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Hirngespinste

Austausch zwischen Literatur und Kunst


#16

RE: Imre Kertész

in Die schöne Welt der Bücher 07.02.2010 13:19
von LX.C • 2.821 Beiträge

"'die Zeit hilft.' 'Hilft…? Wobei?' 'Bei allem', und ich versuche ihm zu erklären, wie es ist, an einem nicht gerade luxuriösen, im ganzen aber doch annehmbaren, sauberen und hübschen Bahnhof anzukommen, wo einem alles erst langsam, in der Abfolge der Zeit, Stufe um Stufe klar wird. Wenn man die eine Stufe hinter sich gebracht hat, sie hinter sich weiß, kommt bereits die nächste. Wenn man dann alles weiß, hat man auch alles bereits begriffen. Und indes man alles begreift, bleibt man ja nicht untätig: schon erledigt man die neuen Dinge, mal lebt, man handelt, man bewegt sich, erfüllt die immer neuen Forderungen einer jeden neuen Stufe." (Kertész, Imre: Roman eines Schicksallosen, Bertelsmann, S. 272.)

Auch im Gesamtkontext und mit zunehmender Erkenntnis, was der Autor für ein konzeptionelles Ziel verfolgt, das Prozessuale, empfinde ich das erste Drittel, wie Martinus auch festgestellt hat, überkünstelt und übertrieben naiv dargestellt, das ist dem Einstieg in den Roman durchaus abträglich.

Möchte aber hinzufügen, dass der weitere Verlauf sehr lohnend und das Buch eine Bereicherung in der Auseinadersetzung mit dem Thema ist.
Das personale Erzählverhalten mit geringer Distanz, sprich, die Sicht auf die Geschehnisse allein mit den Augen der Figur und größtmöglicher Nähe bei gleichzeitiger Vernachlässigung des Emotionalen, lassen die Beschreibungen im weiteren Verlauf des Lagerlebens sehr detailliert, scheinbar sehr sachlich ohne literarische Verklärung vonstatten gehen, oftmals sogar mehr einem deskriptiven als narrativen Text ähnelnd. Das ist durchaus ein Gewinn, mikrogeschichtlich.

Interessant waren für mich auch die perspektivischen Überschneidungen. Wie gesagt, bei der Ankunft in Auschwitz-Birkenau mit Borowskis Erzählung. Und die Tage der Räumung und Befreiung Buchenwalds mit Fred Wander, dessen Protagonist ebenfalls die Aufforderung übergeht, die Juden hätten sich zu sammeln, und ins Quarantänelager geflüchtet versucht, zu überleben.


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[i]Poka![/i]

zuletzt bearbeitet 07.02.2010 13:23 | nach oben springen

#17

RE: Imre Kertész

in Die schöne Welt der Bücher 07.02.2010 14:12
von Martinus • 3.195 Beiträge

Zitat von LX.C

Möchte aber hinzufügen, dass der weitere Verlauf sehr lohnend und das Buch eine Bereicherung in der Auseinadersetzung mit dem Thema ist.
Das personale Erzählverhalten mit geringer Distanz, sprich, die Sicht auf die Geschehnisse allein mit den Augen der Figur und größtmöglicher Nähe bei gleichzeitiger Vernachlässigung des Emotionalen, lassen die Beschreibungen im weiteren Verlauf des Lagerlebens sehr detailliert, scheinbar sehr sachlich ohne literarische Verklärung vonstatten gehen, oftmals sogar mehr einem deskriptiven als narrativen Text ähnelnd. Das ist durchaus ein Gewinn, mikrogeschichtlich.



Volle Zustimmung!!
Die fast unbegreifliche Konsequenz vom "Glück der Konzentrationslager" zu sprechen, hat offenbar nur Kertész formuliert. In den letzten etwa 100 Seiten scheint die kindliche Perspektive überwunden, wird vom grauenhaften Alltag überschüttet.

Liebe Grüße
mArtinus




„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
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#18

RE: Imre Kertész

in Die schöne Welt der Bücher 03.06.2010 11:49
von Martinus • 3.195 Beiträge

Zitat von LX.C
Auf der naiven Schiene kommt auch "Der Junge im gestreiften Pyjama" von Boyne daher. Hast du das auch gelesen? Aus meiner Sicht ein absolut schlechtes Buch und ein Beispiel dafür, dass Autoren auf literarischem Weg sich dem Thema nicht annehmen sollten, wenn sie auf keine Erfahrungen zurückgreifen können.




Den Boyne habe ich gerade gelesen. Was mich besonders stört, der Leser, z.B. ein elfjahriger, der vielleicht noch nie was von Auschwitz gehört hat, für den wäre das Buch wirklich nichts, weil (auch fast ansatzweise) nicht klar wird, was hinter dem Stacheldraht passiert. Es ist zwar ein Jugendbuch (oder Kinderbuch), trotzdem kann jungen Menschen etwas mehr zugemutet werden). Ich verstehe nicht, warum jemand so ein Buch überhaupt schreiben wollte. Ein Vergleich mit Kértesz wirkt an sich schon lächerlich, nicht wahr?

Liebe Grüße
mArtinus




„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
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#19

RE: Imre Kertész

in Die schöne Welt der Bücher 03.06.2010 12:42
von LX.C • 2.821 Beiträge

Ja, finde ich auch. Nicht mal als Kinder- und Jugendbuch geeignet. Es wird ja auch immer als solches entschuldigt? und liegt doch in jeder Buchhandlung zwischen der ganz normalen "Erwachsenliteratur". Den Verkaufserfolg hat es sicher auch nicht als Kinder- und Jugendbuch erzielt. Ich kenne zu viele Erwachsene, die dieses Buch gelesen haben. All das lässt ja wiederum auch Rückschlüsse auf die Vermarktungsstrategie zu. Ich traue dem Braten nicht.


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[i]Poka![/i]

zuletzt bearbeitet 03.06.2010 12:47 | nach oben springen

#20

RE: Imre Kertész

in Die schöne Welt der Bücher 12.07.2010 11:53
von LX.C • 2.821 Beiträge

In der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung war gestern ein sehr interessantes Interview. Interessant bzgl. Kertész, aber auch bzgl. Ungarn. Wusste gar nicht, dass Kertész so starken Anfeindungen seiner Landsleute ausgesetzt ist.

Zitat
Die Ungarn werden mich nie verstehen
Nobelpreisträger Imre Kertész über den Erfolg der Rechtsextremen in Ungarn und das friedliche Leben in Berlin

"Warum ich in Berlin
lebe? Weil es sich hier
für einen jüdischen
Schriftsteller besser
lebt als in Budapest."
"Ungarn war immer der Lieblingskommunismus des Westens. Dabei
war es in Wahrheit ein Polizeistaat."


Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 11.07.2010

Online muss man leider für das Interview zahlen. Schade.


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[i]Poka![/i]

zuletzt bearbeitet 12.07.2010 11:59 | nach oben springen

#21

RE: Imre Kertész

in Die schöne Welt der Bücher 12.07.2010 12:38
von Martinus • 3.195 Beiträge

Am 07.11.2009 10:21 hatte ich ein Interview mit Kértesz verlinkt, in dem er auch über sein Verhältnis zu Ungarn spricht. Ungarn hat den Holocaust nicht aufgearbeitet, hat ihn verdrängt, obwohl Ungarn im letzten Kriegsjahr am Holocaust schrecklichst beteiligt war, auch eigene Literaten in den Tod getrieben hatte. So erschoss ein ungarischer Nazi den Lyriker Miklós Radnóti auf einem Gewaltmarsch, der im Lager Bor, wo mein Großvater an der Ruhr starb, seinen Anfang nahm.




„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
zuletzt bearbeitet 12.07.2010 12:43 | nach oben springen

#22

RE: Imre Kertész

in Die schöne Welt der Bücher 30.01.2011 14:54
von LX.C • 2.821 Beiträge

Zitat von Martinus
Und dann musste ich grübeln, was György mit dem „Glück der Konzentrationslager“ meint. Glück an diesem Ort des Grauens? Wie absurd erscheint das, dabei ist das Überleben auch schon Glück, oder wenn man sich nach schinderischer Arbeit schlafen legen kann oder seine letzten Lebenskräfte aufspürt. Trotzdem erscheint es unglaublich, was der kleine Gyuri als Glück empfindet.



Mit "Glück der Konzentrationslager" meint Kertész einerseits den Eigensinn, den kleinen Widerstand des Einzelnen, sich gegen die Regeln aufzulehnen. Andererseits wendet er diese Formulierung nicht umsonst am Ende des Romans an, weil die Menschen im Grunde nichts anderes hören wollten, als Beschönigungen oder Relativierungen. "Vom Glück der Konzentrationslager, müßte ich ihnen erzählen, das nächste Mal, wenn sie mich fragen."


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[i]Poka![/i]

zuletzt bearbeitet 30.01.2011 14:57 | nach oben springen

#23

RE: Imre Kertész

in Die schöne Welt der Bücher 07.02.2011 19:03
von LX.C • 2.821 Beiträge

Roman eines Schicksallosen – neu gelesen

Wenn man die Intention eines Autors begreift, dann verschwinden viele Kritikpunkte oftmals ganz von selbst. So auch bei Kertész „Roman eines Schicksallosen“, der in seiner naiv distanzierten Art bei mir zunächst auf völliges Unverständnis stieß. Kopfschüttelnd saß ich über der Literatur und verstand einfach nicht, warum dem Hauptprotagonisten, dem jüdischen Jungen György Köves sentimentale Gesten Betroffener peinlich waren und sich die Täter-Opfer-Maschinerie ständig von selbst verstand. Im Klappentext steht: „Niemand mochte dieses Buch veröffentlichen. Es verhöhne die Opfer des nationalsozialistischen Terrors, hieß es in einem Verlag.“ In diesen Tenor hätte ich nie einstimmen wollen. Dennoch kamen mir Zweifel, ob die Herangehensweise Kertész richtig sein kann. Diese Zweifel hatten insbesondere darin ihren Ursprung, dass meine Lesweise das Thema betreffend bisher eher eine sentimental-emphatische war. Glücklicherweise setzte ich die Beschäftigung mit dem Roman fort. Der Komplex Shoah-Literatur allgemein führte mich schließlich zu einigen Knackpunkten, in der Rezeption auch als Tabubrüche benannt, die dieses Werk so einzigartig wertvoll und gleichzeitig so leicht angreifbar machen. Zunächst aber zum Handlungsverlauf. Der umfasst mehrere Stationen, die innerhalb eines Jahres über Leben und Tod des Protagonisten entscheiden.

György Köves aus Budapest, ein Junge von kaum 14 Jahren, gerät Schritt für Schritt in die Vernichtungs-Maschinerie der Nationalsozialisten. Noch 1944 übernahmen die deutschen Nationalsozialisten Ungarn, da ihnen die Juden-Politik der dort kooperierenden Regierung zu schleppend verlief. Man kann durchaus erwähnen, dass Ungarn bis dahin, trotz der Repressionen gegen die Juden, eine Art Insel war und vielen noch eine letzte Möglichkeit bot, sich in Sicherheit zu bringen. Noch im letzten Kriegsjahr, gar in den letzten Monaten wurden aus Ungarn fast 500 000 Juden überwiegend nach Auschwitz deportiert. Aber zurück zum Hauptprotagonist György Köves. Er erlebt die Einschränkungen zunächst an seinem Vater. Dieser wird zum „Arbeitsdienst“ einberufen. Er regelt zuvor noch seine Geschäfte, gibt sie an einen ungarischen Vertrauensmann ab. Am Abend dann das Abschiedsfest, zu dem alle Verwandten geladen sind, inklusive Schulterklopfen der nichtjüdischen Nachbarn. Ein Abschied, der György in seiner Sentimentalität eher unangenehm als traurig berührt. „Aber wenigstens – so dachte ich – konnten wir den Armen mit der Erinnerung an einen schönen Tag ins Arbeitslager ziehen lassen.“ (33) Die nächsten Ereignisse vollziehen sich sukzessiv. Zunächst die Einschränkung der Bewegungsfreiheit jüdischer Mitbürger innerhalb Budapests. Dann muss auch György zur Zwangsarbeit antreten, zunächst noch in Ungarn. Er sieht’s im Vergleich zu seiner momentanen Situation positiv, gewinnt dadurch einen Ausweis, der ihm trügerische Sicherheit zu geben scheint, und wieder mehr Bewegungsfreiheit, da das Shell-Werk, in dem er arbeiten muss, etwas außerhalb Budapests liegt. Die nichtjüdischen Nachbarn diskutieren noch, welche Linie er - direkt nach Auschwitz, wie er ihnen später provokativ vorhalten wird - nehmen soll, die Straßenbahn oder den Bus. Überhaupt entdeck György die Rationalität, die in den Ereignissen steckt, schnell am „kleinen Mann“. Anhand des nahe gelegenen Bäckers, der sich von der den Juden zugeteilten Brotrationen jedes Mal gewinnbringend etwas einbehält, stellt er fest:

„Irgendwie, wegen seines wütenden Blicks und seiner geschickten Handbewegung, habe ich auf einmal die Richtigkeit seines Gedankengangs verstanden, nämlich, warum er die Juden in der Tat nicht mögen kann: sonst müsste er ja das unangenehme Gefühl haben, er betrüge sie. So hingegen verfährt er seiner Überzeugung gemäß, und sein Handeln wird von der Richtigkeit einer Idee gelenkt, was nun aber – das sah ich ein – etwas ganz anderes sein mag, natürlich.“ (17)

Diese Erkenntnis, dass es keine objektiven Kriterien gibt, die sie von anderen Menschen unterscheiden würde, sondern nur die Idee Jude sie in diese missliche Lage bringt, gibt er in einer Diskussion um das Judentum auch an seine drei Haus- und Altersgenossin weiter. Ein Gedanke, der für die Mädchen unerträglich ist, weil er die Sinnlosigkeit ihrer Lage offenbart. Eines Tages werden schließlich alle Juden, die zum Shell-Werk fahren, aus dem Bus geholt und in ein Sammellager gebracht. Darunter auch György. Ohne Vorwarnung, ohne jemanden aus der Familie informieren zu können. Mit falschen Versprechungen werden sie dazu gebracht, sich freiwillig zum Transport zu melden. Arbeit in Deutschland verspricht man ihnen und bessere Transportbedingungen. Das heißt 60 statt 80 Personen in einem Viehwagon, einen Stapel Brote und Fleischkonserven, jedoch kein Wasser. Und Deutschland ist, so Györgys Meinung, ja auch nicht das schlechteste Ziel. So kommt die Deportationsmaschinerie wie von selbst in Gang. Statt in Deutschland landen sie in Auschwitz-Birkenau, einer Örtlichkeit mit Rasenstücken, Gemüsegärten, Blumenbeeten, soweit vom Bahnhof aus einzusehen, und sogar einem Fußballplatz. „Es war alles sehr sauber, hübsch und schmuck“ (103) Die „Gefangenen“ hingegen kommen ihm nicht gerade Vertrauen erweckend vor, „abstehende Ohren, hervorspringende Nasen, tiefliegende winzige Augen […] ich fand sie verdächtig und insgesamt fremdartig.“ (90)
Ganz naiv-rational beobachtet György die Selektion am Bahnhof. Wie soll er begreifen, dass viele Menschen direkt ins Gas geschickt werden. Für ihn stellt sich nicht anders als den Nazis die ihm logisch erscheinende Frage nach arbeitsfähig und arbeitsunfähig. Das geht soweit, dass György sich in die Lage des Arztes hineinversetzt und versucht, nach dessen Kriterien auszusortieren. Überhaupt muss er feststellen, dass alles wie geschmiert abläuft, letztlich in aller Stille, und er kann nicht mal sagen, ob es an den Menschen selbst oder an den zwei handvoll „schmucken“ und „festen“ Soldaten liegen würde, welche sich um die hunderte von Menschen versammelt haben. Erst am Abend wird er das Schicksal der anderen begreifen, wenn die Schornsteine glühen, ein beißender Ledergestank über das Lager zieht und sich alles herumgesprochen hat. Er nimmt an, dass sich die Vergasungen ungefähr zugetragen haben müssen, wie bei dem Vorgang des Duschens seiner Gruppe - Kleiderwechsel, Abgabe von Wertgegenständen, Rasur, Duschraum - Schritt für Schritt, in aller Stille. Lange Zeit darüber nachzudenken bleibt ihm nicht, denn als Lagerinsasse muss er sich bereits auf die nächsten Schritte konzentrieren, der Prozedur der Verpflegung, dem Latrinengang, dem Appell, der Schlafplatzsituation. Nach einigen Tagen geht es wieder auf Transport, diesmal nach Buchenwald. Auch in Buchenwald geht Györgys Beobachtung zufolge alles sehr geordnet zu. Die Prozedur der Rasur, Dusche, Desinfektion, Kleidervergabe ist in etwa die gleiche, nur geschieht alles umsichtiger, sogar das Wasser ist warm. Auch hier gibt es ein Krematorium, eines nur, zur Entsorgung der nach Lagerumständen natürlich zu Tode gekommenen. Ja, György gewinnt Buchenwald fast lieb, wie er sich ausdrückt, und ist enttäuscht, als man ihn weiter verschickt ins Arbeitslager Zeitz. Schwere körperliche Arbeit und ausmergelnder Hunger während der letzten Kriegswochen, schließlich die Folter eines Aufsehers, geben ihm körperlich und seelisch den Rest. Er beginnt sich aufzugeben, gehen zu lassen, wird zum Muselmann, wie man die schwachen und gleichgültigen Gefangenen nennt. Arbeitsunfähig wird er von Kameraden, die sich noch wage an die „Freundschaft“ erinnern, denn Freundschaft hat hier ihre Grenzen, auch ganz klar für György, ins Krankenlager gebracht. Sein Verständnis für den Ablauf der Dinge reicht bis in den eigenen Sterbeprozess hinein, als sich Scharen von Läusen über seine eiternde Wunde hermachen, konstatiert er:

„Nach einer Weile habe ich es dann aufgegeben und dieser Gefräßigkeit nur noch zugesehen, diesem Gewimmel, dieser Gier, diesem Appetit, diesem hemmungslosen Glück: es war irgendwie, als würde ich das von irgendwoher ein wenig kennen. Mir ging auf, dass ich sie in gewisser Hinsicht verstehen konnte“ (202)

Schließlich bringt man ihn zurück nach Buchenwald, seine sterblichen Überreste, wie er verwundert zur Kenntnis nehmen muss, da er ja noch lebt und dieser Begriff doch eigentlich Leichen vorbehalten ist. Würdelos wie ein Ding wird er verschickt, wie ein Ding über andere Sterbende gestapelt, auf einen Wagen geladen, wie ein Ding werden die Sterbenden vorn und hinten gepackt und geschmissen. Wie ein Wunder wird er von einem Sanitäter in eine Krankenbaracke gebracht, während andere zurückbleiben. Zunächst kommt er in eine Seuchenbaracke. Wie sich zuvor die Läuse an ihm labten, verhilft ihm nun ein Sterbender zu Kräften. Er nutzt dessen ausstrahlende Wärme im kalten Winter 1945, als die letzte Flamme erkaltet, sagt er bis zur ansetzenden Verwesung nichts, übernimmt weiter die Rationen des Verstorbenen, kräftigt sich an ihnen. Ein weiteres kleines Wunder geschieht, er wird als Jude in die Krankenbaracke der Kommunisten gebracht, für ihn nicht nachvollziehbar. Wärme, echte Betten, eine gepflegte Stube, gut genährte Menschen. Seine Wunden werden fachmännisch versorgt. Selbst als in den letzten Tagen noch die Juden in den Tod geschickt werden sollen, behält man ihn schützend ein. Schließlich kommt es zu dem bekannten Aufstand in Buchenwald und zur Befreiung des Lagers, die für ihn erst an Bedeutung gewinnt, als die Lagerordnung freiwillig wieder hergestellt und für eine warme Mahlzeit gesorgt ist. Zurück in Budapest stößt er auf Unverständnis, Verdrängung, Tabuisierung. Ihm ist inzwischen alles klar geworden, die Logik der Schritte, die Zeitlichkeit der Abläufe, dass nichts über niemanden hereinbrach, die Tatsache, dass jeder seine Schritte zu gehen hatte, unausweichlich, da nichts etwas geändert hätte, nichts was er hätte tun können, nichts was sein Vater hätte tun können, auch nichts, was die Nachbarn, die den Vater wohl wissend verabschiedet haben, hätten tun können. Nur eins ist ihm wichtig, dass die Menschen sich ihrer Verantwortung bewusst werden und sich der Vergangenheit stellen, denn nur wenn man begreift, kann man für die Zukunft lernen: „Es gehe nicht um Schuld, sondern nur darum, daß man etwas einsehen müsse, schlicht und einfach, allein dem Verstand zuliebe, des Anstandes wegen, sozusagen.“ (285) Doch selbst das, wie György Köves feststellen muss, ist schon zu viel verlangt.

Bundespräsident Wulff hat sie erst kürzlich wieder zum Gedenken an die Shoah verwendet, Begrifflichkeiten wie: „unfassbar“, „unsagbar“, „unbeschreiblich“ und auch die nicht unproblematische Wendung des Zivilisationsbruchs ist gefallen. Unsere Verantwortung muss in erster Linie durch Einsicht und Verstehen getragen sein. Und genau das ist Kertész Anliegen, solchen Wendungen und einer verklärenden Sentimentalität die Logik der Schritte und der Zeitlichkeit entgegenzusetzen. Er lenkt den Blick des Lesers, entgegen dem Topos der „Unverstehbarkeit“, auf die sukzessiven Abläufe der Vernichtungsmaschinerie. „Roman eines Schicksallosen“ soll nicht im Herzen wirken, sondern im Verstand. Daraus ergibt sich auch schon das entscheidende Mittel: die Distanz György Köves, der mit einer naiv-rationalen, fast teilnahmslosen Beobachtungsweise, einer wissenschaftlichen Methode gar nicht so fern, jegliche Sentimentalität ausschließt; was eingangs auf den Leser eben sehr verstörend wirken kann. Um die Erzählweise nachhaltig authentisch zu machen, gewissermaßen zu beglaubigen, legt Kertész den Charakter frühzeitig als analytisch und wenig emotional an. Wie man so schön zu sagen pflegt: György ist ein Kopfmensch und kein Bauchmensch. Wenn seine Stiefmutter wegen des Vaters, der ins Arbeitslager muss, weint, ist ihm das peinlich oder unangenehm. Alles was gegen die Vorschriften ist, sucht er aus der Vernunft heraus tunlichst zu vermeiden, „habe es mir dann anders überlegt: im leichten Gehwind könnte das Revers zurückklappen und den gelben Stern verdecken, was gegen die Vorschrift wäre.“ (9) Die oben angeführte Szene beim Becker und seine Äußerungen zum Judentum, aber auch der Streit seiner Eltern um das Sorgerecht, in dem er nicht seinem Gefühl gehorcht, sondern einzig dem Gericht und dem Vater, dem eben das Recht zugesprochen wurde, das zu brechen György sich bei aller Liebe zur Mutter nicht befugt sieht, machen diesen Umstand frühzeitig deutlich. „Schließlich ist das ja ihre Auseinandersetzung. Und es wäre mir peinlich, wenn ich da urteilen müsste. Und überhaupt, ich kann doch nicht meinen Vater bestehlen.“ (38)
Hinzu kommt das Faktum Pubertät, das als Legitimierung der Darstellung von Sicht- und Verhaltensweisen Györgys nicht unterschätzen werden darf. Neben den charakterlichen Eigenschaften des Jungen werden Distanz und Rationalität auch gestaltungstechnisch hergestellt. Durch die Außensicht der Erzählinstanz, die keine Einblicke ins Bewusstsein der Handelnden Personen zulässt, wir wissen außer bei György, und auch da verdichtet sich die Innensicht erst als eine Außensicht aufgrund des Sterbeprozesses zunehmend unmöglich wird, niemals was im Inneren einer Person vorgeht. Zu erfassen bleibt allein die Handlungsebene der Täter, Mitläufer und Opfer. Ein Personales Erzählverhalten rückt die Sichtweise Györgys zudem in den absoluten Mittelpunkt. Die Erzählinstanz tritt damit vollständig hinter den Hauptprotagonisten zurück und kann unabhängig als solche nicht eingreifen. Ein weiterer Punkt tritt hinzu, der jegliche vorwegnehmende Eingriffe des Erzählers unmöglich macht. Kertész wählt statt der gängigen Retrospektive die Prospektive. „Der Text ist nicht Beschreibung, sondern selbst Ereignis, nicht Erklärung, sondern Gegenwart“ (Galeerentagebuch, Reinbek 1997, S. 27.) György erzählt seine Geschichte stringent von Anbeginn. Er muss sie erst Schritt für Schritt durchleben, um am Ende das Geschehene in seiner Gesamtheit zu begreifen. Das lässt schon erahnen, dass dem Leser auf diese Weise die Ereignisse geradezu vor Augen entfaltet werden. Sich vom Geschehen enthaltend zu distanzieren wird so geradezu unmöglich, es sei denn, man klappt das Buch zu. Der Leser steht mittendrin, finde sich direkt im Gewühl der Menschenmenge, in der selektierten Gruppe, in der Schlafgemeinschaft, auf dem Appellplatz, in der Arbeitskolonne und muss sich wie György vom Strom der Abläufe treiben lassen.
„All diese Bilder, Stimmen und Begebenheiten haben mich einigermaßen verwirrt und schwindlig gemacht, in diesem sich am Ende zu einem einzigen Eindruck vermegenden, seltsam, bunten, verrückten Wirbel“ (93)
Die Abläufe werden nicht in Frage gestellt, sondern provokativ verständlich in Kauf genommen. In Frage gestellt wird höchstens abweichendes Verhalten der Opfer, ganz der Eigenschaft Györgys entsprechend, Sentimentalitäten peinlich zu finden und den „Gesetzmäßigkeiten“ oberste Priorität einzuräumen. Die Wendung „versteht sich“ tritt unzählig in Erscheinung. Der Tod einer alten Frau während des Transportes scheint ihm eben den Umständen entsprechen unvermeidbar, der Vorgang der Selektion in Taugliche und Untaugliche vollkommen nachvollziehbar und klar, die letzte Mahnung, Wertsachen abzugeben, angesichts des Verbots von Wertsachen im Lager nur logisch richtig. Das Verständnis geht bis zur Einfühlung in die Täter, „mit den Augen des Arztes, konnte ich nicht umhin festzustellen, wie viele von ihnen alt und sowieso unbrauchbar waren“ (100), und macht auch vor dem eigenen Verfall nicht halt, wie die Szene mit den Läusen zeigt, die er nicht einfach nur beobachtet, sondern ihrer instinktiven Gier Verständnis entgegenbringt, oder der Terror eines Aufsehers gegen ihn, der ihn fast umbringt: „Beinahe las ich schon so etwas wie Befriedigung, Zuspruch, um nicht zu sagen Stolz auf seinem Gesicht, womit er, das musste ich zugeben, unter einem bestimmten Blickwinkel gesehen sogar recht hatte.“ (188)
György nimmt die Rolle des Opferdaseins geradezu an, was ihn zum Paradigma einer Täter-Opfer-Logik macht. Oberste Pflicht sieht er darin, die Aufgaben mit großem Ernst zu erfüllen, ein guter Häftling zu sein, da ein Nichtbestehen der Anforderungen in seinen Augen gegen die Ordnung der Dinge wäre und ihm gegenüber den Tätern und letztlich sich selbst ein schlechtes Zeugnis ausstellen würde.
Das alles macht gewiss das „Empörende“ der Erzählweise aus, was, ohne Blick auf Kertész Anliegen und die Vernachlässigung des Lesers als komplementäre Instanz, zu Missverständnissen führen kann und auch bewusst in der Rezeptionsgeschichte zum Anlass genommen wurde, den Roman zu diskreditieren oder totzuschweigen. Seit der ersten Veröffentlichung 1975 erfuhr er Ignoranz und Missachtung und fand erst 1995 die verdiente Aufmerksamkeit in seiner Rolle der Wirklichkeitsbewältigung.

Und das muss Shoahliteratur sein – Wirklichkeitsbewältigung. Folgt man Kertész Ansichten in „Wem gehört Auschwitz?“, dann erfüllt Literatur der Shoah diesen Anspruch, wenn sie über die Möglichkeit der Deutung und Interpretation zum Erkenntnisgewinn beiträgt. Sie darf sich nicht einfach an der Geschichte der Shoah bedienen, sondern muss ihr dienlich sein, sich mit ihr befassen, auseinandersetzen, andernfalls verkommt sie zu Kitsch. Sie muss sittliche Konsequenzen einbeziehen. Sie darf nicht den Eindruck erwecken, die Shoah wäre ein einmaliges, sprich unwiederholbares Ereignis wider der menschlichen Natur gewesen, so, als wäre sie nur noch eine ferne historische Erinnerung, aus der die Menschheit unbeschadet herausgetreten sei. Shoah muss als Verlängerung der Zivilisation, als ein Ereignis, das aus der Zivilisation hervorgegangen ist und in ihr stattgefunden hat, begreiflich werden:

„Lieber Junge’, rief er da, wobei er, wie mir schien, doch langsam die Geduld verlor, ‚warum sagst du bei allem, es sei natürlich, und immer bei Dingen, die es überhaupt nicht sind!’ Ich sagte, im Konzentrationslager sei so etwas natürlich. ‚Ja, ja’, sagte er, ‚dort schon, aber…’, und hier stockte und zögerte er“ (270)

Die Wendung des Zivilisationsbruchs, wie sie Wulff beim Gedenken am 27. Januar 2011 in Auschwitz verwendet hat, impliziert ein nahtloses Anknüpfen an ein „davor“. Nur wenn ein solches Verbrechen im Zusammenhang einer „deformierten Lebensweise“ der Zivilisation verstanden wird, ist eine nachhaltige, fortwährende kritische Auseinandersetzung mit Gesellschaft und Kultur möglich, die eine Wiederholung verhindert. Nach Goldhagen bewegt sich Antisemitismus Wellenförmig und schlummert auch heute noch, seine besonders starken Ausläufer werden immer dann sichtbar, wenn eine gesellschaftliche Krise auftritt. Eine Gesellschaft, die ein solches Ereignis als Zivilisationsbruch versteht, als ein historisch fernes ablegt, ohne Einsicht zu üben, die jeder Übernahme von Verantwortung vorausgeht, wird ihre Fehler wiederholen. Ungarn, um bei Kertész zu bleiben, wo Hetzkampagnen gegen Linke, Juden und der Glaube an eine jüdische Weltverschwörung wieder hohe Medienwirksamkeit erreichen, wäre da nur eins von vielen Beispielen. Allein die Nacherzählung als persönlicher Weg der Katharsis, an der der Leser bestenfalls noch partizipieren darf, reicht Kertész bei weitem nicht aus. Sein Anliegen ist es, die Shoah anhand der Beobachtungen György Köves Schritt für Schritt begreifbar zu machen. Die Zeitlichkeit der Ereignisse innerhalb zivilisatorischer Prozesse sichtbar werden zu lassen, die Rationalität, die den Handlungen von Tätern, Mitläufern, Opfern eingeschrieben ist, und mit Wendungen aufzuräumen, dass die Dinge unbegreiflich und wie aus dem Nichts über die Menschen hereingebrochen wären. - Shoah als ein in seinen Abläufen, Mechanismen, Strukturen verstehbarer, nachvollziehbarer Akt. Dies auf literarisch-paradigmatische Weise aufgezeigt zu haben, ist Kertész Verdienst.

„Jetzt wirkt alles so fertig, so abgeschlossen, unveränderlich, endgültig, so ungeheuer schnell und so fürchterlich verschwommen, so, als sei es ‚gekommen’ […] Jeder hat seine Schritte gemacht, solange er konnte: auch ich, und das nicht nur in der Kolonne in Birkenau, sondern schon hier zu Hause. Ich habe sie mit meinem Vater gemacht, mit meiner Mutter […] Ich und kein anderer hat meine Schritte gemacht, und ich behaupte, mit Anstand. Der einzige Fleck, der einzige Schönheitsfehler, den man mir eventuell vorwerfen könnte, das einzig Zufällige sei, daß wir uns jetzt hier unterhielten – doch dafür konnte ich nichts.“ (282-284)

(Kertész, Imre: Roman eines Schicksallosen, Rowohlt Verlag, Berlin 1996.)


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[i]Poka![/i]

zuletzt bearbeitet 08.12.2011 14:25 | nach oben springen


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