HirngespinsteAustausch zwischen Literatur und Kunst |
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Oktober/November/Dezember 2021
in Lektüreliste 07.10.2021 19:47von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Gelesen habe ich Grossman's "Was Nina wusste", an sich ein schönes Buch, jedoch für Samisdat-Kenner wie mich eher etwas träge, da in der Erzählung nicht überraschend. Hier geht es allerdings um die Gulags unter Tito nach einer wahren Begebenheit, erzählt von drei Frauen über mehrere nachfolgende Generationen, die mit ihrer Vergangenheit kämpfen, wobei eine Generation die Fehler der anderen wiederholt. In allen Situationen lässt die Mutter ihr Kind im Stich, während sich die eine für den erhängten Mann und das Lager entscheidet, damit dieser nicht als Vaterlandsverräter gilt, wobei sie dabei die Tocher im Stich lässt, und die andere bei ihrem Kind dann das Gleiche wiederholt, indem sie sich gegen die Familie und für eine fragwürdige eigene Freiheit entscheidet. Als letztere mit Namen Nina erfährt, dass sie an Alzheimer erkrankt ist, beschließen sie, die Großmutter Vera, um die es eigentlich geht, und die Enkelin einen letzten Film für die spätere Nina zu drehen, um ihr zu erzählen, was wirklich passiert ist und warum sie so geworden ist, wie sie ist. Grossman hat von der wahren Vera die Erlaubnis bekommen, ihre Geschichte zu erzählen und sie in einem fiktiven Roman umzugestalten. Das ist ihm gut gelungen.
Nun lese ich den dritten und vierten Band von Schalamow, die etwas dicker als die beiden Vorgänger sind und auch reifer und ausgefeilter wirken. Während der erste Band "Durch den Schnee" eine wunderbare Einführung in diese grausame Welt ist, zeigt Schalamow im dritten Band "Künstler der Schaufel" sein wahres Talent, mit jenem emotionslosen Ton, der die ganzen Emotionen erst entstehen lässt.
Schon im zweiten Band "Linkes Ufer" hat mich die letzte Erzählung, die Nadeschda Mandelstam gewidmet war, stark beeindruckt. Sie wirkt wie das Aufbrechen der Gefühle aus dem selbst geschaffenen Cocoon, der lange Zeit gegen das Leid und die Ungerechtigkeiten schützte, berichtet von einem Menschen, der nur noch Haut und Knochen war und dem selbst die eigenen Füße zu schwer zum Anheben waren, der mit wenigen Worten auskam, wobei die Hälfte davon aus Flüchen bestand, und der auf einmal ein Wort zurückkehren sieht, das mit der Situation nichts mehr zu tun hat, wie ein Echo aus dem Leben vor dem Lager. Und dieses kündet die Rückkehr einstiger Gefühle an.
Im dritten Band kommt diese neue Freiheit im Fühlen dann zum Tragen. Hier ist Schalamow ganz in seinem Element. Schön sind z. B. die Grabreden, bei denen es ihm gelingt, den Charakter des Verstorbenen durch eine erzählte Situation erstaunlich gut einzufangen. Eindrucksvoll sind auch die Berichte von Menschen, die ihm irgendwie, und sei es durch eine Kleinigkeit, geholfen haben, so wie im zweiten Teil die Frau, die das berüchtigte Trotzki'sche Kürzel entfernt, oder der Lagerverwalter im dritten Teil, der ihn als Schreiber beschäftigt und seine Akte verbrennt, denn all diese kleinen Taten ermöglichten sein Überleben, während die Helfer starben. Schalamows Erzählungen sind einzigartig in ihrer Form. Er wollte jedoch nicht zur Marionette seiner Vergangenheit werden und schimpfte auf die, die ihn nicht verstanden. Er überwarf sich später mit Solschenizyn, zog sich vor der Welt zurück und starb in einer Nervenheilanstalt.
Art & Vibration
RE: Oktober/November/Dezember 2021
in Lektüreliste 07.10.2021 21:02von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Humor bei Schalamow sieht übrigens so aus:
Als es um die Wiederaufnahme seines Verfahrens geht (in "Linkes Ufer"), wird ihm folgendes angekreidet:
»Dann haben Sie gesagt, daß Bunin ein großer russischer Schriftsteller ist.«
Er darauf: »Er ist wirklich ein großer russischer Schriftsteller. Kann man mir dafür, daß ich das gesagt habe, eine Haftzeit geben?«
Die Antwort: »Man kann. Er ist Emigrant. Ein feindlicher Emigrant.«
Und in Hinblick auf das Gefängnisleben (von dem er später sagt, es wäre die einzige Zeit gewesen, in der er sich einigermaßen frei gefühlt hat, da in der Butyrka noch jeder äußern durfte, was er wolle, obwohl hier in einer 25-Mann-Zelle mehr als 80 Gefangene festgehalten wurden):
»Und die fensterlose Zelle? Ich werde doch blind und bekomme keine Luft.«
»Wieso denn fensterlos? Das kann nicht sein. Von irgendwo kommt Licht herein.«
»Durch die Türritze unten.«
»Na also, na also.«
Art & Vibration
RE: Oktober/November/Dezember 2021
in Lektüreliste 06.11.2021 11:09von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Zu den etwas älteren Prix-Goncourt-Gewinnern gehört André Pieyre de Mandiagues, der stark von den Surrealisten geprägt war. Das hat mich neugierig gemacht und auf sein Werk "Der Rand" zurückgreifen lassen.
Tatsächlich ist ein erstaunlicher Sog in das Buch festzustellen, der zwischen Wirklichkeit, Halluzinationen und Symbolik hin und her schwingt. Der Protagonist erwacht in einem Hotel in Barcelona durch die in seinem Kopf erklingenden Lästereien seiner Frau. Er ist die Reise angetreten, um seinen Cousin geschäftlich zu vertreten, der ihm die Stadt schmackhaft gemacht hat, vor allen Dingen in Bezug auf jene Straßen und Hintergassen, in denen die Frauen auf ihre Freier warten.
Mit der Absicht, sich das alles genauer anzusehen, obwohl er seine Frau noch nie betrogen hat, macht er sich auf den Weg, erhält dann aber einen Brief, der ihn völlig unvorbereitet über ihren Selbstmord informiert.
Faszinierend ist der Stil des Autors, der eine ganz eigene Atmosphäre schafft, die intensiv spürbar wird. Das betrifft die Beschreibung der Außenwelt mit wunderbaren Lokalkolorit und den sich im Schockzustand allmählich verändernden Gemütszustand des Protagonisten, der aus dem Brief lediglich einige Sätze aufgeschnappt hat, die ausgerechnet das Wesentliche vermittelten, wie ein Sprung ins kalte Wasser, vor denen er sofort Augen und Geist verschließt, indem er den Umschlag wieder zuklebt und das Gesehene verdrängt. Er gibt sich 48 Stunden Zeit, um sich mit dem Ereignis zu konfrontieren und sucht nun Möglichkeiten, durch die er sich mehr und mehr kompromittiert.
Das alles schimmert nur angedeutet durch. Tatsächlich setzt er seinen Weg durch Barcelona und die berüchtigten Gassen fort, während wie Zwischensequenzen im Gesehenen immer wieder Gedankenfetzen des Entsetzlichen hochschießen. Dem Schriftsteller gelingt es, den wirklichen Zustand in einer solchen Situation nachzuempfinden.
Mit der Zeit werden die sehr detaillierten Beschreibungen allerdings etwas mühselig, zumal er nur Prostituierte aufsucht, durch Straßen streicht oder Restaurants und Museen betritt.
Schade, aus der Idee hätte er einiges mehr machen können, auch wenn der Inhalt des Briefes, den er dann schließlich doch liest, eine kleinere Überraschung bereithält. Als Komposition ist das Ganze gelungen, im Spannungseffekt allerdings weniger.
Art & Vibration
RE: Oktober/November/Dezember 2021
in Lektüreliste 06.11.2021 11:24von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Dagegen wirklich gefesselt hat mich Volker Harry Altwassers Buch "Glückliches Sterben".
"Um nichts in der Welt hätte ich – der freieste unter den Bürgern – das Ende meiner Biografie einem Henker überlassen."
Der Roman erzählt von den letzten Tagen des Schriftstellers Bruno Franz, der wiederum über den Tod Chamforts schreibt und stirbt, bevor er das Buch beenden kann. Altwasser vermengt beide Lebensgeschichten, die von Chamfort, jenem Moralist und Frauenverführer bei Hofe unter Ludwig XVI. und Marie-Antoinette, der zum Misanthropen und Frauenhasser wurde, und die von Bruno Franz in den Tagen kurz vor seinem Tod. Dabei schreibt er das von Franz begonnene Manuskript zu Ende, das von den Gefängnisaufenthalten während der Französischen Revolution handelt, von der verhängnisvollen Ansteckung des Hofphilosophen, durch die er seine Schönheit einbüßt und den Rückzug wählt, und von Chamforts exzessivem Selbstmord, der misslingt und ein zerschmettertes Auge, eine aufgerissene Kehle, eine zerrissene Brust und eine Kugel im Kopf hinterlässt. Auch berichtet Altwasser ausführlich von Franz' Leben, von seiner Freundschaft zu Thomas Mann und dessen Neigung, viel Erzähltes von ihm literarisch zu verwerten, so im "Zauberberg". Daneben soll Franz einige Stellen verbessert und mit formuliert haben, die so ihren letzten Schliff erhielten. Manns Reaktion auf seinen Tod ist bezeichnend, wie vieles, was an fragwürdigem Charakter auch in seinen Tagebüchern hervortritt.
Altwasser ist ein sehr schönes und informatives Buch gelungen, das den Leser berührt und das Erzählte kunstvoll miteinander verknüpft. Darüber hinaus erfährt man auch einiges über das turbulente Leben des Freiherrn von Trenck, über den Franz auch geschrieben hat, der durch die Eifersucht des preußischen König Friedrich II. und die Liebe zu dessen Schwester unschuldig zehn Jahre in einem feuchten Kerker verbrachte, gefesselt mit Ketten, Hals-, Hand- und Fußringen und trotzdem überlebte, um dann, bei seiner Begnadigung, durch seine Autobiographie berühmt zu werden. Das Ende des Buches war großartig, soll hier natürlich nicht verraten werden.
Zitat von Chamfort
"Hat man sich einmal entschlossen, nur mit denen zu verkehren, die fähig sind, mit uns die Sprache der Moral, Tugend, Vernunft und Wahrheit zu sprechen, und die Konventionen, Eitelkeiten, Etiketten nur als Stützen der bürgerlichen Gesellschaft anzusehen, hat man diesen Entschluss also gefasst, und man muss ihn fassen, wenn man nicht dumm, schwach oder niedrig sein will, so lebt man fast ganz allein."
(Chamfort)
Art & Vibration
RE: Oktober/November/Dezember 2021
in Lektüreliste 29.11.2021 20:32von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Endlich habe ich von Pamuk "Das Museum der Unschuld" gelesen und kann es als Buch durchaus empfehlen. Pamuk gefällt mir bisher in all seinen Werken, wobei "Das neue Leben" immer noch eines seiner besten Schöpfungen ist, weil vieles offenes Kunstwerk bleibt und der Leser einiges an Freiraum zum Interpretieren hat.
Gleiches ermöglicht übrigens auch ein Frühwerk von Harry Mulisch, das mich in seinem Aufbau und Stil überrascht hat. Von Mulisch habe ich ewig nichts mehr gelesen, zumal die "Entdeckung des Himmels" sein bestes Werk bleibt. Aber der Roman "Schwarzes Licht" hat mich gefesselt, der in Deutschland in der Übersetzung lange vergriffen war und dann wieder, nach seinem Tod, in neuer Übersetzung erschien.
Obwohl dieses Buch wie ein zusammengesetztes Mosaik oder Puzzle wirkt, bei dem einige Stücke verloren gegangen sind, ergibt sich nach und nach die Geschichte von selbst, so dass der Leser versteht, was geschehen ist. Derweil irrt er, wie der Protagonist Akelie, durch Wahnvorstellung und Illusion und muss versuchen, die ihm sichtbaren Details für sich zu ordnen.
Der Roman ereignet sich an einem einzigen Tag, der gleichzeitig Akelies Geburtstag ist und von den Zeugen Jehovas als Tag des Weltuntergangs vorausgesagt wird. So wirkt auch dieses seltsame Fieber, das sich durch die ganzen Zeilen zieht und in der düsteren Versenkung des Wahns endet. Dieses Frühwerk ist abstrakt und voller Rätsel und darum großartig.
Art & Vibration
RE: Oktober/November/Dezember 2021
in Lektüreliste 28.12.2021 20:43von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Als kleiner Rückblick: die besten Bücher, die ich dieses Jahr gelesen habe:
- Antonio Lobo Antunes „Elefantengedächtnis“
- Elio Vittorini „Gespräche in Sizilien“ und „Im Schatten des Elefanten“
- Ricardo Piglia „Künstliche Atmung“
- Arno Schmidt „Leviathan“
- Milena M. Flasar „Herr Kato spielt Familie“
- Edward Bulwer-Lytton „Vril“
- Emmanuel Carrière „Limonow“
- Jewjenij Vodolazkin „Laurus“
- Kerouac/Ginsberg „Ruhm tötet alles – Briefe“
- Burdett Osbert „William Blake“
- Jean Rhys Werke 1 und 2
- Gerard Reve „Die Abende“
Ich wünsche euch allen einen guten Rutsch ins neue Jahr.
Art & Vibration
https://www.suhrkamp.de/buch/ljubko-dere...t-9783518124499
Der Typ der hat sie nicht mehr alle, so ein Buch zu schreiben
RE: Oktober/November/Dezember 2021
in Lektüreliste 28.12.2021 21:25von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
RE: Oktober/November/Dezember 2021
in Lektüreliste 28.12.2021 21:43von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Ja. Er hat uns gezeigt, dass man Sehen kann, ohne Augen. Dass man Bücher findet, die unendlich sind, und dass wir Labyrinthe betreten müssen, die uns immer wieder neu wach werden lassen, um das Vergessen zu überwinden.
Art & Vibration