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Hirngespinste

Austausch zwischen Literatur und Kunst


#1

Imre Kertész

in Die schöne Welt der Bücher 07.11.2009 10:21
von Martinus • 3.195 Beiträge

Hallo,

der ungarische Schriftsteller Imre Kertész, der seit Jahren in Berlin/Charlottenburg lebt, begeht am 09. November 2009 seinen 80. Geburtstag. In seinem Hauptwerk "Roman eines Schicksallosen", dem ersten Band des inzwischen zur Tetralogie angewachsenen Zyklus zur "Schicksallosigkeit", zu dem es inzwischen sogar ein Wörterbuch gibt (László F. Földényi: Schicksallosigkeit. Ein Imre-Kertész-Wörterbuch, 363 S.), wirft Kertész erstmals einen ungewöhnlichen Blick auf den Holocaust.

Im Galeerentagebuch schreibt Kertész:

Zitat von Imre Kertész
Das Konzentrationslager ist ausschließlich als Literatur vorstellbar, als Realität nicht.

(Galeerentagebuch, Seite 253, Rowohlt Berlin 1993).

Zum Geburstag des Autors veröffentlichte die Berliner Morgenpost ein Interview.

Zum "Roman eines Schicksallosen" später mehr.

Liebe Grüße
mArtinus




„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
zuletzt bearbeitet 07.11.2009 10:23 | nach oben springen

#2

RE: Imre Kertész

in Die schöne Welt der Bücher 07.11.2009 17:15
von Martinus • 3.195 Beiträge

"Roman eines Schicksallosen"(der erste Teil der Tetralogie der Schicksallosigkeit)

Im Galeerentagebuch verrät uns Kertész über den „Roman eines Schicksallosen“:

Zitat von Imre Kertész
Das Autobiographischste in meiner Biographie ist, daß es in "Schicksalslosigkeit" nichts Autobiographisches gibt. Autobiographisch ist, wie ich darin um der großen Wahrhaftigkeit willen alles Autobiographische weggelassen habe.

(Galeerentagebuch Seite 185, Rowohlt Berlin 1993), demzufolge ich den Roman als Roman zu lesen habe, auch wenn ich weiß, dass Imre Kertész in den Konzentrationslagern war.

Da sein Vater zum Arbeitsdienst einberufen werden soll, hat der fünfzehnjährige Gyurka Schulfrei bekommen. Der Roman wird aus der Sicht von Gyurka erzählt, der noch keinen Einblick in die Erwachsenenwelt hat, sich nicht darüber im klaren ist, dass er womöglich den letzten Tag mit seinem Vater verbringt. Von den Gefahren, denen Juden in dieser schrecklichen Zeit ausgesetzt sind, ist der Junge ahnungslos, vielleicht auch noch zu naiv, um zu begereifen , obwohl er den Judenhass eines Bäckers zu spüren bekommen hatte. Allerdings ist der Junge ziemlich aufgeweckt, weil er die Absurdität des Rassenhasses darlegen kann. Wenn wir den Roman allerdings weiterverfolgen, erscheint mir diese Aufgewecktheit allerdings unglaubwürdig. Denn obwohl Gyurkas Vater und Onkel Lajos die Gefahren des Nationalsozialismus erahnen oder wissen, bleibt der Junge ahnungslos und hinterfragt nicht. Natürlich habe ich mich gefragt, ob diese Ahnungslosigkeit nur aus heutiger Sicht naiv ist. Das Horthy-Regime war zwar antisemitisch und erließ diskriminierende Judengesetze, man ließ die Juden aber noch am Leben (siehe hier ). Erst als die Nazis 1944 Ungarn besetzten, in der Zeit, in der unser Roman spielt, wurden Hunderttausende in Konzentrationslager gebracht. Spätestens dann muss sich das in Ungarn herumgesprochen haben. Trotzdem, in seiner Unwissenheit ist Gyurka nicht allein. Gyurka, der „nicht einfach nur so dahinlebe, sondern in der Industrie kriegsgewichtige Arbeit leiste“, wird eines Tages auf dem Weg zur Arbeit aus dem Autobus geholt. Ein Polizist sammelt an diesem Morgen Juden aus den Autobussen heraus und bringt sie vorerst in ein Zollhaus. Für die Jungen, die sich von der Fabrik her kannten, war dieses Zusammentreffen belustigend, für die Erwachsenen, die auch im Zollhaus festgehalten wurden, war es eine Verunsicherung.

Zitat von Imre Kertész
...alles Männer. Aber wie ich sah, haben sie den Polizisten schon mehr Mühe gemacht: sie verstanden die Sache nicht, schüttelten den Kopf, erklärten fortwährend etwas, holten immer wieder ihre Papiere hervor, belästigten ihn mit Fragen.


Gyurkas Naivität erweist sich als treffendes Mittel, dem Leser die Grausamkeit der Lager näher zu bringen. Hierin verwirklicht sich offenbar Kertész Aussage

Zitat von Imre Kertész
Das Konzentrationslager ist ausschließlich als Literatur vorstellbar, als Realität nicht.

(Galeerentagebuch, Seite 253).

So assoziiert der Junge die Schornsteine von Auschwitz mit dem Schornstein einer Lederfabrik, den er mal gesehen hat, der auch Gestank verbreitet hatte. Auch die Bemerkung

Zitat von Imre Kertész
...und der Ort, wo sie vergast wurden, sei sehr hübsch gelegen, zwischen Rasenplätzen, Wäldchen und Blumenbeeten: deshalb hatte ich schließlich den Eindruck, es sei eine Art Schabernack....


schockiert, macht das Grauen erahnbar. Ich gebe gerne zu, mich selten so gegraut zu haben wie bei Kertész. Dagegen ist H.P. Lovecraft ein Klinkerlitzchen, der mich, weil sich andauernd Motive wiederholen, irgendwann dann auch gelangweilt hat. Nicht so bei Kertész. Naive Feststellungen, im KZ erfahren zu haben, dass Zigeuner Verbrecher seien, brennen sich in Gehirnwindungen. Durch Weglassungen bestimmte Wirkungen auf den Leser zu projezieren, ist eine große Kunst, und diese Kunst beherrscht Kertész. Der Leser ist der Wissende, Gyurka, was übrigens eine Verniedlichung von György ist, ist der Unwisende. Auch wenn Gyurka beim Anblick rauchender Schornsteine wie ein Wunder hinterfragt, "ob die Epidemie wohl solche Ausmaße habe, daß es so viele Tote gab.", bleibt Gyurka der kleine Gyurika, der die Läuse beobachtet, die in seinem Fleisch saßen und sich von seiner Wunde nährten. Erschaudernd, wie er vom Ekel faulendendem Fleisches, von Krätze, erzählt, von scheußlichen Entdeckungen am eigenen Körper, sodass sich Gyurka nicht mehr waschen möchte. Und dann...

Und dann musste ich grübeln, was György mit dem „Glück der Konzentrationslager“ meint. Glück an diesem Ort des Grauens? Wie absurd erscheint das, dabei ist das Überleben auch schon Glück, oder wenn man sich nach schinderischer Arbeit schlafen legen kann oder seine letzten Lebenskräfte aufspürt. Trotzdem erscheint es unglaublich, was der kleine Gyuri als Glück empfindet. Fesselnd und eindringlich sind die Erlebnisse in den Konzentrationslagern beschrieben

Zitat von Imre Kertész
„Mit einer solchen Last kann man kein neues Leben beginnen“, und da hatte er bis zu einem gewissen Grad recht, das mußte ich zugeben. Nur verstand ich nicht ganz, wie sie etwas verlangen konnten, was unmöglich ist,....



Liebe Grüße
mArtinus




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zuletzt bearbeitet 21.01.2010 08:40 | nach oben springen

#3

RE: Imre Kertész

in Die schöne Welt der Bücher 07.11.2009 18:01
von LX.C • 2.821 Beiträge

Zitat von Martinus
Hallo,

der ungarische Schriftsteller Imre Kertész, der seit Jahren in Berlin/Charlottenburg lebt, begeht am 09. November 2009 seinen 80. Geburtstag. In seinem Hauptwerk "Roman eines Schicksallosen", dem ersten Band des inzwischen zur Tetralogie angewachsenen Zyklus zur "Schicksallosigkeit", zu dem es inzwischen sogar ein Wörterbuch gibt (László F. Földényi: Schicksallosigkeit. Ein Imre-Kertész-Wörterbuch, 363 S.), wirft Kertész erstmals einen ungewöhnlichen Blick auf den Holocaust.

Im Galeerentagebuch schreibt Kertész:

Zitat von Imre Kertész
Das Konzentrationslager ist ausschließlich als Literatur vorstellbar, als Realität nicht.

(Galeerentagebuch, Seite 253, Rowohlt Berlin 1993).

Zum Geburstag des Autors veröffentlichte die Berliner Morgenpost ein Interview.

Zum "Roman eines Schicksallosen" später mehr.

Liebe Grüße
mArtinus




Eine zuvor undenkbare Realität wurde in der Realität durch Menschen erdacht. Ich denke vielmehr. Die Realität ist in der Literatur nicht mehr beschreibbar. Sie kann durch Einzelschicksale dennoch die Grausamkeit dieser Verbrechen verdeutlichen und uns immer wieder mahnen. Wer sich literarisch damit auseinandersetzen möchte, dem empfehle ich Tadeusz Borowski "Bei uns in Auschwitz" oder Fred Wander "Der siebente Brunnen". Die besten Bücher, die ich je zu dem Thema gelesen habe. Sie schockieren, lassen einen fast verzweifeln, Borowski verzweifelte daran, (wie soll man verstehen, dass ein Mensch, der all die Grausamkeiten miterleben musste und davonkam, sich anschließend selbst das Leben nimmt; vielleicht das beste Beispiel, dass niemand davonkam), Fred Wander gibt trotz aller Umstände Hoffnung.
Das ohne deine Rezension unterminieren zu wollen, lieber Martinus, es war mir einfach ein Bedürfnis, darauf hinzuweisen.




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#4

RE: Imre Kertész

in Die schöne Welt der Bücher 07.11.2009 18:30
von Martinus • 3.195 Beiträge

Zitat von LX.C

Eine zuvor undenkbare Realität wurde in der Realität durch Menschen erdacht. Ich denke vielmehr. Die Realität ist in der Literatur nicht mehr beschreibbar. Sie kann durch Einzelschicksale dennoch die Grausamkeit dieser Verbrechen verdeutlichen und uns immer wieder mahnen. Wer sich literarisch damit auseinandersetzen möchte, dem empfehle ich Tadeusz Borowski "Bei uns in Auschwitz" oder Fred Wander "Der siebente Brunnen". Die besten Bücher, die ich je zu dem Thema gelesen habe. Sie schockieren, lassen einen fast verzweifeln, Borowski verzweifelte daran, (wie soll man verstehen, dass ein Mensch, der all die Grausamkeiten miterleben musste und davonkam, sich anschließend selbst das Leben nimmt; vielleicht das beste Beispiel, dass niemand davonkam), Fred Wander gibt trotz aller Umstände Hoffnung.
Das ohne deine Rezension unterminieren zu wollen, lieber Martinus, es war mir einfach ein Bedürfnis, darauf hinzuweisen.



Du hast ja auch nichts unterminimiert, Kertész hat die Frage aufgeworfen, was in der Literatur beschreibbar ist (oder nicht). Kertész' Buch muss man natürlich als Roman lesen, während die Berichte von Tadeusz Borowski, Primo Levi u.a. keine Romane sind. Es entwickelt sich hier eine Frage was wohl mehr schockiert: Die genaue Umschreibung der Unmenschlichkeit oder die Weglassung. An der Beantwortung dieser Frage würden wir wohl verzweifeln. Bei Primo Levi hat es mir keineswegs gegraut ("Ist das ein Mensch") auch wenn ich jemanden kenne, der Levi in höhere literarische Sphären hält. Levis Buch finde ich auch gut, habe viel neues erfahren, bloß dieses schaurige Grauen dieser Unmenschlichkeit kam dort nicht so zum tragen wie beim Kertész. Tadeusz Borowski kenne ich nur namentlich....

Hast du mal von Robert Merle: "Der Tod ist mein Beruf gelesen"? Das steht mir noch bevor.

Liebe Grüße
mArtinus




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zuletzt bearbeitet 07.11.2009 18:37 | nach oben springen

#5

RE: Imre Kertész

in Die schöne Welt der Bücher 07.11.2009 22:11
von LX.C • 2.821 Beiträge

Auf der naiven Schiene kommt auch "Der Junge im gestreiften Pyjama" von Boyne daher. Hast du das auch gelesen? Aus meiner Sicht ein absolut schlechtes Buch und ein Beispiel dafür, dass Autoren auf literarischem Weg sich dem Thema nicht annehmen sollten, wenn sie auf keine Erfahrungen zurückgreifen können.


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#6

RE: Imre Kertész

in Die schöne Welt der Bücher 07.11.2009 22:26
von Martinus • 3.195 Beiträge

Zitat von LX.C
Auf der naiven Schiene kommt auch "Der Junge im gestreiften Pyjama" von Boyne daher. Hast du das auch gelesen?



Ich kenne das Buch nicht, habe aber gelesen, dass es sich um ein Jugendbuch handelt. Befremdend finde ich, dass darin Auschwitz in Aus-Wisch umgenannt wird. Naja, gute Jugendbücher kann man als Erwachsener auch noch lesen. Wie das Buch wohl auf mich wirken würde? Nebenher gesagt, ich kenne nur Levi und Kertész.




„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
zuletzt bearbeitet 07.11.2009 22:26 | nach oben springen

#7

RE: Imre Kertész

in Die schöne Welt der Bücher 09.11.2009 11:28
von Martinus • 3.195 Beiträge

Hallo ,

Das "tagblatt" bringt einen Beitrag zum 80. Geburtstag des Autors Sie hier.

Liebe Grüße
mArtinus




„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
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#8

RE: Imre Kertész

in Die schöne Welt der Bücher 21.01.2010 09:49
von Martinus • 3.195 Beiträge

"Kaddisch für ein nicht geborenes Kind"(der zweite Teil der Tetralogie der Schicksallosigkeit)

An so einem schweren Text wie Kaddisch musste ich mich vorsichtig herantasten. Ein Monolog ohne Absätze über 156 Seiten. Wie bei Thomas Bernhard kommen Wiederholungen vor, aber weitaus nicht so exzessiv wie bei dem Österreicher. Der Text hat mit Bernhard nichts zu tun, sondern wir entdecken hier einen typischen Kertész. Die Wiederholungen im Text sind niemals aufdringlich, sie sind harmonisch eingewebt, dezent. Díeser Text ist allein Sprachkompositorisch gesehen eine Meisterleistung (so etwas sage ich wirklich selten). Kertész hat den „Roman eines Schicksallosen“ völlig anders gestaltet, vor allem leicht lesbar. Das ist wohl beabsichtigt, denn darin ging es um die Erlebnisse eines Jungen. Das hat natürlich den Nebeneffekt, ein leicht lesbarer Roman findet mehr Leser. „Kaddisch für ein nicht geborenes Kind“ hat mich so gefordert, dass ich, weil ich Textpassagen durchgängig wiederholt habe, den Roman nach einem Durchgang schon zweimal gelesen habe.

B., Schriftsteller und Übersetzer, der den Monologes vorträgt, geht mit einem Herrn, dem Doktor Oblath, einem Philosophen, in einem Buchenwald eines ungarischen Mittelgebirges spazieren. Da sich B. mit Botanik nicht auskennt könne es auch ein Eichenwald oder Lindenhain sein, da ist er sich nicht so sicher. Die Nennung Buchenwald auf der der ersten Romanseite spielt warscheinlich auf das KZ Buchenwald an. Doktor Oblath fragt B., ob er Kinder habe, was er verneint, diese Frage ihn aber ziemlich aufgewühlt . Oblath betrachte seine Kinderlosigkeit als „Versäumnis“, eine Chance, verpasst zu haben

Zitat von Kertész

über die Selbsterhaltung hinaus das Weiterleben, das Überleben dieses seines Daseins, also seines Selbst, verlängert und vervielfältigt in den Nachkommen.....



Dabei geht es um eine existentielle Sinnfrage, dass er, der Mensch

Zitat von Kertész
sich nicht als verstümmelt, überflüssig und letzten Endes überflüssig vorkomme;..


Es geht um Existenzberechtigung und Sinnfragen, nach der Gebrechlichkeit des Menschen. Dabei sei zu bemerken, der Waldspaziergang geht durch das Herbstlaub. Kertész lässt den Ton eines mißtönigen Englischhorns um unser schwaches Dasein erklingen. Diese Metapher hat mit sehr gefallen.

Vielleicht ist es ja übertrieben, wenn wir lesen müssen,

Zitat von Kertész
daß die bloße Existenz des Lebens eigentlich eine Unkultiviertheit sei...



na, ja, es steht dort „eigentlich“, vielleicht ist das gar nicht so. In Kertész' Roman geht es darum, ob man nach einer Auschwitzerfahrung überhaupt weiterleben kann. B. bestreitet das.

B. fristet eine schmachvolle Existenz als Schriftsteller und Übersetzer, wobei ja, wenn man Schriftsteller ist, aber von Übersetzungen leben muss, sich natürlich auf einen niederen Ast fühlen muss. Hat er zu anfangs sein „mein Dasein als Möglichkeit deines Seins“ betrachtet“ wird das nun ergänzt mit „Dein Nicht-Sein als radikale Liquidierung meines Seins betrachtet.“ Oftmals erzählt er davon, sein Grab zu schaufeln. Einmal heißt es so schön

Zitat von Kertész
wo ich in die hell glänzende Luft aufblicke, oder in die Wolken, in die ich mein Grab mit dem Kugelschreiber schaufele.



Das ist eine Anspielung auf die Todesfuge, auf die sich der Roman ausdrücklich bezieht:

Zitat von Celan

...streicht dunkler die Geigen dann steigt ihr als Rauch in die Luft
dann habt ihr ein Grab in den Wolken da liegt man nicht eng.



Die Todesfuge schwingt durch den ganzen Roman. Sehr spannend finde ich des Protagonisten Auseinandersetzung mit der unsinnigen Aussage, das es für Auschwitz keine Erklärung gibt. B. gibt sein Contra und sagt, Auschwitz hänge seit Jahrhunderten

Zitat von Kertész

gleich einer dunklen, von den Strahlen zahloser Schandtaten reifenden Frucht, die darauf wartet, den Menschen auf den Kopf zu fallen,..



Darunter verstehe ich den Gipfel der Gewalt, der sich im 20. Jahrhundert auf erschreckendste Weise manifestiert hat, brodelte schon seit Jahrhunderten in der Menschheitsgeschichte und ist im 20. Jahrhundert wie ein entsetzlicher Vulkanausbruch über die Menschheit hereingebrochen. Auschwitz war immer schon dagewesen Diese durch „Schandtaten reifende Frucht“ ist die Geschichte des Antisemitismus, die schon in der Antike ihren Anfang genommen hat.

An dem Hegel'schen Weltgeist wird gekratzt. H. habe gesagt, die Weltgeschichte sei das Bild und die Tat der Vernunft.

Zitat von Kertész
...wer die Welt vernünftig ansieht, den sieht auch die Welt vernünftig an, beides ist in Wechselbestimmung – sagt wiederum H., nicht H., der Führer und Reichskanzler, sondern H., der gewaltige Seher, Philosoph, Hofnarr und auserwählte Leckerbissen aufwartende Mundschenk, aller Führer, Reichskanzler und sonstigen Titularusurpatoren,...



An dieser Stelle wird ziemlich neckisch vor den Gefahren des Missbrauchs der Wissenschaft in Diktaturen gewarnt. Ich stieß nun auf das Buch von Hubert Kiesewetter, einem Schüler von Karl Popper, der das Buch „Von Hegel zu Hitler“ verfasst hat, in dem er darlegt, jedenfalls wird das im Klappentext erläutert,

„... daß nicht Rassismus, Antisemitismus und Weltwirtschaftskrise die Machtergreifung der Nationalsozialisten ermöglicht haben, sondern Hitlers Propaganda für den totalitären Zentralstaat. Hegel hatte in seiner Rechtsphilosophie die modernste und entwickelteste totalitäre Staatslehre entworfen, auf die sich Wissenschaftler und Politiker seit 1821 in ihrem Kampf gegen Individualismus, Liberalismus und Parlamentarismus über 120 Jahre lang stützen konnten. Die Etablierung eines totalitären Machtstaates war die wichtigste Ursache der deutschen Katastrophe. Sein Aufstieg und Untergang werden hier dargestellt und erklärt.“

Ich weiß nicht, inwieweit diese These wirklich ernstzunehmen ist und überlege, ob Kertész dieses Buch gelesen hat, allerdings ein philosophisches Weltbild herzunehmen um eine Diktatur zu rechtfertigen, klingt an sich schon als Missbrauch.

In Kertész' Roman gibt es Stellen, die mich besonders emotional rühren. Die Begegnung mit dem „Herrn Lehrer“ im KZ zeigt deutlich, was für ein Zufall es ist, das Lager überlebt zu haben. Verständlicherweise muss darausfolgernd die Frage nach der Existenzbeechtigung auftauchen. Und dann auf den Seiten 39/40, auf denen B. von einer „Schwarzen Messe der Menschheit“ spricht, aus der Erinnerung heraus würde Gas sickern, der letzte Überlebende aus Warschau würde sein Schm'a sprechen usw. Arnold Schönberg hat "Ein Überlebender aus Warschau" in Töne gesetzt (siehe auch hier). Mich hat sehr beeindruckt, wie Kertész auf diese Weise auf das Problem des Überlebens zurückkommen ist, spricht sogar, B. sei ein „Übriggebliebener aus Budapest“ und kommt schließlich auf die Kinder zurück, die nie gezeugt wurden. Ja, dann habe ich mich erinnert, das ich ein „Kaddisch für ein  nicht geborenes Kind.“ lese.

Viele Fragen bleiben offen. Vielleicht auch ein Zeichen dafür, dass es sich um ein gutes Buch handelt, denn mit solch existentiellen Fragen werden Menschen wohl niemals fertig. Für mich stellt sich die Überlegung, ob die Unmöglichkeit der Existenz des Menschen nicht doch zu pessimistisch ist. Unsere folgende Generation, schon meine Nichten und Neffen, werde sich die Frage stellen müssen, ob man in Zeiten der Klimakatastrophe Menschen in die Welt setzen sollte. So werde ich mit dem Roman nicht fertig, und lasse ein wenig Luft ab, indem ich hier plaudere.

Liebe Grüße
mArtinus




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zuletzt bearbeitet 21.01.2010 10:36 | nach oben springen

#9

RE: Imre Kertész

in Die schöne Welt der Bücher 21.01.2010 10:33
von Patmöser • 1.121 Beiträge

Guter Martin,

Lang ist es her, da empfahlst du mir das Büchlein: "Roman eines Schicksallosen". Das Buch hat nun seinen festen Platz in meinem speziellen Bücherregal der - immer also Erreichbaren!
Nun bleibt mir wohl nichts anderes, als die anderen Bücher dieser Tetralogie auch anzuschaffen. Und das ist gut so.
Danke für deine ebenso ausführliche wie gut zu lesende Rezension, oder Buchbesprechung, oder den durchaus verdienten und berechtigten Lobgesang auf Imre Kertesz.

Grüße,
Peter

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#10

RE: Imre Kertész

in Die schöne Welt der Bücher 21.01.2010 10:36
von Roquairol • 1.072 Beiträge

Hallo Martinus,

nur mal am Rande:

Zitat
„... daß nicht Rassismus, Antisemitismus und Weltwirtschaftskrise die Machtergreifung der Nationalsozialisten ermöglicht haben, sondern Hitlers Propaganda für den totalitären Zentralstaat. Hegel hatte in seiner Rechtsphilosophie die modernste und entwickelteste totalitäre Staatslehre entworfen, auf die sich Wissenschaftler und Politiker seit 1821 in ihrem Kampf gegen Individualismus, Liberalismus und Parlamentarismus über 120 Jahre lang stützen konnten. Die Etablierung eines totalitären Machtstaates war die wichtigste Ursache der deutschen Katastrophe. Sein Aufstieg und Untergang werden hier dargestellt und erklärt.“



Also ich halte das für Quatsch - Hitler kam an die Macht, weil er vom Volk gewählt wurde, und die Masse des Volkes bestand gewiß nicht aus Leuten, die Hegel gelesen hatten ...

Ansonsten verfolge ich das hier mit Interesse - habe von K. noch nicht so viel gelesen, sollte ich mal nachholen.




Homepage: http://www.noctivagus.net/mendler
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#11

RE: Imre Kertész

in Die schöne Welt der Bücher 21.01.2010 10:59
von Martinus • 3.195 Beiträge

Hallo Roquairol,

ich glaube mich schwach zu erinnern, dass du in unser damaligen Leserunde zu Karl Poppers Offene Gesellschaft auch Hubert Kiesewetter kritisiert hast. Ich finde ja auch, ein philosophisches System lässt sich nicht auf politische Geschehnisse übertragen. Kertész mag Hegel insofern kritisch gegenüberstehen, weil es für ihn natürlich nicht nachzuvollziehen ist, wie der Holocaust als irdisches Abbild eines Weltgeistes zu verstehen sei.

Hallo Patmos,

"Roman eines Schicksallosen" habe ich inzwischen dreimal gelesen, weil immer wieder irgendeiner das in einer Leserunde lesen wollte.. Das war für mich natürlich immer einer schöne Wiederholung.

Liebe Grüße
mArtinus




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zuletzt bearbeitet 21.01.2010 11:00 | nach oben springen

#12

RE: Imre Kertész

in Die schöne Welt der Bücher 21.01.2010 11:50
von LX.C • 2.821 Beiträge

Zitat von Roquairol

Also ich halte das für Quatsch - Hitler kam an die Macht, weil er vom Volk gewählt wurde, und die Masse des Volkes bestand gewiß nicht aus Leuten, die Hegel gelesen hatten ...



Ein weitreichendes Thema, ebenfalls kann man ins Feld führen, er kam an die Macht, weil die Oppositionsparteien, voran der linke Flügel, die Gefahr nicht erkannte und es vorzog statt Einigkeit zu demonstrieren, Streit zu zelebrieren; ein Punkt, aus dem bis heute nicht gelernt wurde. Die Mehrheit im Volk hatte er nicht.


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#13

RE: Imre Kertész

in Die schöne Welt der Bücher 21.01.2010 11:51
von Roquairol • 1.072 Beiträge

Zitat von Martinus


ich glaube mich schwach zu erinnern, dass du in unser damaligen Leserunde zu Karl Poppers Offene Gesellschaft auch Hubert Kiesewetter kritisiert hast.



Tatsächlich? Ich will das nicht ausschließen, aber ich erinnere mich nur noch daran, daß ich an dieser LR teilgenommen habe (die ja leider nicht sehr weit gekommen ist ...) Du erinnerst dich offenbar besser als ich selbst an mein Geschreibsel von gestern ...




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#14

RE: Imre Kertész

in Die schöne Welt der Bücher 21.01.2010 11:52
von Roquairol • 1.072 Beiträge

Zitat von LX.C
Die Mehrheit im Volk hatte er nicht.



Die absolute nicht. Die relative schon.




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#15

RE: Imre Kertész

in Die schöne Welt der Bücher 05.02.2010 17:32
von LX.C • 2.821 Beiträge

Roman eines Schicksallosen

Zitat von Martinus
Von den Gefahren, denen Juden in dieser schrecklichen Zeit ausgesetzt sind, ist der Junge ahnungslos, vielleicht auch noch zu naiv, um zu begereifen , obwohl er den Judenhass eines Bäckers zu spüren bekommen hatte. Allerdings ist der Junge ziemlich aufgeweckt, weil er die Absurdität des Rassenhasses darlegen kann. Wenn wir den Roman allerdings weiterverfolgen, erscheint mir diese Aufgewecktheit allerdings unglaubwürdig. Denn obwohl Gyurkas Vater und Onkel Lajos die Gefahren des Nationalsozialismus erahnen oder wissen, bleibt der Junge ahnungslos und hinterfragt nicht.



Ich muss sagen, das fällt mir auch unheimlich schwer, das zu akzeptieren. Und dann immer dieses: das weiß ich nicht mehr, das habe ich vergessen, keine Ahnung, daran kann ich mich nicht erinnern, nicht traumatisch, sondern eher in einer Form, die uns den Protagonisten als nachlässig, desinteressiert, lässig, naiv darstellen will. Auch dass er bis Auschwitz (weiter bin ich noch nicht) nicht einen Gedanken mehr an seine Familie verschwendet, die er einfach mal so, weil er eben in Deutschland arbeiten will, bereitwillig erzwungen hinter sich lässt, als wäre es das Normalste von der Welt, früh zur Arbeit zu gehen und abends nicht mehr wiederzukommen oder als würde er mit seinen Kumpels einen Ausflug machen.
Das sind einige wenige Punkte, die mir die Erzählweise Kertész sehr unauthentisch erscheinen lassen, auch wenn man das in Beschreibungen zu dem Buch immer als besonderes Stilmittel hochstilisieren will. Man kann und darf Schicksale nicht gegeneinander aufwiegen, klar, aber die Art und Weise der literarischen Aufarbeitung schon.
Als der Protagonist dann nach tagelanger Zugfahrt in Auschwitz-Birkenau angekommen und die Züge entladen, die Menschen eingewiesen werden, ist mir gleiche Szenerie am selben Ort aus anderer Perspektive eingefallen. Und zwar Tadeusz Borowski und seine kurze Erzählung "Bitte, die Herrschaften zum Gas!". Schon der Titel weist auf tragisch ironische Weise auf die Naivität der Opfer hin, die uns Kertész vermitteln will.
Die Hauptfigur Borowskis könnte einer der Männer sein, die den Jungs in Kertész Roman dringlich einschärfen, sich als sechzehn auszugeben, um als arbeitsfähig zu gelten und nicht im Gas zu laden. Sie ist also einer der "Sträflinge", wie Gyurka sich immer noch nichts ahnend und wenig irritiert ausdrückt, die die ankommenden Menschenmassen aus den Zügen holen und für einen reibungslosen Ablauf sorgen.
Und auch wenn Borowskis Erzähler festhält: "Es ist ein ungeschriebenes Gesetz des Lagers, dass man die Menschen, die in den Tod gehen, bis zum letzten Augenblick belügt. Das ist die einzig zulässige Form von Mitleid", zeichnet er ein Schreckensbild, das Kertész Gyurka in einem Licht erscheinen lässt, als würde er mit Scheuklappen über die Lagerrampe rennen. Gewiss, auch in Auschwitz gab es unterschiedliche Zeiten, wenn ich mich jedoch richtig erinnere, setzt Kertész im Jahr 1944 an, jenem, in dem die Vernichtungsmaschinerie in Auschwitz-Birkenau ihr entsetzlichstes Ausmaß annahm.

Bis zum zweiten Drittel des Buches habe ich wirklich immer wieder darüber nachgedacht, die Lektüre abzubrechen. Nun werde ich es weiter lesen, ich bin mir sicher, Kertész wird sich steigern. Bisher jedoch erscheint das Sujet übernaiv gezeichnet und wenig imstande, wirklich zu berühren.
Ich kann nur immer wieder darauf verweisen, zwei stilistisch durchaus konträre, aber im Bezug auf die literarische Aufarbeitung des Themas Extrembeispiele des möglich Machbaren liefern der Pole Tadeusz Borowski mit "Bei uns in Auschwitz" und der Österreicher Fred Wander mit "Der siebente Brunnen", auch wenn beide Autoren keinen Nobelpreis verliehen bekommen haben.


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zuletzt bearbeitet 05.02.2010 18:10 | nach oben springen


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