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Hirngespinste

Austausch zwischen Literatur und Kunst


#16

RE: Juni/Juli 2019

in Lektüreliste 17.06.2019 11:28
von LX.C • 2.821 Beiträge

Ich kenne nichts weiter von ihm. Habe nur von diesem Buch gehört und bin gerade am Anfang. Bisher ist es toll geschrieben. Der Autor kommt aus dem heutigen Bosnien, ursprünglich, und es geht um den Spagat zwischen Heimat, einer Heimat, die genau genommen nicht mehr existiert (Jugoslawien) und der Integration in D. Ob das was für Dich wäre kann ich nicht sagen. Mich interessieren gegenwärtig die Kriege während des Zerfalls Jugoslawiens, so kam eins zum anderen.


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zuletzt bearbeitet 17.06.2019 11:31 | nach oben springen

#17

RE: Juni/Juli 2019

in Lektüreliste 17.06.2019 15:25
von Patmöser • 1.121 Beiträge

Zitat von LX.C im Beitrag #16
Ich kenne nichts weiter von ihm. Habe nur von diesem Buch gehört und bin gerade am Anfang. Bisher ist es toll geschrieben. Der Autor kommt aus dem heutigen Bosnien, ursprünglich, und es geht um den Spagat zwischen Heimat, einer Heimat, die genau genommen nicht mehr existiert (Jugoslawien) und der Integration in D. Ob das was für Dich wäre kann ich nicht sagen. Mich interessieren gegenwärtig die Kriege während des Zerfalls Jugoslawiens, so kam eins zum anderen.


Danke für deine Antwort,

so richtig vertragen haben sich die Balkanvölker wohl nie, und am ende gibt es keine Unschuldigen mehr, wenn es sie denn je gab.

Ich habe mir, bei Thalia, Saša Stanišić - Wie der Soldat das Grammofon repariert, zur Ansicht bestellt, neben Das Leuchten am Rand der Welt von Eowyn Ivey, das wurde mir wärmstens empfohlen, und da ich schon immer mal nach Alaska wollte...

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#18

RE: Juni/Juli 2019

in Lektüreliste 01.07.2019 10:09
von LX.C • 2.821 Beiträge

Ich denke "Wie der Soldat das Grammofon repariert" werde ich mir auch noch vornehmen. Hast Du schon einen Eindruck gewinnen können?


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#19

RE: Juni/Juli 2019

in Lektüreliste 09.07.2019 22:27
von Taxine • Admin | 6.678 Beiträge

Das Problem mit der modernen Literatur!!! Davon können wir irgendwie alle ein Lied singen. Ich weiß auch nicht, aber selbst wenn viele Romane ganz gut erzählt sind, fehlt immer irgendetwas. Das Ganze ist am Ende zu seicht, geht selten in die Tiefe oder ist auf "Special Effects" beschränkt. Es packt einen im Grunde nie ganz. Wenn ich dann vergleiche, z. B. die jetzige Lektüre von Conrad oder Hamsun ... Hier kann auch alles etwas langatmiger sein, aber es fesselt trotzdem, man wird mitgerissen. Vielleicht stört mich an modernen Romanen einfach das Alltägliche, das erzählt wird, das man, da Teil der gleichen Gegenwart, ja auch kennt. In alten Literaturstoffen findet sich eine andere Welt. Die lockt mich immer wieder.

Von Conrad lese ich "Mit den Augen des Westen". Ich nahm immer an, das wäre ein authentischer Bericht seiner Reise nach Russland, also eine Art Tagebuch. Es handelt sich aber um einen Roman, genauer um das bekannte Thema Revolution. Hier ermordet ein Student einen verhassten Minister und flüchtet sich zu einem Kommilitonen, der ihn dann verrät und später im Ausland von den Revolutionären als Held gefeiert wird, da alle annehmen, er wäre in den Plan des Mords involviert gewesen. Das Ganze wird von einem englischen Sprachlehrer erzählt, der sowohl die Beichte des Spitzels zur Hand hat (der gleichzeitig der Protagonist ist und Rasumoff heißt) als auch die Geschichte aus der Sicht anderer beteiligter Personen darstellt. Von Hamsun lese ich, da jetzt bei "Gutenberg Projekt" erhältlich, "Die Weiber vom Brunnen". Einfach nur herrlich und witzig und tragisch und ... eben ein typischer Hamsun.

Von Saša Stanišić habe ich "Vor dem Fest" gelesen. Witzig, jeder liest ein anderes Buch. Ich mag seinen Humor und das Erzählte aus dem Dorf. Auch verbindet er mystische und moderne bzw. alltägliche Dinge als lockeres Spiel, so in diesem Buch z. B. der Fährmann, der jedoch nicht den Tod bringt, sondern selbst stirbt, und ähnliches. Hat mir gefallen.




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#20

RE: Juni/Juli 2019

in Lektüreliste 10.07.2019 14:57
von LX.C • 2.821 Beiträge

Zitat von Taxine im Beitrag #19
Von Saša Stanišić habe ich "Vor dem Fest" gelesen. Witzig, jeder liest ein anderes Buch. Ich mag seinen Humor und das Erzählte aus dem Dorf. Auch verbindet er mystische und moderne bzw. alltägliche Dinge als lockeres Spiel, so in diesem Buch z. B. der Fährmann, der jedoch nicht den Tod bringt, sondern selbst stirbt, und ähnliches. Hat mir gefallen.

Ah Dorfgeschichten? Der Autor gefällt mir ja immer besser. :) Das muss ich mir dann auch vormerken.

Zitat von Taxine im Beitrag #19
Das Problem mit der modernen Literatur!!! Davon können wir irgendwie alle ein Lied singen. Ich weiß auch nicht, aber selbst wenn viele Romane ganz gut erzählt sind, fehlt immer irgendetwas. Das Ganze ist am Ende zu seicht, geht selten in die Tiefe oder ist auf "Special Effects" beschränkt. Es packt einen im Grunde nie ganz. Wenn ich dann vergleiche, z. B. die jetzige Lektüre von Conrad oder Hamsun ... Hier kann auch alles etwas langatmiger sein, aber es fesselt trotzdem, man wird mitgerissen. Vielleicht stört mich an modernen Romanen einfach das Alltägliche, das erzählt wird, das man, da Teil der gleichen Gegenwart, ja auch kennt. In alten Literaturstoffen findet sich eine andere Welt. Die lockt mich immer wieder.


Ja bei Deinen ersten Worten die ich las, waren meine Gedanken: Der Tiefgang fehlt meistens. Und so schreibst Du es dann auch. Und zudem die Reise in eine andere Zeit. Das ist das, was mich auch am meisten reizt. Neben der Historie hat Literatur eben das besondere Potential, das Innenleben zu transportieren. Etwas zu erfahren über die Menschen, die vor uns gelebt haben. Nicht nur einfach das hier und jetzt im gegenwärtigen Leben "abspulen", sondern wenn man schon Gast auf dieser Welt ist, auch so viel wie möglich über vergangenes Leben zu erfahren. Reise durch die Zeit, das ist Literatur für mich.


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zuletzt bearbeitet 10.07.2019 14:59 | nach oben springen

#21

RE: Juni/Juli 2019

in Lektüreliste 10.07.2019 23:19
von Taxine • Admin | 6.678 Beiträge

Zitat von LX.C im Beitrag #20
Reise durch die Zeit, das ist Literatur für mich.

Besser kann man es nicht sagen.




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#22

RE: Juni/Juli 2019

in Lektüreliste 11.07.2019 13:46
von LX.C • 2.821 Beiträge

Ein Klassiker (im Sinne von in die Jahre gekommen :) neu aufgelegt: Laessing - Das Leuchten der Blüten der Kapuzinerkresse: Gedichte und Geschichten

Nach Jahren könnte das nun endlich zu einem guten Abschluss führen. Die Erstauflage war meiner Meinung nach uuuuunlesbar. Diese winzige Schrift hat mich sowas von gequält und zum Abbruch geführt. Nun endlich wurde das Buch in einer sehr würdigen Form und schön gedeckelt neu aufgelegt.


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#23

RE: Juni/Juli 2019

in Lektüreliste 11.07.2019 13:48
von LX.C • 2.821 Beiträge

Zitat von Taxine im Beitrag #21
Zitat von LX.C im Beitrag #20
Reise durch die Zeit, das ist Literatur für mich.

Besser kann man es nicht sagen.


Ein Liebesgedicht

Bücher sind Reisen durch die Welt und durch die Zeit
Ohne, dass man sich vom Fleck bewegen muss

Bücher sind die einzig wahrhaften Zeitmaschinen

Bücher sind Theaterbühnen
Auf ihnen kann ein jeder fremdes Leben inszenieren

Bücher sind die schönsten Lebenslügen

© by LX.C


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#24

RE: Juni/Juli 2019

in Lektüreliste 16.07.2019 19:41
von Taxine • Admin | 6.678 Beiträge

Irgendwie ist alles Lebenslüge. Bücher sind vielleicht noch eher an der Wahrheit dran als der einfache Blick in den Spiegel.

Ich lese jetzt Michail Djomin "Die Tätowierten". Einsame Spitze!!! Steht schon so lange im Regal und wurde nun endlich beim Blättern einer längeren Betrachtung unterzogen, die sich gelohnt hat. Kein Samisdat, aber dennoch der Rückblick auf die Welt der Lager. Hier sieht man zum ersten Mal die Seite des Verbrechers, nicht des Intellektuellen bzw. Politischen. Djomin war auch in Kolyma und anderen Bereichen (wie z. B. Schalomow). Er hat das Ganze zwar als Roman verfasst, die Zeilen enthalten jedoch viel Autobiografisches. Dazu ist alles hervorragend geschrieben, nicht nur spannend, witzig, einfallsreich und tragisch, sondern auch poetisch und tiefgreifend.
Das Buch entstand nicht mehr in Russland, sondern wurde von Djomin verfasst, als er längst in Frankreich lebte, entsprechend als Rückblick. Es erinnert mich in der poetischen Darstellung etwas an Genet.

Djomin gehörte zu einer mächtigen Diebesbande und war auf Eisenbahnraub spezialisiert, bevor er in die verschiedenen Lager kam. Hineingeraten ist er in dieses Milieu noch sehr jung und durch seine Bestrafung wegen Arbeitsverweigerung, die er im Gefängnis abbüßen musste. Seine Mutter war nicht für ihn da, sein Vater starb kurz vor der eigenen Verhaftung als Politischer an einem Herzinfarkt. Djomin schlug sich irgendwie durch und berichtet von eindrucksvollen Erlebnissen in der Verbrecher- und Lagerwelt.
Bekannt ist, dass Verbrecher im Lager besser behandelt wurden als Politische. Aber Djomin macht auch vieles durch, besonders mit anderen Inhaftierten. Ein wichtiges Markenzeichen der Verbrecher (Blatnyje genannt) war entsprechend die Tätowierung. Das Buch fängt schon spannend an, mit der Beschreibung der Kommunikation im Gefängnis anhand von Klopfzeichen.

Herrlich ist z. B. die Geschichte seines Hungerstreiks, um sich vor einem Mitgefangenen zu retten, der ihn umbringen will, durch den er hofft, auf die Krankenstation zu kommen. Während er hungert und leidet, erinnert er sich an mehrere Begebenheiten, in denen er das Essen einfach abgelehnt hat und bedauert das zutiefst. Darunter ist eine Situation, in der er von einer dicken Alten eine Schi (die bekannte russische Suppe) serviert bekommt und diese ihn fragt, ob er Knoblauch in die Suppe haben möchte, da man es hier so essen würde. Als er bejaht, nimmt sie eine Zehe, steckt sie sich in den Mund, zerkaut sie und spuckt sie sich in die Hand, um sie dann in seine Suppe zu geben. Alles, was ihm dazu einfällt, ist die Suppe stehenzulassen und zu gehen. Hier stelle ich mich vor, wie ich geguckt hätte. Wohl kaum anders.
In der Hungerphase erkennt er, dass sie es nur gut meinte und das im Grunde eine ähnliche Tradition ist, wie andere Rituale, wo der Gastgeber seine Gäste z. B. mit der Hand füttert. Bei einer anderen Gelegenheit schlägt er ein reichhaltiges Mahl aus, weil er aus Versehen sieht, dass das Fladenbrot zwischen den sehnigen und faltigen Schenkeln einer alten Frau geformt wird. Das ist schön bildreich beschrieben. Kurz, es sind auch viele humorvolle Szenen enthalten.




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#25

RE: Juni/Juli 2019

in Lektüreliste 22.07.2019 08:23
von Patmöser • 1.121 Beiträge

Zitat von LX.C im Beitrag #18
Ich denke "Wie der Soldat das Grammofon repariert" werde ich mir auch noch vornehmen. Hast Du schon einen Eindruck gewinnen können?


Lesenswert, ein großartiger Erzähler, interessanter Zeitrahmen. Menschen die viel erlebt und viel durchgemacht haben, die haben eben auch etwas zu erzählen. Im Gegesatz zu unserer blutleeren Gegenwartsliteratur, die oft nur gewollt, langweilig und öde ist. Ich glaube von diesem Schriftsteller ist noch einiges zu erwarten.
Wir waren einige Wochen auf einer Rucksacktour durch Südvietnam, wenn man dann wieder nach Deutschland kommt, dann begreift man erst so richtig den Wahn und Irrsinn, der in diesem kaputten Land zur Tagesordnung geworden ist. Ich fühle mich hier, in diesem Deutschland, nicht mehr wirklich wohl.

Bei mir zur Zeit auf dem Lesetisch ein Buch von Sarah Orne Jewett: Im Land der spitzen Tannen (Manesse). Eines dieser Kleinode, die wir suchen und die - uns auch immer wieder finden.

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#26

RE: Juni/Juli 2019

in Lektüreliste 22.07.2019 08:37
von Patmöser • 1.121 Beiträge

Zitat von Taxine im Beitrag #24
Irgendwie ist alles Lebenslüge. Bücher sind vielleicht noch eher an der Wahrheit dran als der einfache Blick in den Spiegel.

Ich lese jetzt Michail Djomin "Die Tätowierten".



Überredet und in einem Antiquariat in guter Qualität erstanden.

Danke! Bitte mehr davon, denn es muss ja nun nicht immer Tschechow, Gogol oder Tolstoi sein. Ich liebe sie, diese Sorokins und Jerofejews. Und Schalamow sowieso, Menschen die viel mutiger sind, als ich es bin.

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#27

RE: Juni/Juli 2019

in Lektüreliste 22.07.2019 23:44
von Taxine • Admin | 6.678 Beiträge

Ein Antiquariat, das Djomin führt, ist mir sehr sympathisch. Solche Sachen vermisse ich im Ausland schon, dieses Stöbern in diesen wunderschönen alten Läden, wo sich die gebrauchten Bücher stapeln und Menschen hinter der Theke stehen, mit denen man sich stundenlang unterhält, über Proust, Pessoa, Dostojewski ... Diese kleinen unscheinbaren Bücherlandschaften habe ich immer geliebt, in Köln, Düsseldorf, Heidelberg, Magdeburg, Berlin, Schwerin ... überall, wo ich in Deutschland war. Immer stößt man auf solche Läden, die keine Wühlkiste davor haben oder den neusten Bestseller, und die im Regal auch uralte Kunstwerkbücher führen, die ich mir natürlich nie leisten konnte.
Das gibt es in Griechenland zwar auch, jedoch nur mit griechischen oder englischen Büchern. Das ist schon etwas anderes, und immer noch bevorzuge ich das Lesen in deutscher Sprache, die viel verspielter, viel bildreicher, viel eleganter ist und mich natürlich auch geistig anders erreicht. Auf Einzigartigkeiten stößt man da selten, diese Bücher (aus Büchern) lassen sich nur online bestellen, wobei der Effekt des Entdeckens leider verloren geht.

Aber das, was du sagst, erinnert mich an die vielen Gründe, warum ich Deutschland verlassen habe. Ich habe mich auch nicht mehr wohl gefühlt und in Griechenland eine tiefe Seelen-Heimat gefunden. Manchmal reist man und findet auf einmal, und die Schritte dazu sind dann nur noch eine Art Bestimmung. Ich denke, bei mir war es so ähnlich. Das ändert natürlich das grundlegende Wesen nicht, nur das jetzige, aktuelle, und auch das nur geringfügig (wenn ich so zurückschaue). Allerdings hat es auch viel Kraft und Zweifel gekostet, viel Selbstfindung und Selbstverlust, viel Orientierungslosigkeit, die dann bewältigt werden musste. Für die Zeit bin ich dankbar. Sie hat mir gezeigt, wer ich bin.
Und immer noch baue ich meine Regale und liebe den Anblick all der Bücher, die ich nach und nach heraushole oder einordne. Sie spiegeln mich irgendwo, diese Werke und sind Momenteinflüsse oder Erinnerungsstücke. Sie sind nicht immer das, was mich tatsächlich geprägt hat, aber sicherlich eine Stütze und eine hilfreiche Weggabelung.

In Sachen Samisdat gibt es natürlich viele, die etwas hinterlassen haben oder einfach nur das, was in diesen langen Jahren passiert ist, ins Wort gefasst haben. Dazu die Dichter und Dichterinnen wie Mandelstam, Zwetajewa, Jessenin... Achmatowa. Da lohnt nun wirklich alles, auch die Werke der Hinterbliebenen, so das "Jahrhundert der Wölfe" von Nadescha Mandelstam oder die wenigen Aufzeichnungen der Tschukowskaja. ("Sofia Petrowna", Untertauchen" oder "Ein leeres Haus").
Wenn es um die Lager-Berichte geht, die auch tiefer gehen, dann empfehle ich Abram Terz alias Andrej Sinjawskij mit seinem Buch "Stimmen im Chor". Eines der erstaunlichsten Bücher, die ich gelesen habe, wenn man bedenkt, dass Sinjawski aus einem Lager schreibt. Statt Vorwurf steht hier der philosophische Gedanke über Leben und Sein im Vordergrund, vermengt mit den Aussprüchen der Gefangenen (die sind dann der Chor). Sinjawski schickte 20 Seiten lange Briefe an seine Frau, die in den sieben Jahren seiner Gefangenschaft zu etwa 5000 Manuskriptseiten heranwuchsen, aus denen dieses Buch entstand. Reflexionen über Literatur und Kunst bilden das Grundelement. Man spürt nur an den Zwischenstimmen anderer Gefangener, wo sich Sinjawski im Augenblick des Schreibens befindet. Er selbst „rettet“ sich durch den Rückzug in den Geist. Wunderbare und tiefsinnige Gedanken sind da zu finden. Ich habe seitenlang gestaunt.

Gut ist auch Wladimir Bukowski mit seinem Buch "Wind vor dem Eisgang". Diese Bücher sind nicht nur blanker Bericht. Bei Schalomow z. B. habe ich zwar alle vier Bücher über Kolyma gelesen, das beste ist aber tatsächlich das erste. Und von Solschenizyn sind auch die anderen Werke gut, darunter "Krebsstation" (wo sich der Mensch damit auseinandersetzen muss, dass die Krankheit "wirklich" alle gleich macht und dass sich keiner mehr unterscheidet, wenn alle dem Tod geweiht sind) oder "Der erste Kreis der Hölle" ( wo es um die Wissenschaftler geht, die dann nach und nach verhaftet werden). Manche Bücher legt man einfach weg und kann sie nicht vergessen. Diese gehören für mich dazu.

An meinem Russenregal entlanggeschlendert habe ich Anatoli Marienhof entdeckt und gelesen, der viel über Jessenin geschrieben hat, da sie befreundet waren. Sein Buch "Roman ohne Lüge" handelt davon. "Zyniker" war interessant und gibt einen Einblick in die Welt der Imaginisten (mag nicht jeder) und "Roman mit Freunden" ist seine Autobiografie (die packt besonders am Ende, ein Fass an Lebenstragik!). Nun lese ich Fritz Mieraus Biografie über Jessenin. Der hat auch das tolle "Russen in Berlin"-Buch zusammengestellt. Mal sehen.




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#28

RE: Juni/Juli 2019

in Lektüreliste 23.07.2019 15:24
von Patmöser • 1.121 Beiträge

Zitat von Taxine im Beitrag #27




In Sachen Samisdat gibt es natürlich viele, die etwas hinterlassen haben oder einfach nur das, was in diesen langen Jahren passiert ist, ins Wort gefasst haben. Dazu die Dichter und Dichterinnen wie Mandelstam, Zwetajewa, Jessenin... Achmatowa. Da lohnt nun wirklich alles, auch die Werke der Hinterbliebenen, so das "Jahrhundert der Wölfe" von Nadescha Mandelstam oder die wenigen Aufzeichnungen der Tschukowskaja. ("Sofia Petrowna", Untertauchen" oder "Ein leeres Haus").
Wenn es um die Lager-Berichte geht, die auch tiefer gehen, dann empfehle ich Abram Terz alias Andrej Sinjawskij mit seinem Buch "Stimmen im Chor". Eines der erstaunlichsten Bücher, die ich gelesen habe, wenn man bedenkt, dass Sinjawski aus einem Lager schreibt. Statt Vorwurf steht hier der philosophische Gedanke über Leben und Sein im Vordergrund, vermengt mit den Aussprüchen der Gefangenen (die sind dann der Chor). Sinjawski schickte 20 Seiten lange Briefe an seine Frau, die in den sieben Jahren seiner Gefangenschaft zu etwa 5000 Manuskriptseiten heranwuchsen, aus denen dieses Buch entstand. Reflexionen über Literatur und Kunst bilden das Grundelement. Man spürt nur an den Zwischenstimmen anderer Gefangener, wo sich Sinjawski im Augenblick des Schreibens befindet. Er selbst „rettet“ sich durch den Rückzug in den Geist. Wunderbare und tiefsinnige Gedanken sind da zu finden. Ich habe seitenlang gestaunt.

Gut ist auch Wladimir Bukowski mit seinem Buch "Wind vor dem Eisgang". Diese Bücher sind nicht nur blanker Bericht. Bei Schalomow z. B. habe ich zwar alle vier Bücher über Kolyma gelesen, das beste ist aber tatsächlich das erste. Und von Solschenizyn sind auch die anderen Werke gut, darunter "Krebsstation" (wo sich der Mensch damit auseinandersetzen muss, dass die Krankheit "wirklich" alle gleich macht und dass sich keiner mehr unterscheidet, wenn alle dem Tod geweiht sind) oder "Der erste Kreis der Hölle" ( wo es um die Wissenschaftler geht, die dann nach und nach verhaftet werden). Manche Bücher legt man einfach weg und kann sie nicht vergessen. Diese gehören für mich dazu.

An meinem Russenregal entlanggeschlendert habe ich Anatoli Marienhof entdeckt und gelesen, der viel über Jessenin geschrieben hat, da sie befreundet waren. Sein Buch "Roman ohne Lüge" handelt davon. "Zyniker" war interessant und gibt einen Einblick in die Welt der Imaginisten (mag nicht jeder) und "Roman mit Freunden" ist seine Autobiografie (die packt besonders am Ende, ein Fass an Lebenstragik!). Nun lese ich Fritz Mieraus Biografie über Jessenin. Der hat auch das tolle "Russen in Berlin"-Buch zusammengestellt. Mal sehen.


Danke für dein informatives Essay, liebes Taxinchen, voller wertvoller Hiweise, Ratschläge und Bücherverführungen.

Das Buch Untertauchen von Lydia Tschukowskaja ist schon geordert, weitere werden sicherlich folgen. Aber erst einmal muss ich mir mindestens zwei neue Bücherregale zulegen, es geht einfach nicht mehr so weiter, mit dem „Büchergequetsche“. Aber hier stellt sich dann wieder die Frage, wohin mit den Regalen? Dazu noch eine nicht unerhebliche Frage – wohin mit der revoltierenden Dame?
(Obwohl meine Frau in allen Belangen meines Bücherdaseins immer hinter mir steht, aber beim Meublement...)

Existenzielle Fragen eines Büchernarren, zu der sich die Frage gesellt, wird es irgendwann so etwas wie ein deutsches Samsidat geben? Denn die gehorsamlich Angepassten und politisch anschmiegsamen Edelfedern feiern in dieser Zeit des geistig und moralisch genormten - Stillgestanden wohl ebenso fröhliche Urständ, wie die Speichellecker und fürsorglich Untertänigen in der damaligen Sowjetunion.

So sind wir also würdige Vertreter des Menschen in der Revolte, irgendwie.
Und ist dieses Forum in einer gewissen Weise nicht selbst ein wenig „Samsidat“!

Hier einige Bücherempfehlungen zum Thema von mir, oder besser, von der mich seit gut 30 Jahren umhegenden und literarisch betreuenden Büchermama, im Buchladen meiner Wahl und Qual.

Das Haus der Regierung: Eine Saga der Russischen Revolution, Yuri Slezkine

Blut und Feuer, Artjom Wesjoly

Luftgänger, Jewgeni Wodolaskin

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#29

RE: Juni/Juli 2019

in Lektüreliste 23.07.2019 16:55
von Taxine • Admin | 6.678 Beiträge

Zitat von Patmöser im Beitrag #28
Aber hier stellt sich dann wieder die Frage, wohin mit den Regalen? Dazu noch eine nicht unerhebliche Frage – wohin mit der revoltierenden Dame?
(Obwohl meine Frau in allen Belangen meines Bücherdaseins immer hinter mir steht, aber beim Meublement...)

Hahaha... ja, ja. Dieses Problem kommt mir sehr bekannt vor. Obwohl es ja in der Geschichte Beispiele gibt, wo Bücherwahnsinnige mehrere Häuser bauten, um ihre Sammlung unterzubringen. Wir sind auf Räume beschränkt und hoffen auf eine halbwegs gute Höhe der Regale. Der Kampf um den Platz geht weiter, das Aussortieren ist mittlerweile Pflicht, um Neues hineinzubekommen. Ein Buch wird daher für ein anderes geopfert, erweist sich dieses als aufbewahrungsfähig. So vielleicht auch deine Empfehlungen. Vielen Dank dafür. Ich kenne keines davon und werde sie mir besorgen. Solche Tipps sind klasse.

Dieses Forum als kleines "Samisdat" zu sehen, ist eine schöne Idee. Dass der Büchermarkt mittlerweile komplett durch vorgeschriebene Veröffentlichungen dominiert ist, wundert mich nicht. Solche Werke wie die genialen von Bela Hamvas z. B. werden in der Übersetzung und Veröffentlichung nicht gefördert, obwohl der Ungar bereits zu Lebzeiten ständig kämpfen musste und trotzdem weitergeschrieben hat. Freiwillige versuchen, das Gigantenwerk "Karneval" ins Deutsche zu übertragen, was sich letztendlich als sehr schwierig erweist. Kein Verlag übernimmt die Veröffentlichung. Eine Schweinerei ist das. Die Übersetzer sprechen hier auch von einem "digitalen Samisdat" und versuchen wenigstens online einige Auszüge zu präsentieren. Ich bin ein großer Fan von Hamvas, z. B. seine Essays "Kierkegaard in Sizilien". Die gibt es zum Glück mittlerweile als Buch.

Hier interessante Einblicke in den Roman.

Oder hier etwas über das Projekt der Übersetzung.




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#30

RE: Juni/Juli 2019

in Lektüreliste 23.07.2019 18:59
von Taxine • Admin | 6.678 Beiträge

Die Biografie von Mierau über Jessenin gewinnt neben dem informativen Inhalt noch einmal durch die zahlreichen Abbildungen. Darunter auch die Portraitzeichnungen von Yuri Annenkov (Juri Annenkow), der auch Achmatowa und andere dieser Epoche so großartig eingefangen hat. Hier Chodassewitsch und Georgi Iwanow. (Scan aus dem Reclam-Buch.)




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