HirngespinsteAustausch zwischen Literatur und Kunst |
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Obwohl man mich mit Walser und ähnlich "urdeutschem" Stoff normalerweise jagen kann, gefällt mir das Buch tatsächlich. Gelacht habe ich beispielsweise bei seinen Beobachtungen in der S-Bahn. Das war wie aus dem Leben gegriffen. Lesende Mitfahrer sind nun wirklich unhöflich, wenn da ein laut lachender Schwarzer telefoniert, als wäre er allein, weil ihn keiner versteht, oder wenn erstaunt nachgefragt wird, wie sich jemand in seiner Auffälligkeit selbst erträgt (der weiß Bärtige mit Haarwelle). Da sind ihm einige sehr lebendige Szenen gelungen. Das gleichgültige Mädchen. Der, der sein Wurstbrot betrachtet... solche lesen eben nicht. Und auch das Selbstmordforum als Selbstbespiegelung. Durchaus eine interessante Idee. Eine Moderne, die man erträgt.
Die hermetischen Gedichte des "Verräters" fand ich übrigens gut. Manchmal ist ja alles etwas hermetisch. Zumindest kann man sich so gut herausreden.
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P. S. Und das Ende ist genial erschütternd. Viele wissen nicht, was ihre Handlung anrichten kann und manches geht dann sehr schnell, um zu spät zu erkennen, wie es hätte verhindert werden können. Der innerliche Tod ist der schlimmste. Und, wie Walser, sagt, man stirbt im Leben nie nur einmal. (Oder war's von jemand anderem?)
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Libuse Monikova "Treibeis". Nach "Die Fassade" mein zweites Buch von ihr. Und erneut überzeugend. Beispielsweise erfährt man von einer weiblichen Jesus artigen Figur mit Kleid und Bart, die ans Kreuz geschlagen ist und die Heilige Kümmernis genannt wurde. Die Darstellung basiert auf der heiligen Wilgefortis und war in Europa durchaus verbreitet. Sie ist noch heute in einigen Kirchen zu bewundern, obwohl sie offiziell nicht als Heilige anerkannt ist.
Die Geschichte dahinter ist nicht weniger skurril als die Darstellung. Die Gegreuzigte mit Bart war eine christliche Jungfrau aus dem 2. Jahrhundert, deren Vater sie zwingen wollte, einen Heiden zu heiraten. So wand sie sich an Gott und bat darum, sie körperlich so zu entstellen, dass die Männer von ihr ablassen. Damit wuchs ihr ein Bart, wodurch ihr Vater so erbost war, dass er sie kreuzigen ließ, damit sie Christus nur umso mehr gleiche.
Drei Tage lang predigte sie noch vom Kreuz herab und überzeugte dabei viele Menschen vom christlichen Glauben, darunter am Ende auch ihren ungnädigen Vater, den König, der ihr aus Buße eine Kapelle errichtete.
Das alles ist bei Monikova nicht ausgeführt und nur am Rande erwähnt, wenn man als Leser jedoch auf so etwas gestoßen wird, ist man dankbar. So etwas liebe ich in der Literatur, ähnlich wie den Verweis auf Giovanni Battista Braccelli, einem Graveur aus dem 17. Jahrhundert, der eine Art Vorreiter zum Surrealismus ist und schon damals roboterähnliche und auseinander driftende Figuren zeichnete, bekannt als die Serie "Bizzarie di varie figures".
(Quelle: https://artsandculture.google.com/asset/.../TgH11nLhLdwm-Q)
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Ich lese nun, dank der lieben Empfehlung von Sokolow, Nora Ikstenas "Muttermilch". Faszinierend vom ersten Satz an. Mutter und Tochter erzählen abwechselnd die Geschichte ihrer Familie in Lettland. Die Tochter berichtet besonders vom schwierigen Verhältnis zur Mutter, einer Ärztin, die ihre wissenschaftliche Karriere wegen einer künstlichen Befruchtung aufgeben muss, aber eher, weil sie den brutalen Mann der Frau zusammenschlägt, der ausgerechnet ein ehemaliger Kriegsveteran ist. Sie verzweifelt am sowjetischen Regime, da sie es nicht schaffte, ihr eigenes Kind "zu fressen". Der Schreibstil, die Poesie, das Zusammenspiel aller Situationen und Symbole sind gelungen. Milch als Metapher für vieles. Meistens schmeckt sie bitter.
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