HirngespinsteAustausch zwischen Literatur und Kunst |
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Wynnytschuks Mohnblüten-Roman hatte ich nach Deiner Rezension lediglich vorgemerkt. Vielleicht las ich schon zu viel über jene Jahre und war mir nicht sicher, ob er dies sprachlich kompensiert.
Statt auf Russland oder die Vereinigten Staaten zu schauen, sollte man sich auch mal in die Lage tatsächlicher oder potentieller Opfer versetzen. Was blieb in jener Region den Staaten ohne Großmachtstatus angesichts historischer Erfahrungen anderes übrig sich, als sich um den Bündnisbeitritt zu bemühen? Selbst Finnland und Schweden werden sich vermutlich nun in diese Richtung orientieren, dank Moskau notgedrungen.
RE: Januar/Februar/März 2022
in Lektüreliste 02.03.2022 18:27von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Für mich bedenklich bleiben die europäisch geförderte und unreflektierte Unterstützung der rechtsextremen Ultranationalisten und die Belieferung mit Waffen, in einen Kampf, der für Kiew nicht zu gewinnen ist, aber weiter angeheizt wird. Natürlich sind die Opfer vor allen Dingen die Leidtragenden des Krieges, aber auch die im Donbass lebenden Menschen, die von den Asow-Brigaden seit Jahren drangsaliert, misshandelt und ermordet wurden. Darüber hat sich keiner mokiert und auch die Medien haben kaum oder nur in wenigen Andeutungen darüber berichtet.
Die Situation zuvor erfüllte jegliche Voraussetzung für einen Genozid, und Putin scheint keinen Blitzkrieg gestartet zu haben, sondern geht geplant mit Hightech gegen veraltetes Militär vor und zieht das auch rigoros durch. (Und dann sieht man russische Konvois, die über mehr als 65 Kilometer unbehelligt durch Waldgebiete fahren, ohne einen einzigen Angriff.) Für die Ukraine stehen die Chancen mehr als schlecht. Und der geschürte Hass befeuert den Konflikt immer weiter, so dass selbst größenwahnsinnige Schauspieler wie Sean Penn (der angab, die einzig wahre Doku drehen zu wollen) über Polen fliehen müssen, während sich die Lage hochschaukelt.
Bei den Flüchtlingen wiederum wird fragwürdig selektiert. Es sind nicht nur Frauen und Kinder, die nahe der Grenze bleiben möchten, weil ihre Männer im Krieg sind, wie uns deutsche Medien weismachen möchten. Auch viele ukrainische Männer möchten fliehen. Zum einen, weil sie nicht hinter der Selenskij-Regierung stehen und auch nicht für diese kämpfen möchten, zum anderen, weil sie keinerlei Waffenausbildung und Kampferfahrung haben. Sie fürchten, mit Gewalt eingezogen oder als Verräter erschossen zu werden.
Ein Videoblogger, der in Kiew lebt, erzählt z. B. auf YouTube:
"So gut wie jeder Mann zwischen 18 und 60 läuft aus den Städten fort. Darum gibt es so viele Flüchtlinge. Nicht, weil sie ernsthaft denken, dass die Russen ihre Wohnungen oder Häuser beschießen und zerstören werden. Sie fürchten sich davor, festgenommen und in die Armee gezwungen zu werden."
Der wirkliche Verlierer wird am Ende neben der Ukraine wohl Europa sein, besonders die Länder, die ihre Hasstiraden und Sanktionen loslassen, während sich Amerika und einige andere Länder taktisch heraushalten. Besonders peinlich sind Entlassung im Sport - und Kulturbereich, die an Diskriminierungen heranreichen (was haben diese Menschen mit dem Krieg zu tun, nur weil sie Russen sind, und was für ein Exempel soll an ihnen statuiert werden?) oder, um von Griechenland zu reden, absurde Verbote gegen die Aufführung von Schwanensee. Auch denkt man darüber nach, Dostojewski und andere russische Schriftsteller aus den Bibliotheken zu entfernen, oder nun als Zeichen der Anteilnahme die Serie mit Untertiteln zu zeigen, in der Selenskij mitspielt, was an völliger Verblödung grenzt.
Art & Vibration
Die russische Seite ließ und lässt Dmitri Utkins Wagner-Gruppe kämpfen und die ukrainische Seite das Regiment Asow. Ich würde nicht behaupten, dass die einen weniger rechtsextrem sind oder Nazis ferner stehen als die anderen.
Auch geht Putin im eigenen Land nicht gegen Organisationen wie die Russische Reichsbewegung (Русское Имперское Движение) vor, die selbst Typen vom Dritten Weg und von der NPD-Jugend militärisches Training gab.
Zhadans Erfindung des Donbass (orig. 2010) werde ich nun doch mal lesen.
RE: Januar/Februar/März 2022
in Lektüreliste 04.03.2022 12:46von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Die Ukraine hat im Zweiten Weltkrieg mit den Nazis gekämpft. Russland gegen diese. Einige wurden auch bei den Nürnberger Prozessen verurteilt. Entsprechend ist schon der geschichtliche Hintergrund ein anderer. Das hat überhaupt die Swoboda-Vereinigung und Asow-Brigaden in der Ukraine möglich gemacht, die offen sichtbar sind, offen als Rechtsextremisten agieren, offen Hitler und Himmler verehrten, zu Gewalt aufrufen und diese verherrlichen und sich mit Wolfsangel und Hakenkreuz ausstaffieren.
Russland hat eine andere Einstellung zur Nazi-Verherrlichung. Die Zuweisung eines Nazi-Hintergrunds der Wagner-Truppen ist erst aktuell aufgekommen, um die Asow-Brigaden zu verharmlosen, aufgrund von Wehrmachtshelmen und dem Hintergrund zu Wagner als Antisemit. Die Russen sind in Bezug auf Rechtsextremismus sehr sensibel, und Beweise für einen solchen Hintergrund sind von Anti-Russen-Seiten gelinkt.
Dass Putin verdeckte Sicherheitstruppen eines privates Sicherheit- und Militärunternehmen kämpfen lässt, die andere Länder auch einsetzen, (die längste Liste solcher Einsatztruppen, die im Verborgenen arbeiten, hat übrigens die USA (siehe Wikipedia)) ist dagegen nicht zu leugnen und in solchen Kampfhandlungen üblich.
Ich mag Putin nicht und auch seine Vorgehensweise nicht. Aber ich verurteile die Unterstützung durch europäische Länder, die damit Öl ins Feuer gießen und gleichfalls Sanktionen auslösen. Es herrscht Propaganda und Lüge in den Medien im Extrem. Und ich mag keine Zensur von Sendern oder Aktionen, die sich gegen unschuldige Russen im Sport- und Kulturbereich in Europa richten. So wird auch Putin nun keine Journalisten mehr ins Land lassen, und dann ist die einseitige Berichterstattung Fakt. Heute auf Twitter gesehen: Eine französische Journalistin hat bestätigt, dass ukrainische Truppen die eigenen Leute bombardieren. Sie ist gegen Putin, aber spricht im Namen der Zivilisten. Ich denke, die USA hat mit dem Einmarsch Putins nicht tatsächlich gerechnet und daher weiter provoziert. Und nun haben wir das Dilemma und müssen mit den Konsequenzen leben. Ich werde "Die Erfindung des Jazz im Donbass" auch lesen. Momentan weiter in Kleins "Schockstrategie", ein wirklich interessantes Buch neben den Romanen.
Art & Vibration
Zitat
Die Zuweisung eines Nazi-Hintergrunds der Wagner-Truppen ist erst aktuell aufgekommen
Nicht erst aktuell. Abgesehen von Indizien wie jenen Wehrmachtshelmen und dem Totenkopf-Logo wird seit längerem auf "Vorlieben" des Gründers Dmitri Utkin (Wagner) verwiesen. Bei der englisch- und der deutschsprachigen Wikipedia werden Nazi-Bezüge Utkins mindestens seit letztem Jahr erwähnt. Siehe View History bzw. Versionsgeschichte.
RE: Januar/Februar/März 2022
in Lektüreliste 09.03.2022 18:25von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Den Hype um Houellebecqs Roman "Vernichten" kann ich überhaupt nicht nachvollziehen. Es ist zwar kein unbedingt schlechtes Werk, aber wohl kaum im Genie zu loben. Vielmehr präsentiert Houellebecq, wie schon so häufig, einen müden und der Empathie nicht fähigen Mann, der mit sich selbst nicht im Reinen ist, einmal, weil er ein politisches Amt betreibt und die rechte Hand eines Führungskandidaten ist, und zum anderen, weil seine Ehe gescheitert scheint, bis ein Weg gefunden ist und etwas weiße Magie nachhilft.
Die Spannung anderer Werke, so „Die Möglichkeit einer Insel“ oder „Unterwerfung“, ist nicht einmal andeutungsweise erreicht. Einige lahme kritische Seitenhiebe auf Migranten, das Gesundheitswesen, auf Euthanasie und die politische PR bei Wahlkampagnen, dass entsprechend Sympathie oder Können beim Aufstieg von Politikern keine Rolle spielen, sondern nur die richtige Planung, sind enthalten. Auch Verweise auf den Unabomber, auf einige sozialkritische Ideen und Terroranschläge, die unglaublich langweilig ins Leere rieseln, beleben die Story der Midlifecrisis nur äußerst träge.
Für mich ist das Buch nicht einmal im Erzählten stringent. Erst geht es um Terroranschläge, dann um Schlaganfälle und am Ende um Krankheit und Tod (zwar mag das im Titel passend scheinen, im Aufbau der Story jedoch nicht). Wohl ist beim Schreiben der Anfang der Pandemie dazwischen gerutscht. Wer weiß. Ich finde, „Vernichten“ ist eher oberflächlich geschrieben und ein Skandal bleibt vollständig aus (selbst die Sexszenen wirken träge). Das Lieben gegen den Tod überzeugt nicht, auch nicht die Entscheidung für oder wider bestimmte Behandlungsformen. Was an all dem berührend sein soll oder eine wuchtige Gegenwart einfängt, wird mir nicht ganz ersichtlich. So schafft es ein weiterer Roman dieses Autors nicht in mein Regal, ähnlich wie "Serotonin" oder das selbstverliebte Buch "Karte und Gebiet“, iin das sich der Autor selbst als Figur hineingeschrieben hat.
Art & Vibration
Zitat von Taxine im Beitrag #6
[quote=Jatman1|p24412]
Und das hat er wahrlich getan. Dass er Russland liebt und sein Blick auf die Welt immer kritisch war, auch über das „Politisch Korrekte“ hinaus, macht ihn mir eher sympathisch.
Da jetzt also auch Puschkin schuld am Ukrainekrieg ist lese ich ihn natürlich, mindestens ein Gedicht am Tag, ein kleiner Verrat für den guten Geschmack,
ansonsten lese ich Katerina Poladjan "Zukunftsmusik" und nachdem ich mich ein wenig durch das Buch gefremdelt habe, bin ich dort nun zuhause, sitze
in einer Datscha und betrachte das Leben einer sehr eigenwilligen Familie