HirngespinsteAustausch zwischen Literatur und Kunst |
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Geschichten in Geschichten
in Das "andere" Buch 13.05.2009 20:29von Taxine • Admin | 6.701 Beiträge
Wenn ein Reisender in einer Winternacht
Allein durch die Begrenztheit unserer Akte des Schreibens wird die Unermesslichkeit des Nichtgeschriebenen lesbar (…)
Was ist es? Eindeutig ein ausgefallener Roman über das Lesen.
Ein Leser trifft auf einen Fehldruck und kämpft sich schließlich durch den Anfang verschiedener Kurzgeschichten, ohne die Ausgänge zu erfahren, denn immer wenn die Spannung am höchsten ist, fehlen die nächsten Seiten, enthält das Buch ein anderes Buch, wird die Geschichte geklaut, zerfällt in ihre Bestandteile, usw. Doch mit jeder Geschichte gerät er weiter in ein Netz von Untergrundrevolutionären und Geschichtenfälschern, und hofft der Leserin, die das gleiche Buch liest, die er getroffen hat, als er das Buch wegen dem Fehldruck umtauschen will, durch das Lesen und Reisen näher zu kommen.
Calvino in eigenen Worten:
Zitat von Calvino - Wenn ein Reisender...
Ich krame zu viele Geschichten auf einmal aus, aber ich möchte, dass man rings um die Geschichte, die ich erzähle, eine Überfülle von anderen Geschichten spürt, die ich auch erzählen könnte und vielleicht nichts anderes als die Zeit meines Lebens, die man kreuz und quer in jeder Richtung durchstreifen kann wie einen Raum, und immer stößt man auf neue Geschichten, die nur erzählt werden könne, wenn vorher andere erzählt worden sind, so dass man, egal wo man anfängt, immer die gleich Dichte an Erzählstoff vorfindet.
Was übrigens, genau besehen, das Zeichen für wahren, soliden und ausgedehnten Reichtum ist, denn hätte ich hier, hypothetisch gesprochen, nur eine Geschichte zu erzählen, so würde ich um diese eine Geschichte ein Riesenaufhebens machen und sie am Ende völlig verderben in meiner Sucht, sie partout ins rechte Licht zu rücken, aber da mir zum Glück ein praktisch unbegrenzter Vorrat an erzählbarem Material zur Verfügung steht, kann ich so aus dem Abstand und ohne Eile handhaben, ja sogar einen gewissen Überdruss durchblicken lassen und mir den Luxus erlauben, mich in nebensächlichen Episoden und bedeutungslosen Details zu ergehen.
Letztendlich geht es ihm vielleicht um das:
Wenn ein Buch den Leser wirklich interessiert, dann kann er ihm nur wenige Zeilen lang folgen und beginnt abzuschweifen. "Sein Geist fängt einen Gedanken auf, den ihm der Text suggeriert, oder ein Gefühl, eine Frage, ein Bild, und beginnt zu wandern, springt von Gedanke zu Gedanke, von Bild zu Bild und begibt sich auf eine Reise, die er fortsetzen muss bis ans Ende, selbst wenn er sich soweit vom Buch entfernt, dass er es aus den Augen verliert. Er braucht die Anregung durch eine gehaltvolle Lektüre, auch wenn er von keinem Buch mehr als ein paar Seiten zu lesen vermag. Aber schon diese wenigen Seiten enthalten für ihn ganze Welten…"
(Letzteres sagt ein Leser in der Ich-Form!)
In diese Rubrik gehört natürlich auch der bereits besprochene Palol.
Art & Vibration
RE: Geschichten in Geschichten
in Das "andere" Buch 14.05.2009 18:48von Taxine • Admin | 6.701 Beiträge
Inhalt vom Klapptext:
Nachdem Navidson bei einer ersten Erkundung dieser Räume fast den Rückweg nicht mehr findet, holt er Hilfe - ein Ingenieur und ein professioneller Höhlenforscher sollen die unermesslichen Räume im Hausinneren erforschen helfen. Und immer läuft die Kamera mit - und zeichnet auf, was über den Verstand aller Beteiligten geht und ganze Generationen von Filmkritikern und Kinogängern schaudern lassen wird.
Eine Pressestimme lautet:
"Wie Melvilles "Moby Dick", Joyces "Ulysses" und Nabokovs "Fahles Feuer" ist Danielewskis "Das Haus - House of Leaves" ein ausgesprochen kühnes vielschichtiges Werk. Sein formaler Einfallsreichtum und das unglaubliche Erzähltempo stellen alles in den Schatten."
Das Ding ist 1490 g schwer und hat 797 Seiten.
Art & Vibration
RE: Geschichten in Geschichten
in Das "andere" Buch 14.05.2009 20:38von Taxine • Admin | 6.701 Beiträge
Es ist nicht schlecht, doch keinesfalls mit Perec, Barth oder Calvino zu vergleichen.
Sehr viele Seiten wirken wie Füllmaterial, erzeugen aber andererseits Effekte, die die Erzählung verstärken.
Ohne Ironie: Der Schriftsatz ist wirklich spektakulär und macht das Buch einzigartig.
Ein wenig wie ein Kunstobjekt.
Ich kaufe sehr wenige Bücher und sortiere gnadenlos aus, was mir nicht dauerhaft gefällt.
Das "House of leaves" aber hat seinen Platz im Regal behauptet.
Gruß,
L.
RE: Geschichten in Geschichten
in Das "andere" Buch 14.05.2009 20:55von Taxine • Admin | 6.701 Beiträge
Art & Vibration
Unter "Borges as an Influence" findet sich eine Liste. Mit lesbaren Einführungen. Ich glaube, auf die habe ich schon mal hingewiesen, anderswo.
Und, welch eine Überraschung, morgen kommt hier ein Gombrovicz.
Frage an larifant:
Danielewski im Original oder in der Übersetzung?
RE: Geschichten in Geschichten
in Das "andere" Buch 19.06.2009 19:07von Taxine • Admin | 6.701 Beiträge
Ein erster Eindruck zu John Barths "Der Tabakhändler":
In meinem Buch auf Seite 137 sprechen Ebenezer und Burlingame (zu diesem Zeitpunkt noch Sayer) über das Wortspiel. Darin finde ich auch eine schöne Verbindung zu Barths grundlegendem Vorhaben für diesen Roman. Burlingame führt dem jungen Dichter an dieser Stelle vor Augen, dass es nicht nur am Schreibenden liegt, was sein Gedicht aussagt, sondern gerade auch beim Leser/Zuhörer, der seine Auffassung davon gewinnt, interpretiert und hineindeutet, und dass das Dichten selbst bestimmte Ohren eher erreicht als andere, wie es auch mit der Schreiberei und der Kunst ist.
Da sagt Burlingame: Ich bitte Euch, wer hat mehr Vergnügen an Eurer "Hymne" - der Laufjunge, der Priamus nicht vom guten König Wenzeslaus unterscheiden kann, oder der Don, der mit den alten Griechen auf du und du steht? Der wilde Indianer, der den Begriff der Keuschheit gar nicht kennt, oder der Christenmensch, der gelernt hat, dass Unschuld mit einem unverletzten Hymnen gekoppelt sein muss.
Und Ebenezer: Sapperment! Eure Beweisführung hat etwas für sich, mein Freund, aber ich gestehe, es widerstrebt mir, zuzugeben, dass die Muse am reinsten für Professoren singt!
Und als Burlingame dem jungen Dichter dann vor Augen führt, was er aus seinen Zeilen zu verstehen glaubt, macht dieser große Augen und wehrt ab, weil da mehr gesehen wird, als er mit jedem Wort beabsichtigt hat. (Die reine Emotion ist da aus ihm gekippt, während das, was steht, durch das fremde Auge erblickt, anders gedeutet wird.)
Burlingame erwidert darauf weise: Ihr braucht nicht zuzugeben, dass ich mehr herauslese als Ihr, was ich behauptet habe. Euer Gedicht bedeutet mir mehr.
So ist es wohl auch mit dem Leser, der Barths Werk entweder genießt oder verwirft. Der Roman ist eine Art Aneinanderreihung etlicher Zitate, Metaphern, Bauernweisheiten, Märchen, Weisheiten, philosophischen Betrachtungen und Gegenbetrachtungen, selbst Vorurteilen, die sich zu einer geballten Geschichte um Ebenezer Cooke - Dichter und Jungfrau - zusammensetzen. Das alles zeigt unter anderem, dass selbst Weisheiten, in allen Situationen und nacheinander gesetzt, zu Geschwätz geraten, dass sich eine Gelehrsamkeit sofort (in der Aneinanderreihung so vieler Eindrücke aus Werken und Vergangenheit) durch eine andere widerlegen lässt. Dadurch wird das wunderbare Wirren des jungen Dichters und des Menschen selbst sichtbar, während man sich mit Ebenezer auf Abenteuer und Reise begibt und gleichzeitig dabei durch alle Werke, Bücher und Märchen, durch andere Zeiten, neues und altes Denken schlendert.
Barth verwendet eine Sprache, die diese Zeit wieder aufleben lässt. Trotzdem ist sie nicht besonders poetisch oder in der Form geschrieben, wie es der damaligen Zeit entsprach, so erspürt man den neuen Blick und natürlich die Ironie darin. Auch sind die Überschriften der einzelnen Kapitel ein schöner Hinweis auf die Übertriebenheit von historischen und anderen Romanen, die immer schon einkreisen, was geschehen wird.
Barths humoriger Blick ruht auf vielen Dingen, denen heute viel Wert beigemessen wird, auch lässt er so manche bekannte Figur auftreten, um sie von einer anderen Seite zu zeigen, als Parodie ihrer selbst, immer dabei einen Kern Wahrheit bergend. Das erinnert mich etwas an z. B. Proust, der sich einerseits seinem Werk, andererseits aber auch seinen Neigungen verschrieben hat, wobei letztere eher verblassen, oder Maupassant und andere. (Die nur genannt, weil sie mir gerade einfallen.) Man stellt sich hinter einer einflussreichen und bekannten Persönlichkeit selten die menschlichen Triebe und Neigungen vor (um nicht zu sagen, die erlebten "Schlüpfrigkeiten"). Er gerät durch sein Werk oder Tun zu einer Art Denkmal, das unangreifbar wird, wenn nicht Zeitgenossen das ihre dazu beitragen, um es zu demaskieren. Wenn man bei Barth zum Beispiel auf einen notgeilen und homosexuell veranlagten Newton trifft, der hinter einem jungen Studenten her ist, wird das vielleicht deutlicher.
Die Aussprüche und die Sprache der Figuren sind dabei neben der Handlung ebenso gewählte Übertreibungen, was den Leser oft zum Lachen bringt.
Wenn Ebenezer sagt: Ich bin Dichter und Jungfrau, so hat der letzte Begriff die eigentliche Bedeutung, sowie die der Unschuld in seinem Denken und in seinen Erlebnissen, kurz: es ist ein Hinweis auf seine Naivität und seinem noch ungetrübten Blick auf die Welt und das Sein. Es ist eine Reinheit an Mensch und Wirken, am Wollen selbst: Ich bin Dichter und möchte nichts weiter, als Dichter sein.
Das Kindliche tritt hervor, das sich häufiger zeigt, z. B., als Ebenezer sich sofort in eine Prostituierte verliebt, statt sich ihrer zu bedienen, wo er aus dem menschlichen Wesen eine Göttin seiner kindlichen Träumereien und poetischen Vorstellungen kreiert. Solchen Dingen begegnet man in der Literatur häufiger, gerade in der Poesie, die ihre reinen Züge durch keine Weltlichkeit verschmutzen lässt.
Über Seite 100 nicht hinauslesen zu wollen, ist ja dann auch eher schade, weil hier erst die Reise nach Maryland beginnt, damit das Abenteuer. Zotig ist der Roman bis dahin kaum, eher bewusst in bestimmte Situationen und Schlüpfrigkeiten geführt, die sicherlich der Zeit entsprechen, durch die Ebenezer schlendert, wenn auch so manche Verbindung, sei es durch Zitat oder Spruch oder Belehrung (die wunderbar übertrieben eingefügt sind) bis in die heutige Zeit hineinreichen oder besser gesagt, den Blick aus der heutigen Zeit auf das Damals erkennen lassen, während er gleichzeitig wieder ins 17. Jahrhundert schnellt.
Mir gefällt der Roman, nicht nur wegen der Geschichte, sondern gerade durch das Sichtbargemachte so vieler Aussagen, Betrachtungen und Philosophien, die einander gegenübergestellt und aneinandergereiht einen neuen Eindruck vermitteln, auch die Übertriebenheit oder das Illusionäre darin verdeutlichen oder die bewussten Verfälschungen, was sich wiederum oft in einem Lächeln des Lesers ausdrückt.
Art & Vibration
Ja, lesenswert, besonders der zwote Teil, wo ein gewisser Copperfield einen Leser erwähnt, der nie hinauskam über die ersten hundert Seiten, weshalb dieser den Schmöker einer Schwägerin schenkte, welche bald darauf durchbrannte mit einem "Dichter" (Ebenezer Cooke, Poet Laureate of Maryland) und mit diesem inzwischen, so ist zu hören, ein satirisches Versepos verfasst.
RE: Geschichten in Geschichten
in Das "andere" Buch 05.08.2009 20:02von Taxine • Admin | 6.701 Beiträge
Eine der für mich kreischend-komischsten Szenen war übrigens die Situation, als Ebenezer sagt:
Zitat von Barth
Darum sehe ich nichts Unnatürliches; es ist nur die uralte Sehnsucht des Liebenden, von der Platon spricht, die Sehnsucht, mit dem geliebten Menschen eins zu sein; und beim Dichter insbesondere ist es schon gar nicht verwunderlich, sintemalen seine Verse so oft die Liebe und die Frau zum Thema haben. Doch von Petrarcas Laura oder selbst von der Liebsten des durstigen Barnes ist kein kleiner Sprung zu Eurer fetten Sau Portia!
Art & Vibration
RE: Geschichten in Geschichten
in Das "andere" Buch 20.08.2009 17:23von Taxine • Admin | 6.701 Beiträge
Neben Sternes "Tristram Shandy" gehört in diesen Ordner auf jeden Fall noch Diderots "Jacques, der Fatalist".
Art & Vibration
RE: Geschichten in Geschichten
in Das "andere" Buch 02.03.2010 22:41von Taxine • Admin | 6.701 Beiträge
Mark Z. Danielewski
Das Haus
Ich weiß nicht genau, welcher der Texte mir mehr Geduld abforderte, der des Erzählers Truant oder die ewigen Erfahrungs- und Deutungsberichte über den Film „Navidson Record“. Auch die etlichen (sicherlich als Parodie gedachten) Fußnoten (sowohl echte Hinweise auf Schriftsteller, Philosophen und andere, als auch völlig fiktive) haben mich häufig aus dem Lesefluss geschmettert. Trotzdem (oder vielleicht auch gerade darum) ist dieses Buch gelungen.
Es ist schade, wenn ein solcher Roman in eine Kategorie gepackt wird. Horror. Das unheimliche Haus. Denn eigentlich ist es nichts von alledem oder vielmehr so vieles auf einmal.
Mark Z. Danielewski ist der Sohn des polnischen Filmemachers Tad Danielewski, dessen Einfluss spürbar ist, denn sein Sohn erschafft mit seinem Roman ebenfalls einen Film, daneben eine Filmbesprechung, und all das ist doch nicht weniger Buch.
Am Ende des Romans wird der Roman selbst, um den es auch im Buch geht, im Internet veröffentlicht, so dass ihn etliche Menschen bereits kennen, während der Erzähler Truant noch denkt, er hätte ihn noch nicht beendet. Ähnliches geschah auch mit dem echten Roman von Danielewski. Er wurde zuerst im Internet veröffentlicht, danach erst gedruckt.
Zunächst wirkt das Buch durch die etlichen Fußnoten und verschiedenen Schriftbilder und Spielereien chaotisch, bald aber schimmert durch all das eine erstaunliche Über-Ordnung durch (die in Form und Text hilfreich auf das reagiert, was zu lesen ist, das Gefühl des Inhaltes verringert oder verstärkt). Der Erzähler Jonny Truant führt für den Leser Tagebuch (dieses ist in Courier gedruckt), wurde Zeuge einer aufgefundenen Leiche, die sich als der ihm bekannte und blinde Zampanò herausstellt. Er wird damit Erbe (oder macht sich vielmehr selbst dazu) seiner schwarzen Truhe, in der er etliche Papiere und Blätter vorfindet, die sich mit dem Film von Navidson befassen (diese sind in Times New Roman gedruckt).
Der Roman wechselt also in den Perspektiven von den Aufzeichnungen Truants zu denen Zampanòs, und, da der Film von Navidson (einem Filmemacher), den Zampanò in seinen zahlreichen Zetteln bespricht, scheinbar von etlichen Leuten gesehen und beurteilt wurde, zu vielen Erfahrungsberichten, psychologischen, filmkritischen, wissenschaftlichen, poetischen, philosophischen Deutungen und Streitigkeiten.
Navidsons Geschichte ist sehr spannend, sehr gelungen, macht, neben Truants Aufzeichnungen, den größten Teil des Buches aus. Sein Film über das sich verändernde Haus, das sich in verschiedenster Art und Weise deuten lässt, eine lauernde, sich öffnende Dunkelheit, eine Leere, die alles verschlingt, die das Innerste der Menschen öffnet, die dunklen Seiten hervorbringt, fesselt den Leser, weil er ihn ebenso betrachten muss, wie einen Film. Durch ein Außen, durch Beschreibungen, die sich auf die Vorgänge der Dokumentation Navidsons beziehen.
Dazwischen immer der Lesestrang zu Truant, als würde man nun selbst die Papiere ordnen müssen, wie Truant die Papiere Zampanòs ordnet. Man nimmt regelrecht teil an seiner Arbeit. Häufig erzählt er dazwischen einfach seine eigene Geschichte, manchmal macht er Bermerkungen zu Zampanòs Zeilen. Er wird darüber fast wahnsinnig, spürt den Sog der dunklen Macht, die aus den Zeilen Zampanòs bis über die Ränder des Papiers hinausreicht. Das Grauen, das Geräusch, das hinter den Dingen liegt, das in Schatten über Wände, Gesichter, Gefühle und Welten hinausreicht.
Der Film Navidsons berichtet also von seinem Einzug mit seiner Familie in ein Haus, das sich ganz allmählich verändert (es werden Messungen angestellt, die zeigen, dass die äußerliche Front des Hauses kleiner als die inneren Zimmer ist, eine physikalische und unerklärbare Unmöglichkeit). Navidsons Gefühle für seine Frau Karen haben sich über die Jahre abgekühlt, sie stehen einander fremd gegenüber, auch wenn die Liebe trotzdem vorhanden ist. Er, der Filmemacher, ist viel gereist, sie ist alleine mit den beiden Kindern geblieben. Beide hoffen nun mit dem Umzug, einander wieder näher zu kommen und werden dann mit Dingen konfrontiert, die ihre Liebe auf eine harte Probe stellen.
Das Haus wächst, öffnet aus einem Wandschrank einen Eingang in die Dunkelheit, in ein Dahinter, das eigentlich nicht vorhanden sein kann, mit etlichen Gängen, neuen Türen, ohne Fenster, einer riesigen Wendeltreppe, die wächst oder schrumpft, all das dort, wo das Haus längst zu Ende ist.
Navidson, der Forscher und Neugierige (der einst ein Bild von einem verhungernden kleinen Mädchen gemacht hat und seitdem mit Schuldgefühlen kämpft) beschließt, diese eigenartige neue Welt zu erkunden, bestellt seinen Bruder Tom und einige andere Forscher und Spezialisten, um mit ihnen gemeinsam, ausgerüstet mit Kamera, Proviant und Licht aufzubrechen, um auf die eigenen und fremden Abgründe zu treffen.
Verschiedenste Deutungen lassen sich nun anstellen. Das Haus lebt. Das Haus verändert sich mit seinen Bewohnern, birgt ein Monstrum, ist Gott (Navidson), die Unendlichkeit, ist die Angst derer, die es betreten, verändert sich durch sie oder die Menschen verändern sich durch das Haus, legt Schritt für Schritt ihre inneren Ängste und schlummernden Begierden frei.
Wie auch immer dieses sich verändernde Haus dargestellt wird, so ist auch der Leser ständigen Veränderungen unterworfen. Mit dem Inhalt verändert der Roman beständig seine Form. Sobald sich Navidson z. B. in enge Gänge zwängt, zwängt sich auch der Leser durch enger werdende oder sich biegende, verkehrt herum geschriebene, auf winzige Quadrate beschränkte Zeilen, trifft auf Zampanòs durchgestrichene oder verbrannte und bruchstückhafte Anmerkungen, wird ebenso gewirbelt, muss zusammensetzen, Texte drehen, neu ordnen, durchaus auch auf das Nichts oder fast leere Zeilen treffen. Doch nicht nur das.
Danielewski spielt mit der Auffassungsgabe des Lesers. Truants Sprechweise ist umgangssprachlich (ohne die Furcht vor Benutzung des Wortes „Fuck“), Zampanòs Schrift eher wie ein Essay, trocken und sachlich, mit Verweisen auf andere Schriften, die dazwischen gestreuten Analysen ganz wissenschaftlich oder psychologisch. Manchmal wird das Echo erörtert, dann das Labyrinth, dann die Erforschung von Höhlen oder die Besteigung eines Berges, Reaktionen und Grenzerfahrungen, dann wieder der Seelenzustand von Navidsons Frau oder das Verhalten der beiden Kinder. Alles schafft Verbindungen, reißt nicht aus dem Zusammenhang, ist Hinweis auf etwas Nächstes oder Vorangegangenes. Szenen, die sich nur durch verschiedene Blicke und Erörterungen verdeutlichen.
Immer wird das Wort Haus blau hervorgehoben, auch wenn es nicht im Zusammenhang mit „dem Haus“ steht: z. B. Hausfrau, zu Hause sein, Hausaufgaben, Haushalt, usw.)
Bald verwandelt sich Danielewskis Haus mit dem Erforschen seiner geheimen Gänge in ein sich veränderndes Labyrinth, wobei diese Veränderung vielleicht nur von denen wahrgenommen wird, die da aus dem Innen (denn von außen ist kein Blick auf das Ganze möglich) blicken und gestaltet mit dem Inhalt auch den Text, verwandelt ihn zu einem ganz eigenen Labyrinth, wo man vor- und zurückblättern muss, auf die etlichen Anmerkungen trifft, auf einen enormen Anhang, gemahnt wird, nicht zu schnell oder zu langsam zu lesen, da man ansonsten nichts mehr begreift. (Ganz nach Pascal.) Das Gleiche geschieht, wenn man zu schnell in einem Labyrinth herumirrt. In den Briefen von Lucilius über die Ethik heißt es nicht umsonst: Das eben geschieht den Menschen, die in einem Irrgarten zu hastig werden: Eben die Eile führt immer tiefer in die Irre.
Hier also würfeln die Texte regelrecht durcheinander, aber nicht ohne Logik. Abfolgen an Filmnamen, Material und Vorrichtungen (die alle in den schwarzen Gängen nicht zu finden sind) oder die Aufzählung architektonischer Bauwerke bilden die Ränder, sind in Spiegelschrift oder in einem zwischen den Text gesetzten Quadrat zu finden. Ein scheinbares Durcheinander, das aber gut zu durchschauen ist.
Danielewski zwingt den Leser kaum zum Denken, höchstens zum Spielen und Probieren. Man befindet sich auf „speziellen Pfaden“, „wodurch sämtliche Lösungen zwangsläufig individuell sind.“ Ein, wie ich finde, perfekter Hinweis, auf das, was in diesem Buch zu finden ist.
Dieser dicke und so schwere Roman ist also mit allerhand Text gefüllt ist, der sich in seiner Vielfalt und Richtung gar nicht zusammenfassen lässt. Danielewski führt durch Labyrinthe, Sackgassen, Seitenwege, Tunnel, über Irrwege und durchaus auch durch etliches Füllmaterial. Doch darin sind eben auch viele Geschichten zu finden – gerade der Film Navidsons, der in seiner Leidenschaft sichtbar wird. Das Haus als eine sich beständig verändernde Metapher. Oder die Briefe der Mutter (Jonny Truants Mutter), die vielleicht über das, was sie aus Versehen ihrem Kind angetan hat (all das bleibt offen), wahnsinnig geworden ist. Überhaupt dieser Anhang mit seinen Gedichten, Zitaten, Skizzen und Collagen. Unendlich erscheindendes Material.
Über die Interviews mit zahlreichen wirklichen Leuten musste ich lachen. Da treten dann schon einmal Hofstadter (Frage: Und wie würden Sie das Haus nun beschreiben? – Als waagerechte Acht.), Derrida ( - Das Andere. [Pause] Oder welches Andere, was dann heißen soll, das Gleiche. Das Andere, kein Anderes. Verstehen Sie?), Stephen King (- Ganz schön gruselig.), Anne Rice, Copperfield, Kubrick und andere auf, um in kurzen, fiktiven Reaktionen doch auch einen Kern ihres Schaffens zu präsentieren, so, als würden sie tatsächlich interviewt.
Das Haus gerät in jedwede Deutung, wird zum Symbol, selbst zur Vagina, mit all den wissenschaftlichen und philosophischen und psychologischen Untersuchungen überwuchert, die auch in der realen Welt über so zahlreiche Wege, Dinge, Widerlegungen und Hinterfragungen angestellt werden. Die Ironie dahinter, gewinnt dem Leser nicht selten ein Lächeln ab.
Die Vergleiche zu Nabokov, Melville oder Joyce sind zwar weit hergeholt, aber allemal ist dieser Roman ein echter, durchaus beeindruckender Danielewski, den man so schnell bestimmt nicht vergisst.
Art & Vibration