser Empfehlung, fühlt sich gar ohne Umschweife auf den rechten Weg gebracht, denn die Stücke Shakespeares verfehlen ihre Wirkung nicht. "Seine ganze Seele geriet in Bewegung […] 'Man glaubt vor den aufgeschlagenen ungeheuren Büchern des Schicksals zu stehen, in denen der Sturmwind des bewegtesten Lebens saust und sie mit Gewalt rasch hin und wider blättert. Ich bin über die Stärke und Zartheit, Gewalt und Ruhe so erstaunt und außer aller Fassung gebracht'". Im Grunde umfasst diese Konfrontation mit den Stücken Shakespeares einerseits und die Überwindung des Ständetheaters andererseits die zentrale Botschaft des dritten Buches.
Zum Glück erkennt Wilhelm schnell die niederträchtige, egozentrische Art Jarnos, der Wilhelm an sich binden will und ihn dafür auffordert, Verrat an seiner "Familie" zu begehen. Am Ende ist die Gesellschaft im Begriff, sich wieder aufzulösen. Der Prinz nebst Gefolgschaft verlässt den Hof des Grafen, der Graf plant samt seiner Gefolgschaft den Weg zurück in die Stadt. Wo es nach schmerzlicher Trennung von der Gräfin unseren Wilhelm hinzieht, wird das nächste Buch zeigen.


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zuletzt bearbeitet 19.03.2014 14:59 | nach oben springen

#5

RE: Goethes "Wilhelm Meisters Lehrjahre" - ein Leitfaden

in An der Literatur orientierte Gedanken 04.04.2014 09:57
von LX.C • 2.821 Beiträge

Viertes Buch

Nach kurzer Pause bleibt die Frage offen, was ist nun mit unserem Wilhelm? Der wird verletzt, als er versucht die Schauspieltruppe Melinas durch ein Gefahrengebiet zu leiten, das zu durchwandern ihnen aufgrund von Wegelagerei abgeraten wurde. Doch Wilhelm verlässt sich auf sein Glück und Waffen, die er einem jeden waffenfähigen Mann anrät. Während einer Pause auf einer Lichtung passiert es dann, die Schauspieltruppe wird überfallen. Sie versuchen sich nach Kräften zu wehren, sogar das Kind Mignon kämpft mit, doch nach kurzem Scharmützel werden sie überwältigt und ausgeraubt. Alle Theater-Habseligkeiten, die Melina durch Wilhelms Hilfe erwerben konnte, sind verloren und die Schauspieler folglich ruiniert. Nur Philines Koffer bleibt durch zwielichtige Begebenheiten zwischen ihr und dem Anführer der Bande verschont. In ihrem Schoß wacht Wilhelm wieder auf, schwer verletzt, ihm wurde fast der Schädel gespalten. Hier tritt eine geheimnisvolle hohe Gesellschaft auf, die vermutlich Ziel des Überfalls sein sollte, voran eine junge Dame, in die sich Wilhelm natürlich verliebt, die aber nach der kurzen Begegnung – zumindest für dieses Buch – wieder spurlos verschwindet. Ihr Wundarzt versorgt Wilhelm und sie sorgt für Unterstützung beim Abtransport, während die zwischenzeitlich abwesenden Schauspieler mit Hilfe aus einem entfernten Dorf herbeieilten. Im Dorf untergebracht ist Wilhelm nun heftigen Vorwürfen ausgesetzt, die Schauspieltruppe ruiniert zu haben. Allem voran Melina, dessen Frau nach dem Schock auch noch eine Todgeburt erlitten hat.
Wilhelm jedoch versucht zu schlichten und verspricht großmütig, den Schaden, der durch die Zahlungsunfähigkeit Melinas und einer ebenfalls entwendeten hohen Belohnung des Grafen an Wilhelm ja vor allem auch sein eigener ist, wieder zu ersetzen. Er empfiehlt der Truppe, sich zu dem von ihm so bewunderten Schauspielerleiter Serlo durchzuschlagen. Das ist jener, den Wilhelm noch vor seinem durch Mariane erlittenen Liebeskummer im ersten Buch zu seiner Schauspielausbildung aufsuchen wollte. Wilhelm begibt sich schließlich nach einigermaßen erfolgter Genesung selbst dorthin.
Uns werden nun zwei Schauspielbiographien vorgestellt, die Serlos Schwester Aurelie, mit der Wilhelm eine innige Freundschaft eingeht, die in ihrer Laufbahn stets einen schweren Stand als Frau hatte, und die Serlos, der sich durch viel Engagement und dem Willen zur Verbesserung selbstständig zu einem Ausnahmekünstler seiner Zunft entwickeln konnte. Zudem haben wir es mit dem nun theoretisch wichtigen Teil zu tun, in dem sich Serlo und Wilhelm über die allumfassend vollkommene Art des Schauspiels auseinandersetzen, wobei auch Shakespeare und sein Hamlet als Aufhänger und Beispiel wieder eine große Rolle spielt. Was der eine, Serlo, sich durch jahrelange Übung und Erfahrung zueigen gemacht hat und mit einer gewissen Altersironie glaubt, nur mit der Leichtigkeit des Herzens erreichen zu können, will der andere, Wilhelm, durch festgeschriebene Regeln zur Grundlage eines jeden Schauspiels und Schauspielers machen.
Letztendlich verpflichtet Serlo den, wie er findet, erbärmlichen, aber nicht hoffnungslosen Schauspielhaufen Melinas – in jedem glaubt er, die besten Eigenschaften noch hervorrufen zu können -, aber nur unter der Bedingung, dass sich auch Wilhelm nun ganz dem Schauspiel verpflichtet und sich in seine Obhut begibt. Das hätte Wilhelm wahrscheinlich ohnehin getan, denn er sieht sich durch die zufälligen Umstände, über Umwege nun schicksalhaft seinem ursprünglichen Vorhaben – siehe erstes Buch - zugeführt.


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zuletzt bearbeitet 04.04.2014 10:02 | nach oben springen

#6

RE: Goethes "Wilhelm Meisters Lehrjahre" - ein Leitfaden

in An der Literatur orientierte Gedanken 05.04.2014 20:01
von LX.C • 2.821 Beiträge

Werbepause:

Langweilig zu sein ist in der Literatur nur den Klassikern erlaubt

Erwin Strittmatter


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#7

RE: Goethes "Wilhelm Meisters Lehrjahre" - ein Leitfaden

in An der Literatur orientierte Gedanken 06.04.2014 11:31
von Krümel • 499 Beiträge

Schön zu wissen.

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#8

RE: Goethes "Wilhelm Meisters Lehrjahre" - ein Leitfaden

in An der Literatur orientierte Gedanken 13.04.2014 11:48
von LX.C • 2.821 Beiträge

Na ja, ganz so schlimm ist es dann doch nicht Trotz gelegentlicher Langeweile empfinde ich doch große Lesefreude, schon aufgrund der lückenlos durchdachten Romankonstruktion und des guten Sprachstils. An Goethes Stellung in der Literatur ist nicht zu rütteln.

Fünftes Buch

Im fünften Buch also geht Wilhelm seinen Vertrag mit Serlo ein. Doch der Reihe nach. Zunächst erreicht Wilhelm die traurige Nachricht, dass sein Vater plötzlich an Krankheit verstorben ist. Wilhelms Freund Werner und dessen Vater haben bereits alles abgemacht und nach Eheversprechen Werners mit Wilhelms Schwester das Hab und Gut unter sich aufgeteilt. Sie gewähren Wilhelm freundlichst, sich so lange auf Reisen zu halten, wie er nur mag und anschließend ein geplantes Landgut, das aus dem Erlös des Elternhauses erworben werden soll, zu leiten. Wilhelm erkennt natürlich die hintertriebenen Machenschaften und das Abstellgleis, das auf ihn wartet. Er setzt einen Brief auf, der mit dem profitsüchtigen Freund ins Gericht geht, belässt es aber bei der Forderung, ihm bei Bedarf etwas Geld aus dem Erbe zukommen zu lassen, denn der Vertrag mit Serlo ist nach dieser Nachricht und den vorgefertigten Plänen, die man mit ihm hat, fast beschlossene Sache.
Warum fast? Eine Bedingung gilt es noch auszuhandeln. Wilhelm geht den Vertrag mit Serlo nur ein, wenn Shakespeares Hamlet ungekürzt in den Spielplan aufgenommen wird. Serlo sagt der Umstände wegen zunächst zu, sieht sich aber weiterhin außer Stande, das Stück ungekürzt zu geben. Schließlich beauftragt er Wilhelm, nach dessen Drohung, den Vertrag wieder zu lösen, das Stück spielbar so umzuarbeiten, dass es nicht wie bisher bei der Fokussierung auf herausgenommene und aus dem Gesamtkontext gerissene Szenarien bleibt, sondern alle Aspekte mit einbezogen werden, die das Stück als verstehbares Ganzes, als Einheit nicht beschneiden. Mit diesem Kompromiss kann Wilhelm leben und macht sich zugleich an die Arbeit. Doch der Diskussionsstoff bleibt nicht aus. Serlo ist beispielsweise der Meinung, er müsse dem Verlangen seines Publikums gerecht werden und Hamlet, wie stets geschehen, am Ende heldenhaft am Leben lassen. Wilhelm dagegen will nicht den eigenwilligen Bedürfnissen eines kurzweiligen Vergnügens nachgehen, sondern das Publikum bilden, der Tod Hamlets steht für ihn natürlich unabänderbar außer Frage. "'Wie kann ich ihn am Leben erhalten […] da ihn das ganze Stück zu Tode drückt? […] Es ist eine falsche Nachgiebigkeit gegen die Menge, wenn man ihnen die Empfindungen erregt, die sie haben wollen, und nicht, die sie haben sollen.'"
Letztendlich kann sich Wilhelm bei seinen Belangen durchsetzen, die Schauspieltruppe zu Höchstleistungen motivieren und mit Hamlet vor ausverkauftem Haus zu einem großen Erfolg führen.
Dem Erfolg auf der Bühne folgen viele Niederlagen im wirklichen Leben. Die Unterkunft der Schauspieler und mit ihr weitere Häuser brennen am Tag nach dem großen Erfolg ab. Wilhelms guter Freund, der Harfenspieler fällt dem Wahnsinn anheim. Wilhelm vermutet, er habe gar den Brand gelegt und gibt ihn in Obhut eines Pfarrers, der sich auf die Heilung solcher Fälle zu verstehen meint. Hier erfährt er auch das schwere Schicksal des Grafen und der Gräfin aus dem 3. Buch, das eng mit ihm in Verbindung steht, sodass er sich große Vorwürfe macht – dabei bleibt es dann hier aber auch. Philine verlässt ohne Ankündigung, vermutlich mit einem Liebhaber, die Schauspieltruppe. Wilhelm dagegen glaubt bei ihr seine einst große Liebe Mariane gesehen zu haben und lässt Philine verfolgen – dabei bleibt es an dieser Stelle ebenfalls. Schwer wiegt auch, dass Melina und Serlo an Profit nicht genug bekommen können, sie planen hinter Wilhelms Rücken die Truppe deutlich zu reduzieren, an Requisiten zu sparen und Wilhelm auszubooten. Schließlich stirbt Serlos Schwester Aurelie, die mit ihrem Schauspieltalent und der Verwaltung der Finanzen im Verbund mit Wilhelm viel zum Erfolg beigetragen hat, letztlich aber an der Enttäuschung ihres Lebens, ihrer großen Liebe, die sie nicht überwinden kann, zerbricht.
Diese ist dann auch der Anlass, warum Wilhelm vorübergehend die Schauspieltruppe verlässt. Er will den letzten Willen Aurelies erfüllen und dem uns noch unbekannten Geliebten Aurelies von ihrem Schicksal berichten. Es ist zu befürchten, dass nicht dieser im Mittelpunkt des nächsten Buches stehen wird, sondern die hintertriebenen Machenschaften Serlos und Melinas gegen Wilhelm, denen die Umstände nur allzu recht sind. Wir werden sehen.
Zuletzt sei aber dringend, neben der Auseinandersetzung mit dem Stück Hamlet selbst und Betrachtungen über das Wesen des Schauspielers und das des Publikums, auf einen weiteren zentralen Diskurs über die Gattungen Roman und Drama hingewiesen, deren Wesensmerkmale, Unterschiede und Gemeinsamkeiten, der dem fünften Buch theoretische Prägnanz verleiht. "Im Roman wie im Drama sehen wir menschliche Natur und Handlung. […] Im Roman sollen vorzüglich Gesinnungen und Begebenheiten vorgestellt werden; im Drama Charaktere und Taten. Der Roman muß langsam gehen, und die Gesinnungen der Hauptfigur müssen, es sei auf welche Weise es wolle, das Vordringen des Ganzen zur Entwicklung aufhalten. Das Drama soll eilen, und der Charakter der Hauptfigur muß sich nach dem Ende drängen […] Der Romanheld muß leidend, wenigstens nicht im hohen Grade wirkend sein; von dem dramatischen verlangt man Wirkung und Tat" und so weiter, bis hin zur Rolle des Zufalls und des Schicksals im Roman und im Drama. Ja, Goethe nimmt seinen Bildungsauftrag sehr ernst - nicht nur auf der Bühne.


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zuletzt bearbeitet 13.04.2014 13:36 | nach oben springen

#9

RE: Goethes "Wilhelm Meisters Lehrjahre" - ein Leitfaden

in An der Literatur orientierte Gedanken 15.04.2014 10:39
von LX.C • 2.821 Beiträge

Im sechsten Buch haben wir es mit einer scheinbar eigenständigen Novelle im Roman zu tun. Der Sinn dieser "Unterbrechung" erschließt sich mir noch nicht so richtig.


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zuletzt bearbeitet 15.04.2014 10:41 | nach oben springen

#10

RE: Goethes "Wilhelm Meisters Lehrjahre" - ein Leitfaden

in An der Literatur orientierte Gedanken 22.04.2014 11:59
von LX.C • 2.821 Beiträge

Sechstes Buch

Soeben noch ein Loblied gesungen, muss ich nun sagen, wird man mit dem sechsten Buch doch auf eine harte Probe gestellt. Mit der Novelle im Roman "Bekenntnisse einer schönen Seele" wird man aus dem Geschehen völlig herausgerissen und mit dem spirituellen und Bildungsweg der uns als Person bisher unbekannten schönen Seele konfrontiert, deren Leben anders als das Wilhelm Meisters in Form der Ich-Erzählung dargelegt wird. Nun lässt sich wirklich sagen, muss man mit der Langeweile kämpfen, so gut das Kapitel gemeint sein mag.
Wir werden mit der offenen Erziehung des jungen Kindes durch den Vater konfrontiert, das frühzeitig lernt, seinen eigenen geistigen Weg zu gehen, sich über alles selbst ein Urteil zu bilden und sich von allen moralischen Verführungen der Umwelt fernzuhalten. Uns wird das junge Mädchen vorgestellt, das sich schließlich doch verliebt und deren Heiratswunsch zu lange unerfüllt bleibt, so dass es am Ende nicht mehr gewillt ist, den Bedingungen ihres Bräutigams zu folgen und die Verlobung löst. Sie gibt sich mehr denn je Gott hin, jedoch immer auf eine eigenständige, unabhängige Weise. Hier entstehen schon Assoziationen zum Pietismus. Und wahrhaftig schließt sich die junge Frau der Herrnhuter-Gemeinde an, ohne wiederum den Geboten oder Persönlichkeiten blind zu folgen, sondern immer einzig und direkt Gott verbunden.
Wir erfahren natürlich von den Schicksalsschlägen der Familie, von der schließlich nur noch vier Nichten und Neffen unserer schönen Seele übrig bleiben und der Onkel, der sich um die Erziehung dieser kümmert. Der vielleicht interessanteste Dialog entsteht zwischen dem Onkel und unserer schönen Seele über Bildung, Bildungsdünkel und Kunstverständnis im letzten Drittel des sechsten Buches.
Ganz gute Ansichten hat der Oheim, nur eines betrübt unsere schöne Seele bis zuletzt, dass der Onkel ihr, die umso schwächer sich umso stärker Gott verbunden fühlt, die Nichten und Neffen vorenthält, da er Bedenken hat, diese könnten sich ebenso zu sehr Gott hingeben.
Nun, mag sein, dass ich mit dieser Beschreibung dem sechsten Buch wenig gerecht werde, da man sich wirklich tiefgründig mit den Zusammenhängen auseinandersetzen müsste. Was zunächst wie ein Emanzipationsbekenntnis für die Frau wirkt, mündet schließlich in die tiefste, wenn auch selbstbestimmte Spiritualität. Viele Fragen bleiben offen, warum gerade jetzt dieses Glaubensbekenntnis? Warum diese eigenständige Novelle? Welche Stelle nimmt sie am Ende im Gesamtkontext ein? Wie hängt sie mit der bisherigen Erzählung der Lehrjahre des Wilhelm Meister und Goethes Gesamtanspruch an den Roman zusammen? Sicher werde ich’s noch herausfinden. Nichtsdestotrotz hinterlässt dieses fahle Zwischenspiel doch einen etwas faden Nachgeschmack, denn nun muss man erst wieder seine Leselust am Wilhelm Meister zurückgewinnen und in die Erzählung zurückfinden.


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zuletzt bearbeitet 22.04.2014 12:34 | nach oben springen

#11

RE: Goethes "Wilhelm Meisters Lehrjahre" - ein Leitfaden

in An der Literatur orientierte Gedanken 25.04.2014 18:40
von LX.C • 2.821 Beiträge

Siebentes Buch

Das siebente Buch geht mit allerlei Verwicklungen wieder schnell voran und liest sich mit Freuden. Es schließt sich der Kreis in mancherlei Dingen und am Ende heißt es: "Heil dir, junger Mann! Deine Lehrjahre sind vorüber".
Mit festem Vorsatz trifft Wilhelm auf den Mann, der Aurelie das Herz brach, Lothario ist sein Name, ein in Geldnöten geratener Edelmann mit großen Plänen. Herzen brechen scheint zu seinem Charakter zu gehören und so nimmt er nach kurzer Bestürzung wenig Anteil an Wilhelms Stimmung, der bei der zunächst flüchtigen Begegnung auch seinen Vortrag gegen ihn nicht loswerden kann. Schnell macht Wilhelm sich das edelste Bild von Lothario, so dass seine Vorsätze, Aurelie in Erinnerung zu bringen und ihren ehemaligen Bräutigam aufs Schärfste zu tadeln und zu beschämen ohnehin verblassen. Am nächsten Tag schon wird Lothario bei einem Duell schwer verletzt, natürlich wegen einer Frau.
Zu Lotharions engsten Freunden gehört unter anderem Jarno, der Wilhelm damals Shakespeare so nahe brachte, aber verlangte, seine Freunde zu verraten. Auch das ist vergessen, als Wilhelm sich von der trefflichen Persönlichkeit Jarnos erneut zu überzeugen meint. Wilhelm wird nun ganz in die Gemeinschaft aufgenommen und beauftragt, Lotharios Geliebte, Lydie unter falschen Motiven zu einer Freundin namens Therese zu locken, da sie den schwer verwundeten Geliebten mit ihrer Fürsorge zu erdrücken scheint. Wichtig ist hier die Bekanntschaft Thereses, die Wilhelm macht, eine Frau von besten Eigenschaften, die ihn tief beeindruckt. Und vielleicht die Warnung Lydies, die im siebenten Buch noch als Trotzreaktion ihrerseits an Wilhelm abprallt: Lotharios "Freunde kenne ich, es ist mir leid, daß er so umgeben ist. Der Abbe wäre fähig, wegen einer Grille die Menschen in Not zu lassen oder sie gar hineinzustürzen; der Arzt möchte gern alles ins gleiche bringen; Jarno hat kein Gemüt und Sie – wenigstens keinen Charakter! Fahren sie nur so fort, und lassen Sie sich als Werkzeug dieser drei Menschen brauchen, man wird ihnen noch manche Exekution auftragen".
Vieles geht in diesem siebenten Buch zusammen: Die Gräfin ist Lotharios Schwester, Lothario dadurch die damaligen Machenschaften der Verliebten und deren Folgen bekannt. Lothario plant Geschäfte mit Wilhelms ehemaligem Freund Werner, beide wollen ein großes Landgut übernehmen, wahrscheinlich jenes, von dem Werner damals schrieb, dem Wilhelm vorstehen sollte. Wilhelm und Werner treffen dadurch wieder aufeinander, wobei sich der eine davon überzeugen kann, wie trefflich in Körperausdruck und Charakter seinem Freund die Lehrjahre bekommen sind, während Wilhelm die vor Habsucht eingefallene Physiognomie seines Freundes feststellt.
Ins Zentrum rückt außerdem, dass Felix, der geglaubte Sohn Aurelies und Lotharios, sich als der Sohn Wilhelms und der, wie er schmerzlich erfahren muss, verstorbenen Mariane entpuppt. Um ihn, aber auch das Mädchen Mignon zu holen, reist Wilhelm zurück zur Theatergruppe, die alle Änderungen bereits in Wilhelms Abwesenheit vollzogen hat. Hier trifft er auf die ehemalige Zofe Marianes, die alle Begebenheiten, die Wilhelm von der Untreue seiner großen ersten Liebe überzeugten, ins rechte Licht rückt und ihm durch Aufzeichnungen und Briefe Marianes, die u.a. durch Werners Schuld nie ankamen, seine Vaterschaft endgültig glaubhaft macht.
Leben und Ausbildung seines Sohnes Felix sollen künftig alle Bestrebungen Wilhelms bestimmen. Und so entschließt er sich, die in praktischen Kenntnissen und charakterlichen Eigenschaften vortreffliche Therese als künftige Mutter seines Sohnes auszuerwählen und ihr einen Heiratsantrag zu machen, da Wilhelm davon überzeugt ist, hier die besten Möglichkeiten einer vorbildlichen Erziehung und Familie zu finden.
Ja, das hört sich alles sehr verwirrend an und es wird noch verwirrender, wenngleich Goethe es durchaus schafft, die Dinge für den Leser folgelogisch und schlüssig zusammenzubringen.
In einer Art Rekurs auf die Romantik, könnte man meinen, wird Wilhelm in das Labyrinth seines Bildungsweges eingeführt, ein Rückblick, den ausgerechnet die drei Freunde Lothario, Jarno und der Abbe im Schlossturm Lotharios zusammengetragen haben. Es wird offensichtlich, dass Wilhelm dabei von ihm unsichtbaren Kräften gelenkt wurde, welche offenbar in Persona der drei und weiterer Beteiligter daran Anteil hatten, z.B. - da weiter oben im 3. Buch erwähnt - die Begegnung Jarnos während des Gastspiels bei dem Grafen und der Gräfin. Die ganze Szene wirkt etwas abstrakt und irreal, daher weckt sie Assoziationen zur Romantik. Wilhelm bekommt im Schlossturm die Möglichkeit, ihm unerklärliche Begebenheiten zu rekonstruieren und seinen Weg zu reflektieren. Wobei, wie im ersten Drittel des siebenten Buches auch schon in einer zentralen Diskussion über das Theater und seine Darsteller, die Theaterbühne und ihre Akteure als Abbild der Welt sowie das Leben als Theaterbühne deutlich wurde, er seine Theaterzeit als beendet zu sehen scheint, wie ihm von anderer Seite das Ende seiner Lehrjahre konstatiert wird.
Nein, nein, ich habe keine verkürzte Ausgabe des Wilhelm Meisters gelesen. Seine Lehrjahre sollen mit dem siebenten Buch beendet sein, doch ist zu vermuten, dass sich im achten Buch noch so einige Begegnungen ereignen und Ereignisse begeben, die manches noch mal auf den Kopf stellen.


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zuletzt bearbeitet 25.04.2014 18:50 | nach oben springen

#12

RE: Goethes "Wilhelm Meisters Lehrjahre" - ein Leitfaden

in An der Literatur orientierte Gedanken 26.04.2014 15:59
von LX.C • 2.821 Beiträge

"'Ich will nichts weiter sagen, die Verwirrung wird noch größer werden.'" In der Tat, was für ein Verwirrspiel


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#13

RE: Goethes "Wilhelm Meisters Lehrjahre" - ein Leitfaden

in An der Literatur orientierte Gedanken 27.04.2014 04:31
von LX.C • 2.821 Beiträge

Achtes Buch - I

Versuchen wir besser zwischendurch, das Verwirrspiel schon mal etwas zu entwirren, da das achte und letzte Buch doch ziemlich lang ist und vermutlich noch so einiges passieren wird. Zunächst einmal, das Rätsel um die Novelle der "Schönen Seele" wird im achten Buch aufgelöst und in den Gesamtkontext eingereiht.
Doch von vorn. Zurückgekehrt mit seinem Sohn, macht sich Wilhelm zugleich daran, den Heiratsantrag an Therese schriftlich zu verfassen und per Post abzuschicken. Kaum ist das erledigt, übermittelt Lothario Wilhelm die Aufforderung, sich wegen Mignon zu seiner Schwester zu begeben, die das Mädchen über die Vermittlung Thereses in ihre Obhut genommen hat. Wilhelm schaudert es, denn er vermutet hinter der Schwester Lotharios einzig die ihm bekannte Gräfin, deren Handschrift er zu erkennen meint und der er ungern wieder begegnen möchte, da ihm die damalige Affäre, inklusive der Verwicklungen - siehe 3. Buch -, höchst unangenehm ist. Bei einem Zwischenstopp im Postkutschenquartier fällt ihm jedoch auf, dass es sich nur um eine ähnliche Handschrift handelt und er vermutet darauf, auf eine Schwester der Gräfin und mit ihr endlich wieder auf die Amazone zu treffen, die ihn nach dem Überfall – 4. Buch - durch ihre Fürsorge und Anmut so sehr beeindruckt hatte, dass er sich in sie verliebte. Wir erinnern uns, sie verschwand seither spurlos. Und tatsächlich trifft er genau auf diese Personen, Natalie ist ihr Name. Wir haben es also mit zwei Schwestern und einem Bruder zu tun: die Gräfin, Natalie, Lothario. Wie sich später herausstellt, treibt sich ein zweiter Bruder in der Welt herum. Nun wird klar, es handelt sich um die zwei Nichten und zwei Neffen der schönen Seele, deren Aufsatz Wilhelm durch den Arzt Aurelies (derselbe, der Lothario so verbunden ist) übermittelt bekam und den er auf der Reise las.
Allerlei weitere Verwicklungen zeigen sich hier, die wir im Einzelnen nicht alle erläutern wollen, z.B. erkennt sich Wilhelm bei Natalie in dem musealen Schloss des im Aufsatz erwähnten Onkels wieder, der vor kurzem starb, und in diesem Schloss findet er so einige Kunstgegenstände seines Großvaters wieder.
Wichtig ist zu erwähnen, dass nun im Zusammenhang mit dem Aufsatz und der Geschichte der vier Geschwister die Erziehungsmethoden des Onkels und Natalies, die ebenfalls einige Kinder zur Erziehung in Pflege hat, nun auch Mignon, erläutert und gegenübergestellt werden. Wobei wiederum die Herrnhuter-Gemeinde, der uns bekannte Abt, und deren Grundsätze eine Rolle spielen und der Weg, den man Wilhelm zu seiner Bildung und Erziehung in den Lehrjahren angedeihen ließ. Soll man einen jungen Menschen bewusst irregehen lassen, damit er zu sich selbst und seinen natürlichsten Fähigkeiten findet, oder soll man ihn leiten und auf vorbestimmtem Wege ausbilden. "Nur unsere zweideutige, zerstreute Erziehung macht die Menschen ungewiß; sie erregt Wünsche, statt Triebe zu beleben, und anstatt den wirklichen Anlagen aufzuhelfen, richtet sie das Streben nach Gegenständen, die so oft mit der Natur, die sich nach ihnen bemüht, nicht übereinstimmen. Ein Kind, ein junger Mensch, die auf ihrem eigenen Wege irregehen, sind mir lieber als manche, die auf fremdem Wege recht wandeln", so Natalie. Tiefer wollen wir in diesem inhaltlichen Leitfaden nicht in den Erziehungsdiskurs einsteigen, man findet ihn exakt am Ende des ersten Viertels des achten Buches (3. Kapitel).
Lassen wir denn auch die psychischen Verwicklungen des Kindes Mignon mal beiseite. Denn unser Wilhelm steht vor dem Problem, dass er einerseits hier, mit Natalie, seine große Sehnsucht gefunden hat und nach wie vor in sie verliebt ist, andererseits Therese einen Heiratsantrag gemacht hat. Therese aber nach wie vor in Lothario verliebt ist, was auf Gegenseitigkeit beruht. Die nähere Verwicklung dieser beiden habe ich bei der Beschreibung des siebenten Buches ausgespart. Hier muss sie nachgereicht werden. Lothario wollte Therese heiraten, musste aber seine Verlobung lösen, nachdem er mit Erschrecken festgestellt hat, mit Thereses Mutter einst in Frankreich ein Verhältnis gehabt zu haben; wir erwähnten seinen Charakter.
Wilhelm erfährt nun über Natalie, dass Therese in die Vernunftehe mit ihm einwilligt, Lothario im Herzen aber immer verbunden bleiben wird. Da erscheint Jarno und löst den Knoten, indem er über geheime Quellen herausgefunden haben will, dass Therese nicht die Tochter ihrer angeblichen Mutter ist und somit einer Ehe mit Lothario nichts im Weg stehen würde. Dem nicht genug vermutet Therese, beeinflusst durch Lydie, darin eine Intrige, um die Ehe mit Wilhelm zu verhindern, und will diese schnellstmöglich mit ihm eingehen. Und auch Wilhelm erinnert sich der Worte Lydies – siehe 7. Buch. Natalie selbst vermutet länger Machenschaften Lotharios und Jarnos, die sie nicht recht entschlüsseln kann, bittet Wilhelm aber um das Glück ihres Bruders bei ihr zu bleiben, bis die Sache mit Therese und ihrer Mutter endgültig geklärt ist. Die Verwirrung lässt sich also noch nicht so recht entwirren, schauen wir, wie es weiter geht.


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zuletzt bearbeitet 02.05.2014 13:36 | nach oben springen

#14

RE: Goethes "Wilhelm Meisters Lehrjahre" - ein Leitfaden

in An der Literatur orientierte Gedanken 02.05.2014 12:45
von LX.C • 2.821 Beiträge

Achtes Buch - II

Machen wir uns auf, Wilhelm Meisters Lehrjahre zu schließen. Goethe lässt im Verlauf des achten Buches nichts ungelöst. Keine Geheimnisse bleiben zurück, alles findet seine Zuordnung und Erklärung.
So nach und nach findet sich alles im musealen Schloss des Onkels ein. Zunächst Therese, die unter den Augen des Mädchens Mignon und Natalies eine Bestätigung des Heiratsversprechens Wilhelms einfordert. Der wiederholt leidenschaftlich seinen Willen zur Ehe mit Therese, worauf Mignon, die zu sehr an Wilhelm hing, an gebrochenem Herzen tot zusammenbricht. Die Bestürzung und Trauer ist selbstverständlich groß. Kurz darauf treffen Lothario, Jarno und der Abbe ein, welche die Trauergesellschaft etwas zu zerstreuen wissen. So einige Gespräche werden wieder geführt, über den Charakter der einzelnen Personen, über Anlagen, Eigenschaften, Leidenschaften, Talente und Ausbildung dieser. In diesem Zusammenhang werden auch noch ausstehende Rätsel Wilhelms Lehrjahre gelöst. Unter anderem tritt hier der uns noch unbekannte Bruder Lotharios auf, den wir natürlich schon längst kennen. Es ist Friedrich, der junge, wilde Heißsporn, der Wilhelm neben Mignon und dem alten Harfenspieler einige Zeit in der Schauspieltruppe begleitet hat - siehe 3. Buch - und der schließlich mit Philine durchgebrannt ist - siehe 5. Buch. Wir erfahren nun auch das Schicksal Philines, die glücklich mit Friedrich von ihm ein Kind erwartet. In Folge treten weiterhin neben dem Grafen und der Gräfin ein Freund des verstorbenen Onkels auf, ein Marchese aus Italien, der Begleitung für eine Deutschlandreise sucht, sowie später der Arzt mit dem Harfenspieler.
Durch zwei Erzählungen innerhalb der Erzählung werden die Schicksale Thereses und Mignons bekannt. Der Abbe setzt auseinander, dass Therese aus einer Liebschaft ihres Vaters mit einer Angestellten hervorging. Da die angebliche Mutter Thereses nach mehreren Fehlgeburten keine Kinder bekommen konnte, wurde Therese als leibliches Kind der hohen Herrschaften ausgegeben, wie die Zeugenschaft des alten und damals behandelnden Wundarztes bestätigen kann. Worauf die Heirat zwischen Wilhelm und Therese hinfällig wird und die zwischen ihr und Lothario beschlossene Sache ist.
Der Marchese wiederum erzählt die Geschichte seiner Familie. Wir erfahren von dem unglücklichen Verhältnis seines Bruders mit seiner Schwester, die den Brüdern als solche lange Zeit nicht bekannt war. Aus dieser Liebschaft ging ein Kind hervor, das eines Tages spurlos verschwand. Auch hier treten allerlei Verwicklungen zutage. Wesentlich ist, dass sich Mignon als dieses Kind herausstellt und der alte Harfenspieler als der Vater Mignons und Bruder des Marcheses.
Die Tragik nimmt jedoch ihren Lauf, indem der Marchese abreist, noch bevor der Harfenspieler mit dem Arzt auf der Bildfläche erscheint. Und sich der Harfenspieler das Leben nimmt, nachdem er glaubt, Wilhelms Kind Felix versehentlich vergiftet zu haben.
Es bleibt uns das Happyend zwischen Lothario und Therese, Jarno, der nun Lydie ehelichen will, die natürlich die ganzen Geschichten zwischen den Freunden und ihrem geheimen Bund nicht verstanden hatte und sich daher abfällig äußerte, und letztlich zwischen Wilhelm und Natalie, die nach einigen letzten Verwirrungen und Missverständnissen doch noch zueinander finden.


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zuletzt bearbeitet 02.05.2014 13:14 | nach oben springen

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RE: Goethes "Wilhelm Meisters Lehrjahre" - ein Leitfaden

in An der Literatur orientierte Gedanken 02.05.2014 13:30
von LX.C • 2.821 Beiträge

Berichtigungen und Ergänzungen, vielleicht auch Diskussionen über den einen oder anderen inhaltlichen Aspekt sind selbstverständlich willkommen.


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