HirngespinsteAustausch zwischen Literatur und Kunst |
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Zunächst aber doch noch ein Stück deutsche Geschichte in einer irgendwie ziemlich eigenartigen Konstellation. Sevgi Özdamar - Seltsame Sterne starren zur Erde.
Eine türkischstämmige Schauspielerin und Autorin berichtet über das geteilte Berlin der 70er, genauer 1976/1977. Dabei wechselt sie aus beruflichen Gründen (wohnhaft in einer seltsamen westberliner Studenten WG, Volontariat oder Engagement am Berliner Ensemble) zwischen West und Ost. Der Tagebuchroman, so der äußere Eindruck, beginnt zu Weihnachten mit vielen witzigen Anekdoten aus der verlassenen WG.Der Schreibstil erscheint mir indes noch ein wenig spröde. Ich denke das gibt sich. Bin jedenfalls gespannt.
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[i]Poka![/i]
Zitat von LX.C im Beitrag #1
Der Schreibstil erscheint mir indes noch ein wenig spröde.
Das muss man definitiv streichen. Die Sprache fließt inzwischen wie Milch aus der Kanne. Ist reich an Bildern und wechselt je nach Schilderung der Heimat, des Westens oder des Ostens Berlins in eine angemessene Form. Vielleicht hatte ich selbst einen schlechten Tag. Ein wunderbares, großartiges Buch mit unheimlich viel Atmosphäre. Man kann so richtig schön eintauchen in diese damalige Welt der Gegensätze. Auch diese herrliche (positive) Naivität, mit der sie die Dinge der ihr fremden Welt betrachtet, aufnimmt, annimmt. Da sitzt ihr z.B. bei der Arbeit in der Volksbühne ein Stasimitarbeiter gegenüber und fragt sie aus und sie merkt es natürlich nicht mal. Herrlich.
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[i]Poka![/i]
Ich bin ganz im russischen bzw. sowjetischen und dann doch wieder russischen Leben. Nach Maximow nun Rasputin. In "Abschied von Matjora" geht es um eine kleine russische Insel, die für den "Aufbau" und Bau eines neuen Kraftwerks überschwemmt werden soll und um den Kampf bzw. die Ohnmacht der Alten, die in eine neue Siedlung umquartiert werden sollen. Vom Verlust des Friedhofs und ihrer Verwandten bis hin zur Akzeptanz der Umstände beschreibt Rasputin diese Situation und das Leben sehr warmherzig und schön. Er erinnert an eine Mischung aus Bykau und Bunin. Alles sehr gemächlich erzählt und ohne Leid und Todschlag. Und doch trägt sich diese tiefe Traurigkeit gut durch die Zeilen. Ein sehr einprägsames Buch.
Art & Vibration
Das wird nicht explizit gesagt, aber der Zeitraum kommt schon hin, 50er, 60er Jahre. Ich denke, der Verweis auf das Kraftwerk und den Staudamm und der Handlungsort in Sibirien sind Hinweise darauf. Diese Großprojekte wurden mit dem Verschleiß der Häftlinge häufiger umgesetzt. Rasputin geht aber nicht näher darauf ein. Die Geschichte befasst sich ausschließlich mit den betroffenen Personen, genauer mit den Dorfbewohnern. Ich denke, die Alten, die Kinder und Enkelkinder vertreten jeweils eine Generation an Russen, Kommunisten und Sowjetbürgern. Rasputin geht es eher um das Menschliche als um die Kritik an der Zeit, obwohl alles dennoch durchschimmert.
"In den Wäldern der Zuflucht" wiederum spielt, wie ich noch einmal nachgesehen habe, tatsächlich während des Zweiten Weltkriegs, jedoch, wie du sagst, in Russland. Hier geht es um Kriegsverweigerung und die dazugehörige Flucht. Beide Romane sind für mich eine Bereicherung gewesen.
Jetzt lese ich das nächste Buch von Maximow. "Eine Arche für die nicht Geladenen". Scheint mir eine Art Fortsetzung von "Abschied im Nirgendwo", allerdings nur, weil einer der Protagonisten die Familie kurz aufsucht und ein Verwandter ist. Eine direkte Verbindung gibt es nicht. Auch hier wieder ganz der Sprung in die typische Atmosphäre. Maximow scheint das Zugfahren überhaupt als Handlungsort und Stilmittel zu bevorzugen.
Art & Vibration
Zitat von LX.C im Beitrag #1
Zunächst aber doch noch ein Stück deutsche Geschichte in einer irgendwie ziemlich eigenartigen Konstellation. Sevgi Özdamar - Seltsame Sterne starren zur Erde.
Eine türkischstämmige Schauspielerin und Autorin berichtet über das geteilte Berlin der 70er, genauer 1976/1977. Dabei wechselt sie aus beruflichen Gründen (wohnhaft in einer seltsamen westberliner Studenten WG, Volontariat oder Engagement am Berliner Ensemble) zwischen West und Ost. Der Tagebuchroman, so der äußere Eindruck, beginnt zu Weihnachten mit vielen witzigen Anekdoten aus der verlassenen WG.Der Schreibstil erscheint mir indes noch ein wenig spröde. Ich denke das gibt sich. Bin jedenfalls gespannt.
Zunächst eine Korrektur, nicht das Berliner Ensemble (das sie wegen Brecht verehrt) sondern die Volksbühne zur Zeit Benno Besson.
Ein wirklich sehr lebendiges Buch, das zwischen 1976 und 1978 handelt. Interessant ist, wie Ostberlin der Erzählerin immer mehr zu einem Zuhause wird, in dem sie sich wohl, geborgen und glücklich fühlt, während sie die chaotische Lebensweise in Westberlin zunehmend nur noch für Kurzbesuche erträgt.
Leider wechselt die Autorin ca. ab Seite 80, mit erstmalig dauerhaftem Übertritt in die DDR in den Tagebuhstil. Ich hätte es lieber als zusammenhängende Erzählung weiter gelesen. Nichts desto trotz ein Tolles Stück Zeit- und Theatergeschichte aus dem persönlichen Blickwinkel einer politisch neutralen Erzählerin auf der Suche nach ihrem Glück. „Aber dein Glück ist nicht das Glück der anderen. Du normalisierst die Mauer. Für dich bedeutet hier zu sein eine Erweiterung deiner Möglichkeiten, zu arbeiten und zu leben. Andere aber sehen ihre Möglichkeiten beschränkt. Selbst wenn nicht alle erträumten Möglichkeiten der Menschen realistisch sind, wird doch die Beschränkung in der DDR als wirklich empfunden.“ Antwortet ihr ihre Mitbewohnerin und Schauspielkollegin Gabriele Gysi (Schwester von Gregor Gysi) auf dieses „naive“ Glück. Doch gerade dieses „naive“, unpolitische Glück der Erzählerin in der DDR macht das Buch so unheimlich sympathisch. Klare Empfehlung.
Zitat: Emine Sevgi Özdamar: Seltsame Sterne starren zur Erde, Kiepenheuer & Witsch, 2. Auflage 2008, S. 182.
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[i]Poka![/i]
Hört sich interessant an.
Ich habe jetzt auch endlich "Die ungarische Tragödie" aus meinem Samisdat-Stoff gelesen. Hier berichtet Sandor Kopasci von den Ereignissen 1956 in Ungarn. Als ehemaliger Polizeipräsident ist das besonders aufschlussreich. Kopasci sollte mit Nagy und anderen hingerichtet werden, bekam dann aber 10 Jahre Gefängnis, die durch eine Generalamnestie unter Chruschtschow 3 Jahre vor Ablauf der Zeit aufgehoben wurden. Das Buch ist gut geschrieben. Bei der Freilassung erhielt Kopasci nicht einmal seine bürgerlichen Rechte zurück und musste auch darum kämpfen.
Verwundert hat mich die Selbstverständlichkeit seines Berichts über die Vorgänge in Haft, während er auf die Verhandlung wartet. Den Gefangenen wurde vor dem Prozess jeden Tag ein Beruhigungsmittel verabreicht, damit sie lethargisch wurden. Dieses war dazu auch noch in einer Testphase, so dass der zugeteilte Arzt nicht einmal wusste, wie sich das Mittel auswirken würde. Wer es als Saft gereicht verweigern wollte, bekam es gespritzt. Zwei politische Gefangene wurden in der Nähe Kopascis bereits in der Zelle ermordet, damit es zu keiner Aussage kam. Die Russen und der ungarische Sicherheitsdienst hatten da ihre Methoden.
Jetzt bin ich (in der Vergangenheit zurück) direkt in der russischen Revolution 1905 gelandet. Diesmal wieder ein Roman, sogar ein gutes Buch, sehr eigenartig konzipiert. Es handelt sich um "Wiktor Wawitsch", geschrieben von Boris Schitkow. War damals eine Empfehlung in dem Klopper von Rolf Vollmann über Literatur, der hier auch die Einleitung schreibt. Schitkow war eigentlich Kinderbuchautor und hat nur dieses eine Hauptwerk geschrieben, von dem er die Veröffentlichung nicht mehr miterlebt hat. Der Stil ist teilweise stark verkürzt und trifft die Situation oder Beschreibung dennoch punktgenau. Bisher, etwa 150 Seiten weit, gefällt es mir gut.
Art & Vibration
Ja diese Geheimdienstgeschichten sind schon immer wieder erschreckend, menschenverachtend erschreckend. Özdamars "Seltsame Sterne starren zur Erde" regt vielfach auch zur Weiterrecherche an, da sie sich zum Teil in sehr interessanten Kreisen bewegte. Z.B. im Fall Rudolf Bahro, DDR Dissident und später Politiker bei den Grünen. Dessen Krebstod wurde auch mit heimlichen Röntgenbestrahlungen durch die Stasi während der Haft in Verbindung gebracht. Später fand man wohl raus, dass dessen DDR kritisches Buch, also Manuskripte davon von der Stasi durch Radioaktivität markiert waren.
Özdamar verweilte übrigens nicht länger in der DDR, als die Spanne des Buches umfasst. Sie nahm den Rat ihres Mentors Benno Besson an, nicht zu lange an einem Ort zu verweilen und reiste ihm nach Paris nach, wo sie weiter an seiner Seite assistierte.
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[i]Poka![/i]
Kawerin? Würde von ihm auch gerne wieder etwas lesen. Wie ist das Buch?
MIr gefiel "Zwei Kapitäne" sehr gut. Er kann hervorragend erzählen und schafft einen guten Ausgleich aus Gefühl und Dramatisierung.
Momentan lese ich Oleg Postnow "Angst". Ein sehr schönes Buch, auch empfohlen von Andrej Bitow.
Art & Vibration
Bisher spricht es mich an. Es geht um Fälschungen und Verrat im Wissenschaftsbetrieb Stalins und die Aufarbeitung dessen. Natürlich mit dramatischen menschlichen Verwicklungen. Da ich es auf meiner Reise lesen will, habe ich es aber nur angelesen. Mehr kann ich dazu in drei Wochen sagen.
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[i]Poka![/i]
Die Geduld habe ich. Eine schöne Reise für dich.
Postnow habe ich gestern bis in die Nacht ausgelesen. Das Buch hat mich völlig überrascht und umgehauen. Fing zwar schon gut an, aber nie hätte ich erwartet, dass es genau meinen Nerv trifft.
Unglaublich, was der Schriftsteller geschafft hat. Ich nehme an, wenn drei Menschen diesen Roman lesen, haben alle eine andere Wahrnehmung von dem Geschehen und eine unterschiedliche Deutung der Ereignisse. Nach so etwas suche ich ja. Mit so etwas habe ich gar nicht gerechnet. Am Ende sitzt man und grübelt nach, was da nun wirklich geschehen ist. Bezüge zur russischen Literatur, zu den Griechen, Hölderlin, Empedokles... alles drin. Und eine freie Barriere der Interpretation. Ein Buch zum Wiederlesen, das einen nicht loslässt. Teilweise gemischte Realität und Fantasie. Die dunkle und helle Seite, Tod und Leben, Liebe und Gleichgültigkeit. Traum und Alltag. Einfach der Wahnsinn.
Und nun zu einem ähnlichen Buch von Bitow. "Der Symmetrielehrer". Ein Spiel mit den Sinnen und der Logik des Lesers. Auch als Hommage an Nabokov, Laurence Sterne, Potocki... Etwas für die, die nach einer Herausforderung beim Lesen suchen.
Art & Vibration
Postnow ist Philologe und das macht sich bemerkbar. Er spielt mit Literaturszenen, mit Verschachtelungen und Andeutungen (ähnlich wie bei Nabokov in "Ada" oder anderen Werken.) Das muss man natürlich mögen. Die Geschichte ist aber auch ansonsten schön erzählt und sehr verwirrend.
Art & Vibration