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Hirngespinste

Austausch zwischen Literatur und Kunst

#1

Der Kinderschuh in der Drina

in Lyrik 09.12.2019 14:56
von Sokolow • 197 Beiträge

da geht er und säuft nicht ab
der dichter
der schriftsteller
der große
der
der es verdient hat

er geht durch die schatten der ethnisch gesäuberten
er sieht nicht hin
er hört nicht zu
er hat recht
die stimmen der gesäuberten klingen als gäbe es sie gar nicht
als wären sie nur puppen die man abgestochen hat

er geht dorthin wo die tschetniks sind (die zahlen in die luft werfen und darauf schiessen)
der dichter
der schriftsteller
der
der es verdient hat

geschwind erzählen sie wie stolz es sie macht
in dieses bosnien hineinzuschiessen
sie nennen die toten nicht tote
sie zählen sie bloß und wenn sie gute laune haben
schenken sie dem dichter
dem schriftsteller
der
der es verdient hat
eine zahl

die darf er behalten
der dichter
der schriftsteller
der
der es verdient hat

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#2

RE: Der Kinderschuh in der Drina

in Lyrik 09.12.2019 20:48
von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge

Ein lyrischer Wutausbruch mit wahrem Kern.
Für mich etwas zu häufig im "verdient" wiederholt.
Das lässt sich aus dem Rest schon gut heraushören,
dass Handke für dich nicht genügend abgesoffen ist.
Schwieriges Thema, das für die Lyrik vielleicht gar nicht taugt. Diesmal auch wenig verborgen, eher ins grelle Licht geschoben, was zu sagen bleibt. Emotionen sind gefährlich und verfälschen genauso wie ein prosaischer Blick auf Puppen statt Menschen. Und trotzdem ist auch das wichtig, dieses Darüber-Sprechen, das Pro und Contra.
Der Mann ist ja irgendwo wirklich unmöglich, dieser Schriftsteller, der große, der es verdient hat.
Was er wohl mit dem Preis macht? Sich darin spiegeln? Ihn polieren? Oder die Summe spenden?
Ihn werfen, das jemand darauf zielt? Wer weiß.




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#3

RE: Der Kinderschuh in der Drina

in Lyrik 10.12.2019 09:15
von Sokolow • 197 Beiträge

polieren wird er sich selbst damit :-) Karadzic hatte nach einem Massaker in Sarajevo von Marionetten und Puppen geredet, die
dort auf der Strasse herumlagen, er warf dem Westen vor zu einseitig zu sein. Ein Vorwurf den ich mir im Sinne von Karadzicsendlösungsideen
gerne gefallen lasse, in diesem Fall bin ich gerne einseitig und halte es wie Danilo Kis, der lieber zu den Verfolgten hält als zu den Verfolgern.

zuletzt bearbeitet 10.12.2019 09:16 | nach oben springen

#4

RE: Der Kinderschuh in der Drina

in Lyrik 10.12.2019 16:28
von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge

Ja. Das ist sicherlich mit Blick auf ein Land, in dem die Gräber sprechen, die beste Einstellung und Position.

"... und doch, was tut jetzt mehr not als Geduld, Wunden brauchen Zeit und heilen nicht dadurch, dass man Fahnen in sie einpflanzt. Irgendwie anders muss die Welt in ein haltbares Bewusstsein eingehen, und vielleicht wird das Erste, woran sie sich wiederfindet, ein ganz Unscheinbares, jedenfalls ein Unsägliches sein."

(Brief von Rilke an Anni Mewes, 1919)




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#5

RE: Der Kinderschuh in der Drina

in Lyrik 10.12.2019 16:35
von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge

Zitat von Sokolow
Karadzic hatte nach einem Massaker in Sarajevo von Marionetten und Puppen geredet, die
dort auf der Strasse herumlagen, er warf dem Westen vor zu einseitig zu sein.


Du meinst das Massaker auf dem Markt von Markale. Ich kenne auch das abstruse Gerücht, dass angeblich Muslime sich selbst bombardiert hätten, um den Serben die Schuld in die Schuhe zu schieben. Ein Fernsehsender dort brachte die Nachricht, dass die Behörden Sarajevos Schaufensterpuppen und sogar Leichen aus dem Leichenschauhaus auf den Markt platzierten, um die eigene Schreckenstat zu verheimlichen und das Ganze medial in Szene zu setzen. Daran hat sich Karadzic wohl orientiert. Schlimm genug.




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#6

RE: Der Kinderschuh in der Drina

in Lyrik 10.12.2019 18:56
von Sokolow • 197 Beiträge

ich habe die Bilder direkt aus Bosnien gesehen. Hinterher waren es halt immer die Anderen, wie schäbig. In Tuzla feuerten sie auf eine Stelle an
der sich Jugendliche trafen. 72 junge Menschen starben da, wenn nicht gar mehr.
Warum aber glaubt man Karadzic? Die Reden von ihm sind eindeutig, nicht einmal Handke könnte darin etwas anderes lesen, als Größenwahn und Genozid.
Von ethnischer Säuberung war oft die Rede, mittlerweile sagt das keiner mehr von den nationalen Serben, komisch oder?

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#7

RE: Der Kinderschuh in der Drina

in Lyrik 11.12.2019 12:04
von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge

Zitat von Sokolow im Beitrag #6
Warum aber glaubt man Karadzic? Die Reden von ihm sind eindeutig, nicht einmal Handke könnte darin etwas anderes lesen, als Größenwahn und Genozid.
Von ethnischer Säuberung war oft die Rede, mittlerweile sagt das keiner mehr von den nationalen Serben, komisch oder?

Das Problem ist und bleibt die nationalistische Denkweise. Sogar in Visegrad machen die serbischen Nationalisten weiterhin Terz, stören Trauerfeiern und Gedenktage. Oder marschierten auf und rufen: "Die Drina wird wieder blutig sein."
Da fehlt doch jede Einsicht. Absolut kein Respekt vor den Toten und Lebenden. Daher auch weiterhin die Verehrung von Karadzic, der weltweit als Kriegsverbrecher gilt, bei denen aber als Nationalheld gefeiert wird. Das ist krank, selbst wenn hier in den westlichen Medien vorschnell ein Feindbild festgelegt war. Wäre das ungerechtfertigt, würde wohl auch das heutige Verhalten und Auftreten anders sein. Die Nationalisten zeigen jedoch sehr deutlich, was sie sind. Da fehlt mir jedes Verständnis.




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