HirngespinsteAustausch zwischen Literatur und Kunst |
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Literatur und Tod
in An der Literatur orientierte Gedanken 24.08.2010 21:53von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Der Tod ist das Ende.
Der Tod ist nicht das Ende.
Der Tod ist der Anfang.
Der Tod ist Teil des Lebens.
Der Tod ist das Wesentliche am Leben.
Durch den Tod weiß man das Leben zu schätzen.
Der Tod ängstigt nicht, sondern das Sterben.
Der Tod hat keine Bedeutung.
usw.
Wassilij W. Rosanow, der den Tod fürchtete, sagte etwa 1911 dazu:
Ja, der Tod überwindet selbst die Mathematik. Zwei mal zwei ist null.
(...) Ja, noch mehr: multipliziert mit Liebe und Hoffnung, ergeben sie - Null.
Wer braucht aber diese "Null".
Oder ist der Tod nicht viel eher pure Mathematik?
Es gibt unendlich viele Gedanken, die sich mit diesem Thema beschäftigen. Viele eröffnet der Buddhismus (siehe u.a. das Tibetische Totenbuch und co), natürlich auch etliche andere Religionen. Aber mich interessieren im Moment eher literarische Quellen. Darum ein kleines Zusammentragen verschiedenster Richtungen in Bezug auf Schmerz, Sterben und Tod in der Literatur.
(außer-buddhistische) Literatur dazu wären:
-Peter Noll: Diktate über Sterben & Tod
-Gillian Rose: Die Arbeit der Liebe
-Alphonse Daudet: Im Land der Schmerzen
-Lars Gustafsson "Tod eines Bienenzüchters"
... vielleicht auch das Tagebuch von Schlingensief.
Das zentrale Thema von Josef Winkler ist der Tod.
Einige werde ich demnächst einmal näher betrachten. Vielleicht lässt sich auch noch viel mehr zusammentragen.
Art & Vibration
RE: Literatur und Tod
in An der Literatur orientierte Gedanken 25.08.2010 15:54von Martinus • 3.195 Beiträge
Leo N. Tolstoi: Der Tod des Iwan Iljitsch
Thomas Mann: Der Zauberberg
Philip Roth: Jedermann
Knut Hamsun: Das letzte Kapitel
Werner Bergengruen: Der Tod von Reval - Kuriose Geschichten aus einer alten Stadt
Folgende zwei Bücher zum Thema möchte ich unbedingt lesen:
Joan Didion: Das Jahr magischen Denkens
Gyula Illyés: In Charons Nachen oder Altwerden in Würde
„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
RE: Literatur und Tod
in An der Literatur orientierte Gedanken 28.08.2010 23:45von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Oh, vielen Dank Martinus. Die beiden letzten Bücher lese ich auch.
So, das erste Buch ist also abgeschlossen:
Gillian Rose
Die Arbeit der Liebe
Du magst schwächer sein als die ganze Welt, aber du bist immer stärker als du selbst.
Gillian Rose verbindet in "Die Arbeit der Liebe" Philosophie, Krankheitsgeschichte und jüdische Geschichte, was kein Wunder ist, denn sie ist Jüdin. Eine jüdische Philosophin, die über Adorno promoviert hat. Sie war auch Engländerin, ist in London geboren und aufgewachsen.
Und sie hatte Krebs. (Sie ist 1995 daran gestorben.)
„New York. Auschwitz. Jerusalem. Meine drei Todesstädte…“
(…) Diese Leben, diese Tode (wie auch mein eigenes Leben, mein eigener Tod) kommen über die platonische Analogie von Seele und Staat, Seele und Stadt zu mir: die Seelen über das Jahrhundert hinweg und die Städte über Jahrhunderte.“
Sie besucht direkt am Anfang zwei Lager in Polen und wundert sich über die Frechheit der Blumen, die über die Massengräber wachsen und sich erdreisten, einen Märchentraum vorzugaukeln, wo so viel Leid geschah. Ein schönes Bild, die Natur, die, was auch geschieht, über alles den Schleier legt, zum Vergessen drängt.
„Die Natur ist ein Totenschädel.“
Gillian Rose erzählt in ihrem Buch von sich, ihrer Familie, ihrer schwierigen Kindheit und von zahlreichen Begegnungen. Hauptsächlich sind die Menschen dieses Buches sterbenskrank, häufig aber von außergewöhnlichem Charakter, ohne Jammer und Wundenrühren, sondern mit viel Stärke und Kraft gezeichnet. Da kommt z. B. eine über neunzigjährige Frau vor, die bereits im Alter von 16 Jahren erfuhr, dass sie unheilbar an Krebs erkrankt ist oder eine stark promiskuitive Fünfundsechzigjährige, die jungen Burschen nachstellt und erklärt, dass Wollust nicht so sehr schmerzt wie die Liebe.
Rose besticht durch eine klar umrissene, fast schon bissige und doch selten liebevolle Ehrlichkeit, nimmt kein Blatt vor den Mund, lässt sich auch nicht von Schmerz, Mitleid oder Traurigkeit mitreißen. Egal, ob sie einer alten Frau mit Gesichtskrebs oder sich selbst begegnet, sie sagt, was sie denkt, ohne Umschweife oder Verschnörkelung.
Auch auf das Judentum blickt sie in diesem Sinne. Durch eine Bekannte wird sie in das Wesen des Judentums eingeführt, indem sie erfährt:
Zitat von Rose
... dass Unglaube das Judentum wesentlich kennzeichnet, und in die Weise, wie Schwankungen dieser Kompassnadel die Spielarten jüdischer Modernität anzeigen. Je liberaler das Judentum wird, desto weniger orientiert es sich an der Halacha, dem Gesetz, und mit desto mehr Nachruck pocht man auf individuelle Gottgläubigkeit.
Über sich selbst sagt sie:
Zitat von Rose
„Meine Überzeugung, dass in mir geheime, bösartige und verschlagene Mächte wohnten, wurde noch dadurch unterstützt, dass die Erwachsenen mich wie ein gut aufgezogenes mechanisches Spielzeug behandelten, das aus purer Widerborstigkeit nicht funktionieren wollte.“
Rose litt an Legasthenie und hatte einen Sehfehler, der später korrigiert wurde, musste das Lesen also unter wesentlich schwereren Bedingungen erlernen.
Auch litt sie stark unter der Scheidung ihrer Eltern, wodurch sie sich vierfach gespalten fühlte (Mutter und Stiefvater, Vater und Stiefmutter). Sie nimmt den Namen des Stiefvaters an, heißt somit nicht mehr „Stone“ sondern „Rose“, was der Vater ihr nicht verzeiht.
Zitat von Rose
„Der Name: der Name. Eine Rose ist [k]eine Rose ist [k]eine Rose ist [k]eine Rose. Und ausgerechnet Gertrude Stein hat die positive Version dieser Litanei formuliert; Stein – auch eine „Stone“, aber ja!“
Rose ist ständig zwischen traditionellem Judentum, Sekte und Protestantismus hin und hergerissen. Die Freiheiten der Engländer machen die Strenge des Judentums zum Hohn, gleichzeitig ist ihr Vater ein „abtrünniger Jude“, kein traditioneller. Im fünften Gebot heißt es dazu auch noch: „Du sollst den Vater ehren“, aber nicht lieben, was sie stark belastet. Die Schlachten mit dem Vater kommen zu ihren innerlichen Belastungen erschwerend hinzu, zumal sie „in seinem mystischen Gefährt“ stattfinden. Er traumatisiert sie mit Vorwürfen, dass ihre „Bösartigkeit der Grund war“, warum seine neue Frau das Kind verloren hätte. Durch die Scheidung der Eltern muss sie ihren Vater vor Gericht anklagen. Viel später hinterfragt sie ihre Erinnerungen, ob der Vater sie wirklich für den Tod des Fötus verantwortlich gemacht hätte, kann sich aber nicht an die Antwort entsinnen. Sie erkennt nur, dass der übertrieben genährte Hass auf den Vater verblendet war.
Als ihr sehr traditioneller Großvater stirbt, wundert sie sich, dass „noch so viel Deutsch in ihm ist“, da er in seinen letzten Worten auf einmal ins Hochdeutsche fällt, obwohl die Großeltern alle deutschen Erzeugnisse aus ihrem Haus und ihrer Welt verbannt hatten.
Zitat von Rose
„Als er nun dalag und mit seinem Herzen rang, strömten die verbotenen Worte aus seinem Mund hervor. Ich war die einzige der anwesenden Trauernden, die verstehen konnte, was er in seiner Aufregung mitzuteilen versuchte.
Das war sein Vermächtnis: eben die Sprache, in deren Zonen ich als Erwachsene mit meinem Beruf auf Nimmerwiedersehen ausgewandert zu sein glaubte, als ich eine Spezialistin für deutsche Philosophie wurde.“
Dann verändert sich das Buch, wird weitaus tiefsinniger und philosophischer. Sie spricht über die Liebe und den damit einhergehenden Schmerz, denn für sie sind alle unglücklichen Lieben gleich. Erst ist alles Zauber, dann wird die Geliebte zur Liebenden“, da sie den Liebenden verliert.
„Lippen begegnen noch Lippen – voll genug, um Verspechen zu brechen, im Unterschied zu den lippenlosen Organen der Politiker.“
Und nach und nach bricht alles auseinander.
Zitat von Rose
Anstelle der Selbstvergessenheit gegenseitiger Liebe, in der man wie in einer Wiege ruht und auf die Stille horcht, wird eine hasserfüllte Selbstbetrachtung ausgelöst, die an der Geliebten, der Enttäuschten, zu nagen beginnt.
Verlust ist endlos.
Hier wird wieder sichtbar, was ihr schon die sexuell sich auslebende Fünfundsechzigjährige gesagt hat: Wollust schmerzt nicht so sehr wie die Liebe.
Zu diesem Schmerz kommt die Krankheit hinzu, und im innigen Blick auf sich selbst, wird Rose am direktesten. Sie erfährt, dass sie Eierstockkrebs hat, und berichtet ausführlich, was Krebs ist, wie er behandelt wird, was Ursache und Wirkung ist, auch über das Leben der „Verschonten“, die sie als Taugenichtse bezeichnet, die der Krebs gerettet hat und die dann unterschiedliche und häufig unsinnige Fachliteratur herausbringen.
Zitat von Rose
Die Autoren sind so wild darauf, zu beweisen, dass für niemanden je alle Hoffnung verloren ist, dass sie kaputte, elende Figuren auswählen und sich auf diese einschießen.
Dabei wird mit solchen aufgezählten „Krebscharakteren“ dann das Gegenteil erreicht, denn die Eigenschaften wie Fettleibigkeit, Magersucht, Depression, Hochgestimmtheit, Mangel an Selbstvertrauen, keine befriedigende oder anregende Arbeit, verfehlte Liebesbeziehungen, usw. treffen auf so gut wie jeden zu.
Gleich danach nimmt sie die Ärzte auf die Schippe, die ihre Arbeit immer über die Menschlichkeit stellen, spricht aber auch von der Güte der Schwestern, die sich einzig dem Arzt unterwerfen, um seine Kompetenz nie in Frage zu stellen. Dabei scheint für Rose ersichtlich:
Zitat von Rose
Chirurgen sind inkompetent, was die eine Sache betrifft, mit der sie umgehen: das Leben. Denn sie verstehen von Berufs wegen nicht, was „Tod bedeutet“, nämlich im nicht-medizinischen Sinn, deshalb auch nicht „Leben“ in dem bedeutsamen Sinn, der den Tod mit einschließt.
Ihr Humor ist dann: "Sie werden nicht mit achtzig an Langweile sterben.“
Und am Bett der Kranken wird diskutiert und gestritten, wessen Krebs es nun sei, was bedeutet, wer operieren oder die Diagnose stellen darf.
Der Verlauf der Krankheit bewirkt ein verändertes Körperbild, ihr wird ein Teil des Dickdarms operiert, was sie zwingt, einen Kolostomie-Beutel zu tragen, und Gillian Rose schreit es laut hinaus, so ungewollt und äußerlich damit konfrontiert: „Ich möchte über Scheiße reden.“
Sie erzählt, dass der gesunde Mensch keinen Bezug zu seinen Ausscheidungen hat. Sie leitet dieses Thema mit einem Bericht eines englischen Spezialisten ein, der hinterfragt, wie in Auschwitz der Umgang mit den Exkrementen so vieler Menschen gedacht war, anhand derer und anderen Umstände er nachweist, dass der so exakt durchdachte und durchstrukturierte Plan der Nazigrausamkeit auch offene Fehler aufwies, wenn man das so vereinfacht formulieren kann. Das seien Denklücken, wo man ihnen nachsagt, sie hätten den Todesakt bis ins kleinste Detail verwirklicht. Es kam also auch zu etlichem „ungeplantem Sterben“.
Und wieder zurück zu ihr und ihrem Scheiße-Thema beschreibt sie genau jenen Vorgang bis ins Detail, von der Funktion der Schließmuskel bis zur Konsistenz des Eigentlichen.
Am Ende sagt sie: „Ich gebrauche das Wort nicht mehr als ein Schimpfwort, indem ich die heftige Wut kurzer Augenblicke in seine Sinnleere hinein entlade.“
Es hilft ihr, mit dem Thema leichter umzugehen und es auch als Ventil zu nutzen.
Rose kommt dann zu dem Schluss:
„Die Medizin und ich, wir haben uns aufgegeben. Wir beherrschen jeder die Sprache des anderen nicht so gut, dass der Austausch fruchtbar wäre.“
Sie versucht es mit der alternativen Heilkunde, von deren „wahnwitzigen Spiritualität“ sie sich angewidert fühlt, besonders, weil es ihr von Bekannten und Angehörigen angeraten wird, die sich damit der „Krisis ihrer eigenen Sterblichkeit“ entziehen wollen.
All diese Richtungen, bishin zum „New-Age-Buddhismus“, die bedingungslos und am besten sofort verlangen, sich im Selbst aufzulösen, verdammen dazu, „selige, kosmische Leere ohne Tod zu suchen“, und suggerieren dem Menschen gleichzeitig, dass seine Trauer, seine Klage, sein Schmerz und seine Wut falsch und schlecht seien. Dass seine Krankheit eigene Schuld ist, so dass er sich zum Schein-Lieben und Schein-Glücklichsein zwingen muss, bis er daran zu Grunde geht, statt dem Tod ehrlich zu begegnen. Solcherlei Krisen sind jedoch ganz "natürliche Katastrophen" und erfordern so oder so, sich mit den tieferen Schichten der Seele und dem Sein auseinanderzusetzen. Man kann aber aus der Existenz den Existenzkampf nicht einfach ausschließen. Jeder wird da seinen eigenen Weg finden müssen, denn: „eine ungebundene Seele ist so tollwütig wie eine Seele mit zementierten Grenzen.“
Rose erkennt:
Zitat von Rose
Seine Liebesfähigkeit entwickeln heißt die eigenen Grenzen und die Grenzen anderer anerkennen und zugleich entlang der Grenzen verletzlich, verwundbar zu bleiben. Das einzige, was zu menschlicher Liebe unbedingt nötig ist, ist Anerkennung ihrer Bedingtheit.
Dieses Werk ist eine Collage an Begegnungen mit Mensch und Sterben, als hätte Rose ihr eigenes Leben genommen und in etliche Stücke zerschnitten, um sie dann neu zusammenzufügen. – „An jeder Wendung der Erzählung hinterließ ich breite Bahnen dichter Mehrdeutigkeit“. - Dadurch gewinnt das kleine Buch an erstaunlicher Weite, Philosophie und Psychologie. Gleichzeitig wird man an der Hand genommen und tief in die jüdische Tradition, mit all ihren Kämpfen, Zeremonien und Gebeten geführt. Den Protestantismus hat Rose mit der Kultur eingesogen, das Judentum „ist eine Kopfgeburt, ganz bewusst angeeignet“. Moderne und Tradition tragen neben der allgemeinen Problematik auch inmitten des innerlichen Kreises ihren Streit offen und unduldsam aus.
Und schließlich darf man, was sehr bewegend ist, am Alltag eines todkranken Menschen teilhaben, der sowohl seine Wut als auch seinen Umgang mit dem Leben und Tod ohne Schnörkel und in wunderbaren Gedanken vermittelt.
Ob nun Kindheit, Judentum, Liebe, Sein, Mensch, Schmerz, Krankheit oder Tod, alles ist in diesem Buch enthalten, und man ist traurig darüber, dass es das einzige Buch dieser Richtung von ihr ist oder doch zumindest nicht etliche Seiten mehr ihrer herrlichen Gedankengänge enthält. Sie bezeichnet es als „Die Arbeit der Liebe“, … „auf diesem Weg, durch diese Arbeit, dieses Werk sterbe ich vielleicht vorwärts, hinein in einen vertieften Lebenskampf“.
Viel Kraft und Intelligenz schimmern aus diesen Zeilen. Es scheint für sie eine Lebensbedingung gewesen zu sein, dass die Rose trotz allem immer den Stein überwuchert.
Art & Vibration
RE: Literatur und Tod
in An der Literatur orientierte Gedanken 29.08.2010 16:47von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Ein weiteres Buch für diesen Ordner (bei Peter Noll gefunden): Fritz Zorn "Mars". (Zorn starb mit 32 Jahren an Krebs und wütet in diesem Buch über Leben und Tod, zeigt das immer auch andere Gesicht eines enttäuschten Menschen, der, wie Schlingensief fragt: Warum ich?
Sein Manuskript fand Adolf Muschg erst nach seinem Tod und bot es den Verlegern an.)
Art & Vibration
RE: Literatur und Tod
in An der Literatur orientierte Gedanken 07.09.2010 14:52von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Lars Gustafsson
Der Tod eines Bienenzüchters
Die Angst davor, verrückt zu werden, ist im Grunde die Angst davor, ein anderer zu werden: aber das werden wir doch immerzu.
Lars Gustafssons Bienenzüchter Lars Lennart Westin entscheidet sich dafür, den Brief des Krankenhauses zu verbrennen. Damit nimmt er sich sowohl das Wissen, sterben zu müssen oder geheilt werden zu können. Er versucht damit, der Konfrontation mit dem Sterben auszuweichen, und sein Leben so weiterzuführen, wie er es gewohnt ist.
Da der Mensch aber Mensch ist und seinen Gedanken unterworfen, bleibt die Hinterfragung natürlich nicht aus. Ob es richtig war, den Brief zu verbrennen, ob er Krebs hat, ob er nun doch sterben wird oder ob vielleicht alles unverändert weitergeht. Eigentlich weiß er, was da allmählich mit ihm geschieht, ist gleichzeitig resigniert und hoffnungsvoll, je nach Stimmung und Tag. Durch die Konfrontation mit starken Schmerzen, vor denen er sich zu fürchten beginnt, kann er eine mögliche Krankheit jedoch nicht mehr ausschließen, geschweige denn ignorieren.
„Was mich nicht umbringt, macht mich stärker.“, sagte Nietzsche. Dieses Zitat tröstet ihn, wenn er sich mit seinen „weißglühenden“ Schmerzen auseinandersetzt, die ihn „nur noch Körper sein lassen“.
Er ist geschieden, war mit einer Frau verheiratet, die er gar nicht so sehr mochte, für die er sich immer ein bisschen schämte. Dabei war sie nicht unattraktiv, es war vielleicht eher seine Angst davor, sich ihr öffnen zu müssen.
Zitat von Gustafsson
Das Problem mit diesen Frauen: Sie haben gespürt, dass ich viel zu wenig wollte. Frauen sind zu allem bereit, wenn sie spüren, dass man es will.
Ich habe viel zu wenig gewollt. Mein ganzes Leben lang. Die Leute haben nie das Gefühl gehabt, ich hätte irgendein Anliegen an sie. Die letzten Monate haben mich wirklich gemacht. Das ist furchtbar.
Gleichzeitig hatte er eine Affäre, die er seiner Frau beichtet (oder eher mitteilt), woraufhin sie die andere Frau einlädt, was darauf hinausläuft, dass beide Frauen zueinander finden, so dass er einsam zurückbleibt. Und doch hat er aus dieser Gemeinsamkeit auch viel gewonnen. Solche Gedanken z. B.:
Nichts hindert uns eigentlich daran, außerhalb der normalen Regeln zu leben.
Der Bienenzüchter scheint nicht mehr sehr jung, manchmal sehr alt zu sein. Er ist tatsächlich so alt, wie Gustafsson selbst, ebenso 1936 geboren. Er reflektiert über sein Leben, seine Vergangenheit, sein Unvermögen zur Liebe. Er war Lehrer und hat sich nun vor Mensch und Welt zurückgezogen.
Glückliche und Unglückliche leben in derselben Welt, und sie erkennen es nicht.
Das Buch ist eine Zusammensetzung aus drei Notizheften, die der Bienenzüchter hinterlassen hat. Im gelben findet man seine Reflektionen, im blauen seine Phantasien, literarischen Ergüsse und Gedanken und im beschädigten vereinzelte Angaben zu seinen Schmerzen, Telefongespräche und Nummern, Aufzeichnungen zu den Bienenstöcken und Rechnungen.
Gustafsson findet sehr punktgenaue, auch poetisch treffende Ausdrücke, um Schmerz, Erfahrungen und Tiefe der Gedanken darzustellen. Der Schmerz bleibt bei ihm ein „Reich, in dem endgültig Wahrheit herrscht“, wohingegen das Ich keinen Sinn mehr ergibt.
Ich, ich, ich, ich… schon nach dem vierten Mal ein sinnloses Wort.
Was das Buch so eindringlich und bewegend macht, ist die Realität darin, dieses literarische Gedanken-Tagebuch, das sich nicht von dem eines echten Sterbenden unterscheidet.
Zitat von Gustafsson
Die Möglichkeit, sich seinen eigenen Tod vorzustellen, beruht auf einem sprachlichen Missverständnis. Ähnlich wie die Möglichkeit, sich selbst „du“ zu nennen. Oder wie die Möglichkeit, sich selbst bei einem Namen zu nennen.
Letztendlich aber akzeptiert der Bienenzüchter sein Los, doch nur in winzigen Details, die dem Leser erst nach und nach sichtbar werden.
Art & Vibration
RE: Literatur und Tod
in An der Literatur orientierte Gedanken 25.09.2010 14:17von Martinus • 3.195 Beiträge
In diesem Themenkreis gehört auch Zenta Maurina, z.B. "Über Liebe und Tod", Essays. Also, über den Sensemann geht es in den letzten über vierzig Seiten. Ich habe das Buch mal vor Jahren gelesen und habe diese Denkerin seither nie vergessen. Die Autorin hat auch einen Hang zur Mystik. Mit ihren Büchern hat sie (hoffentlich) vielen Menschen Kraft geben können, sie selbst litt Zeit ihres Daseins an Kinderlähmung.
„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
RE: Literatur und Tod
in An der Literatur orientierte Gedanken 03.10.2010 09:47von Martinus • 3.195 Beiträge
Peter Noll: Diktate über Sterben & Tod
Dem Schweizer Juristen Peter Noll, Freund von Dürrenmatt und Frisch, wird Blasenkrebs diagnostiziert. In einem Tagebuch vom 28. Dezember 1981 - 30. September 1982 lesen wir seine „Diktate über Sterben & Tod“, doch sie enthalten viel mehr, politische Ansichten, philosophische und religiöse Überlegungen, wir erfahren, dass Trotzki die Atomenergie vorausgesagt hat und Johann Peter Hebel ein Gedicht über die Vergänglichkeit geschrieben hat, darin wir lesen können, wie Basel nach einem Atomkrieg aussieht. Goethe habe im Zauberlehrling die Unbeherrschbarkeit der Technologie vorausgesehen. Es wandelt sich die Aussagekraft von Gedichten im Wandel der Zeiten. Jedes Jahrhundert hat seinen eigenen Blick.
Wie sieht es nun mit dem Blick auf den Tod aus? Weiterleben um jeden Preis? Peter Noll steht die Menschenwürde an erster Stelle.
Zitat von Peter Noll
Ich will nicht in die chirurgisch-urologisch-radiologische Maschine hineinkommen, weil ich dann Stück um Stück meiner Freiheit verliere.
Also keine Operation. Sein Tod solle zelebriert werden, die Gemeinde solle sich mit dem Tod auseinandersetzen. „Nichts soll vertuscht, nichts verharmlost werden, auch den Ausweg der Verdrängung möchte ich versperren.“ Peter Noll legt den Finger in die Wunde christlicher Gläubigkeit, die meist zu verhöhnender Gelegenheitsgläubigkeit verschrumpft ist.. „Wir alle kommen ja nur noch zu Beerdigungen in einer Kirche“, ( man könne hier ergänzen, evtl. noch zu Trauungen), so wird Christentum nicht gelebt, sondern nur gestorben, im letzten Atemzug noch überlegt, vielleicht gibt es doch ein ewiges Leben oder die schwierigste Christenfrage „Was ist Auferstehung?“ - Jesus ist physisch auferstanden, es gebe doch Zeitzeugen, trotzdem, ich weiß, mein Körper verwest doch – hier könnt ich endlos weiterspinnen, aber genau das meint doch Peter Noll. Wir gehen in die Kirche, hören eine Predigt, die schön ist, und am Montag wird wieder gesündigt. Die Praxis des Christentums ist unausgegoren.
Zitat von Peter Noll
Die Exaktheit der Diagnose hat, verglichen mit der Ungewissheit des therapeutischen Erfolges, etwas Absurdes....Der Tumor hat die Blasenwand völlig durchwachsen, und so wie man Tumore eben kennt, will er weiterwachsen.
Noll liest „Mars“ von Fritz Zorn, über einen jungen Mann, der über seine Krebserkrankung schreibt, mit 32 Jahren stirbt. Das Buch ist genau das Gegenteil von dem uns vorliegenden Tagebuch. Zorn, hier passt der Name, schreibt voll Hass und Zorn, offenbar auch über seine bisherige Vergangenheit völlig verbittert. Dieses Buch zu lesen, wäre für mich wahrscheinlich schrecklich. Es ist erstaunlich, wie es Peter Noll gelingt, ein erbauliches Tagebuch zu Papier bringen. Er hat sehr viel zu erzählen, und wenn er über Schmerzen schreibt, dann labt er sich nicht darin, wie entsetzlich das ist, im Gegenteil, er schreibt ziemlich nüchtern:
Zitat von Peter Noll
Meine Schmerzen sind jetzt da, stumpf und schwer, aber ich kann nichts über sie aussagen, weil ich mich auf keine fremde gleichartige Erfahrung berufen kann.
Im Gegensatz zum Tier kann unser Gehirn an den „Tod“ und an „Gott“ denken. Trotz dieser Besonderheit werden diese Gedanken heutzutage gerne verdrängt. Wir sind den Schimpansen ähnlich, lesen wir, schauen uns den toten Verwandten kurz an , befühlen ihn und wenden uns ab. Für Freunde wäre es einfacher, ein Krebspatient liege im Krankenhaus, schon abgeschoben, vielleicht verabschiede man sich noch, das war's. So beobachtete Peter Noll einen Schwund an Freundeskontakten. Ich denke mir, für einen Kranken ist es doch immer schön, wenn er Kontakte pflegen kann, Freunde unbeschwert auf ihn zu kommen können. Aber es liegt eben in der Luft, Menschen meiden die Berührung mit dem Tod. Ein Krebskranker steht schon mit einem Bein außerhalb unseres Daseins, wohin niemand möchte. „Noch totaler verdrängt ist die Gottesvorstellung“, sagt Noll, auch in meiner Umgebung, so habe ich den Eindruck, laufen mehr Agnostiker und Atheisten herum, obwohl bei religiös-fundamentalistischen o.ä. Richtungen heute eher ein Zulauf zu beklagen ist (Nolls Tagebuch erschien posthum 1984). Noll hat die Begabung sehr feine kompakte Zitate an den Mann zubringen, die sich für mehr noch als nur für Kalenderblätter eignen. Drei Beispiele:
Zitat von Peter Noll
Das Gehirn denkt Gott. Das heisst nicht, dass es ihn geben muss, das heisst aber zwingend, dass die Frage nach ihm unabweislich und dass der empirische Positivismus eine lahme Ente ist.
Zitat von Peter Noll
Die Bedürfnislosigkeit macht freier als die Erfüllung aller Bedürfnisse.
Zitat von Peter Noll
Der Todkranke, der sich der medizinischen Apparatur übergeben hat, ist wirklich hilflos, weil die Hilfe, die er bekommt, kalt ist.
Überrascht war ich, als Peter Noll über Hoimar von Ditfurth's Buch „Wir sind nicht nur von dieser Welt“ erzählt. Das Buch vermittelt „die Idee,“ so Noll, „die Evolution der Welt sei die noch im Gange befindliche Schöpfung und ihr Ende münde ins Jenseits, wo der Geist herrsche, ist imposant und plausibel." Das ist famos und erinnert mich an Ken Wilber „Halbzeit der Evolution“. Von Hoimar von Ditfuth habe ich „Am Anfang war der Wasserstoff“ gelesen und wusste gar nicht, dass der Autor spirituell veranlagt ist. Das Buch strahlt von Optimismus, Peter Noll gibt hier einen leichten Dämpfer, denn er weist darauf hin, der Autor verschweige schamhaft, „dass das Gesetz der Evolution, jedenfalls auf dieser Erde zur Vernichtung führen wird.“ Ich denke, Noll hat das Wettrüsten der Atommächte im Hinterkopf. Nun, unseren blauen Planeten gibt es heute noch.
Epilog
Was bringt es, sich zu verewigen, sei es in Weltliteratur, Musikgeschichte oder Kunstgeschichte. Falls man „nach dem Tode in irgendeiner Form als dieselbe Persönlichkeit weiterlebt“, kann dieses doch egal sein. Der Drang nach Verewigung, so Noll, setze voraus, dass man an eine Existenz nach dem Tode nicht glaube. Der Autor schließt in dieser Hinsicht allerdings die magischen Vorstellungen der Alten Ägypter aus, für die das Jenseits nur ein verlängerter Arm des Diesseits gewesen war. Die „Diktate über Sterben & Tod“ sollen nicht von Ewigkeitsvorstellungen geleitet sein, nur davon, der Leser möge „sich mit Sterben, Tod und Jenseitsvorstellungen schon im Leben auseinandersetzen“. Die Bewusstheit, das Leben ist begrenzt, hat für den Autoren dieser Diktate einige Vorteile verschafft. Die Sinnoasen suche er sorgfältiger aus, manches werde zur Sinnoase, wofür er früher achtlos vorbeigegangen sei. Unwichtiges wird beiseite gelassen, er konzentriert sich auf das Wesentliche, auf das, was wirklich noch wichtig ist. Ich denke, Menschen, die sich in ähnlicher Situation befinden, geht es ähnlich wie Herrn Noll. Unser aller Leben ist begrenzt. Wenn wir das Bewusstsein haben, der nächste Atemzug könne unser letzter sein, dann wären wir Menschen wirklich in der Gegenwart angekommen und würden uns keine Gedanken oder Sorgen um den nächsten Tag machen. Vor der Lektüre habe ich nicht wissen können, welche Freude mir dieses Buch schenken würde.
Liebe Grüße
mArtinus
PS: Max Frisch: Entwürfe zu einem dritten Tagebuch - hierin schreibt er über den Tod seines Freundes.
„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
RE: Literatur und Tod
in An der Literatur orientierte Gedanken 03.10.2010 11:00von larifant • 270 Beiträge
Zitat von Martinus
Peter Noll gibt hier einen leichten Dämpfer, denn er weist darauf hin, der Autor verschweige schamhaft, „dass das Gesetz der Evolution, jedenfalls auf dieser Erde zur Vernichtung führen wird.“ Ich denke, Noll hat das Wettrüsten der Atommächte im Hinterkopf. Nun, unseren blauen Planeten gibt es heute noch.
Die Gefahr von Nuklearwaffenkatastrophen ist nur aus den Schlagzeilen, vermutlich aber nicht geringer geworden.
Gruß,
L.
RE: Literatur und Tod
in An der Literatur orientierte Gedanken 03.10.2010 13:35von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Zitat von Martinus
Noll liest „Mars“ von Fritz Zorn, über einen jungen Mann, der über seine Krebserkrankung schreibt, mit 32 Jahren stirbt. Das Buch ist genau das Gegenteil von dem uns vorliegenden Tagebuch. Zorn, hier passt der Name, schreibt voll Hass und Zorn, offenbar auch über seine bisherige Vergangenheit völlig verbittert. Dieses Buch zu lesen, wäre für mich wahrscheinlich schrecklich.
Ach klar, da war ja noch "Mars".
"Der Krebs ist ein Urteil über die Gesellschaft, die Unterdrückung nötig hat und Gefühllosigkeit nötig macht."
Fritz Zorn ist natürlich ein Pseudonym. Sein Buch ist ein Angriff auf seine Eltern, die ihn zu gut, in einer zu hermetisch abgeriegelten "harmonischen und kritiklosen Welt" erzogen haben, ihn zu einer leeren Fläche werden ließen, dass er weder eigene Meinung noch eigene Interessen entwickeln konnte.
Zitat von Zorn
Ich kann meine Eltern heute weniger als die "Schuldigen" denn als Mit-Opfer derselben verfehlten Situation ansehen. Sie waren nicht die Erfinder dieser schlechten Lebensweise; sie waren vielmehr - wie ich selbst - die von diesem kritiklos akzeptierten Leben Betrogenen.
Das Wort "Schuldige" ist nicht umsonst in Anführungszeichen gesetzt, denn natürlich gibt er ihnen trotzdem die Schuld. Zorn spricht von Ansichten, die er immer von anderen übernahm, von Geschmäckern, die nicht die seinen waren, von Interessen, die er nach anderen ausrichtete und davon, dass er dankbar wäre, Krebs bekommen zu haben, um endlich aufzuwachen, dass es nur eine Frage der Zeit gewesen sei, bis so eine Krankheit in einem Menschen wie ihm ausbrechen musste, "... so zerstört der Körper von selbst das menschliche Leben, wenn man dieses Leben gar nicht mehr leben will."
Zitat von Zorn
Deshalb glaube ich auch, dass der Krebs primär eine seelische Krankheit ist und die verschiedenen Krebsgeschwüre nur als sekundäre körperliche Nebenerscheinungen des Leidens zu betrachten sind, denn der Krebs hat ja tatsächlich alle Charakteristika einer Gemütskrankheit.
Der permanente Angriff auf die Eltern, der sich ständig wiederholt, der Hass auf sich selbst und auf die Welt, die Sehnsucht nach dem Leiden-Wollen, hat mich dazu gebracht, dass Buch nach etwa 150 Seiten Lektüre wieder wegzulegen.
Wie Schlingensief und andere Krebserkrankte kommt aber auch Zorn zu dem Schluss, dass Krankheit und Sterben in der Welt verschwiegen werden. Im Sinne: wenn du stirbst, dann ziehe dich zurück und stirb still für dich. Konfrontiere die Welt nicht damit. Zorn formuliert es in Hinblick auf die medizinische Behandlung:
Zitat von Zorn
Bei allen Krebsbehandlungen pflegt sich die medizinische Welt aber in Schweigen zu hüllen, so dass der Patient den Glauben an die Wirklichkeit der Behandlung verliert und folglich auch nicht geheilt werden kann.
Zorn war noch sehr jung (das Geschwür saß am Hals) und sehr, sehr depressiv, schon bevor er körperlich krank wurde. Das erzählt er in einer Art Zermalmungsprozess, der sehr bedrückend und eben wie ein letzter Aufschrei wirkt.
Art & Vibration
RE: Literatur und Tod
in An der Literatur orientierte Gedanken 03.10.2010 16:05von Martinus • 3.195 Beiträge
Zitat von larifantZitat von Martinus
Peter Noll gibt hier einen leichten Dämpfer, denn er weist darauf hin, der Autor verschweige schamhaft, „dass das Gesetz der Evolution, jedenfalls auf dieser Erde zur Vernichtung führen wird.“ Ich denke, Noll hat das Wettrüsten der Atommächte im Hinterkopf. Nun, unseren blauen Planeten gibt es heute noch.
Die Gefahr von Nuklearwaffenkatastrophen ist nur aus den Schlagzeilen, vermutlich aber nicht geringer geworden.
Gruß,
L.
Ich pflege den Optimismus, die Hoffnung, das unsere Welt erhalten bleibt.
Zitat von Taxine
Zorn war noch sehr jung (das Geschwür saß am Hals) und sehr, sehr depressiv, schon bevor er körperlich krank wurde. Das erzählt er in einer Art Zermalmungsprozess, der sehr bedrückend und eben wie ein letzter Aufschrei wirkt.
Warscheinlich sind's doch seine Depressionen, die ihn in so viel Bitternis geführt haben. Ist schon tragisch.
„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
RE: Literatur und Tod
in An der Literatur orientierte Gedanken 04.10.2010 18:04von LX.C • 2.821 Beiträge
Überlege doch, ob ich Noll, Zorn und Schlingensief vergleichend lesen soll. Ein Thema, drei Arten damit umzugehen. Ihr habt mich auf jeden Fall neugierig gemacht. Man kommt an diesem Thema ja doch nicht vorbei. Krebs, Krebs überall, wo man hinhört. Irgendwer, den man näher kennt, ist immer betroffen (direkt oder indirekt).
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[i]Poka![/i]
RE: Literatur und Tod
in An der Literatur orientierte Gedanken 15.02.2011 03:29von Martinus • 3.195 Beiträge
Zitat von Taxine
Der permanente Angriff auf die Eltern, der sich ständig wiederholt, der Hass auf sich selbst und auf die Welt, die Sehnsucht nach dem Leiden-Wollen, hat mich dazu gebracht, dass Buch nach etwa 150 Seiten Lektüre wieder wegzulegen.
Dieses überanstrengte Lästern finden wir in einer grandiosen Sprache bei Thomas Bernhard. In seinem Roman "Korrektur" lästert der Protagonist Höllerer über seine Eltern. Das ist anstrengend zu lesen, auch wenn diese Eltern für das ganze olle Österreich stehen. Ich bin ja gespannt, wie Zorn noch granteln wird. Ich bin noch zu Beginn des Buches.
„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
RE: Literatur und Tod
in An der Literatur orientierte Gedanken 24.02.2011 20:01von Martinus • 3.195 Beiträge
Meine Gedanken zu Fritz Zorn: Mars
Fritz Zorn ist das Pseudonym eines Züricher Millionärssohnes und Gymnasiallehrers, der in einer konservativ geprägten bürgerlichen Familie aufwächst, an Depressionen erkrankt und mit 32 Jahren an Krebs stirbt. Aus verschiedenen Perspektiven erzählt Zorn von der gekünstelten Harmonie in seiner Kindheit. Vermeidung von Streitgeprächen, die Familie ist immer einer Meinung, d.h. es wird ausnahmslos der Meinung des Vaters gefolgt. Von einem Schulkamerad wird Zorn gefragt, ob er Autos mag. Zorn denkt, er mag Autos und sagt "Ja". Es stellt sich aber heraus, der Kamerad mag keine Autos. Zorn auch nicht, aber er hatte gelogen. Auf diese Weise die gekünstelte Harmonie der Einigkeit in praktischer Weise ins Absurdum geführt wird, aber Fritz Zorn aus dem Korsett der großbürgerlichen Starrheit nicht mehr herauskommt. Die Themen Religion und Sexualität waren tabu. Die Mentalität von Zorns Eltern kann man nur verlogen und unehrlich bezeichnen, belügen sie Sie sich doch selbst, wenn sie die Kirche für respektabel halten, von Gott aber nichts wissen wollen. Wahrscheinlich liegt dem ein Gesellschaftszwang zugrunde. Andere gehen in die Kirche, also wir dann auch.
„Mein Unglück besteht daraus, daß ich nicht das sein kann, was ich will“, sagt Zorn.
Zorn weiß wie wichtig Liebe und Sexualität ist und erkennt, dass dies sein größtes Defizit ist. Seine Neurose, die als Depression, und wie er sagt, als „emotionaler Idiotie“ ausbricht, manifestiert sich später in den Krebs. Mich nervt aber dieser pseudomedizinische Esoterikkram Zorns über den seelischen körperlichen Krebs, demnach man Krebs bekomme, wenn man sein Leid in sich hineinfrisst und, weil die Seele schon so sehr Krank ist, könne sie nicht mehr zum Widerstand gegen den Krebs behilflich sein. Diese Wüsteneien spitzen sich dahin zu, dass seine Eltern am Dilemma seines Lebens schuld sind. Seine Jugend im Eimer, weil er nie eine Freundin hatte, sein Erwachsenenalter ebenso geschlechtstrocken. Unfähig für zwischenmenschliche Beziehungen, Depression und Krebs. Die Schuldigen sind die Eltern:
Zitat von Zorn
Jeder neue Tumor, der sich als geballte Ausbuchtung aus meinem glatten Körper hervordrängt, scheint mir aus der Tiefe seines psychosomatischen Ursprungs heraus die ins Teuflische verzerrte Fratze meiner dämonischen „Eltern“ darzustellen,...
Natürlich weiß ich, er sucht Orientierung und Sinn in seinem ganzen Leid, trotzdem, diese Abstrusitäten immer wieder vorgekaut zu bekommen, ist anstrengend. Fantastereien eines Todkranken, verzweifelt einen Halt suchend.
Vermurkst ist sein Exkurs über Liebe, Sex und Freud als Einheitsmixtur und findet auch noch eine Verbindung zum Christentum, dort aber nicht Sex sondern Agapé gemeint ist, außerdem Freud in späteren Schriften eine viel erweiterte Auffassung vom Eros vertrat als Sex, Zorn dies aber nicht wusste, stattdessen er aber weiterhin dauernd sein Minderwertigkeitsgefühl beklagt, welches sich aus seiner Sexlosigkeit ergibt.
Das Buch ist keineswegs aufbauend. Diese scharfe Kritik an seine Eltern, einerseits verständlich, dass seine in gedämpften Niederungen schwelende Emotionen jetzt endlich mal aufbrechen, allerdings letzten Endes doch eine unreife Verarbeitung seines Hasses ist, alles auf seine krebsüblen Eltern zu beziehen. Allerdings ist Zorn durch seinen frühen Tod die Chance verwehrt worden, sein Schicksal sinnvoll verarbeiten zu können. Da er mit seinem Hass natürlich nicht weiterkommt, dreht er sich im Kreise herum, wurstelt in seinen Problemen herum, findet in dem gewurstele keinen Ausgang mehr. Auch wenn ich noch zwanzig Seiten zu lesen habe, kann ich schon jetzt dieses Buch niemanden weiterempfehlen, weil zumindest ich keinen Sinn daraus ziehen kann, einen Menschen zu belesen, der ständig nur im Irrgang seines Hasses verweilt. Natürlich blinkt Mitgefühl, schließlich möchte man so einem Menschen helfen, aber durch seine Imkreisedreherei treibt er mich als Leser nur in Abgründe der Hilfslosigkeit mit dem Wissen, das Leid war irgendwann doch mal vorbei. Am 2. November 1976. †
Liebe Grüße
mArtinus
„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
RE: Literatur und Tod
in An der Literatur orientierte Gedanken 25.02.2011 19:29von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Ich hatte jetzt eine Woche lang die unerwartete Gelegenheit, mich mit dem Sterben auseinanderzusetzen. Es ist erstaunlich, wie sehr man über sich selbst hinauswächst, dass das Treffen auf Leid alles andere nebensächlich macht, jeglichen Zynismus und jede Oberflächlichkeit ganz vertreibt. Wenn Dostojewski behauptet, dass man, sobald man sich auf wirkliches Leid, wirkliche Not einlässt, beginnt, alle Gedanken zu ändern, weiß er genau, wovon er spricht. Mir selbst war das nie ganz sichtbar, nur in Worten und Ahnungen, was nichts bedeutet.
Ich hatte Gelegenheit, mit krebskranken Menschen zu sprechen und bemerke erst jetzt, nach einer sehr anstrengenden Woche, wie ich weniger zimperlich geworden bin. Wo ich letztes Wochenende nicht einmal bei einer (bei einem anderen Menschen durchgeführten) Blutabnahme zusehen konnte, sind nun Bluttransfusionen kaum noch ein Problem. Es ist mir fast schon ein kleines Wunder, wie resistent der Mensch wird, wenn er muss (sowohl aus meiner Sicht - dem gesunden Menschen -, als insbesondere aus der Sicht des Kranken).
Natürlich war ich in den ersten Tagen irritiert, wie ich mit all dem umgehen soll. Was macht man, wenn man jemanden besucht und der Nachbar im anderen Bett auf einmal bitterlich zu weinen beginnt? Der fremde Mensch (hier ich) überlegt, wie weit er gehen darf, ohne aufdringlich zu werden. Aber Trost ist einfacher zu geben, als man annimmt. Das, was in der Gesellschaft so schnell zu einem unangebrachten Umgangs-Dilemma wird, ein Vor-den-Kopf-Stoßen oder ein Weggucken, weil man kein Recht hat, sich einzumischen, hat hier keinerlei Bedeutung. Schritt für Schritt verwischt jede Nachdenklichkeit und macht intuitiven Handelns Platz, mit kurzen Momenten der Unsicherheit, die bald schon nicht mehr zählen.
Der Umgang mit Menschen, die wissen, dass sie sterben, die jede Eitelkeit längst abgelegt, mit geschwollenen Gliedmaßen und kahlen Schädeln in ihren Betten warten (zumeist darauf, endlich nach Hause entlassen zu werden), ihnen in so kleinen (fast minimalistischen) Dingen etwas Gutes tun zu können und zuzuhören, wenn sie erzählen, sie endlich ohne Nachzudenken trösten zu können, wenn sie weinen (weil sie z. B. auf dem Weg hinaus aus dem Krankenhaus zusammengebrochen sind und wieder zurück in ihr verhasstes Bett müssen), das alles hat bei mir etwas Neues geöffnet, etwas, was mich verändert und nachdenklicher gemacht, mich aber in vieler Hinsicht auch befreit hat.
Ich selbst war jeden Tag nur auf Besuch dort, saß stundenlang in diesen Räumen, wusste nicht, dass sich in mir bereits etwas verschoben hat. Verwundert bin ich, dass selbst das Lachen nie unmöglich wird.
Für diese Erkenntnisse bin ich dankbar.
Art & Vibration
RE: Literatur und Tod
in An der Literatur orientierte Gedanken 25.02.2011 20:27von ascolto • 1.289 Beiträge
Werte Dame......
nun, der Blick hineyn, über die Theorie hinaus, also an dem Todesatem mit zunuscheln, der dehnt wenn der betrachtende Geist nicht steift, Grenzen inthronisiert und sich nicht in den Assoziatonskedden der Furcht oder des Ekels verliert....
Wer also einmal im Hospitz mitgetanzt, wer einmal offen und aufrichtig daheraus handelt was seine Anteilnahme tief berührt, der kehrt zurück und wird des Lebens leichter, im Sinne seiner Subjektive des Leids. Wie viele wohl hier im Forum wissen habe ich dies mitgetanzt, diesen Reygen mit dem Blaubart, mit den Klöngeln uhund Trompetchens.
Besonders schwer viel mir im Nachinein eine Chemo die ich fast 6 Monate allein zuHause, im Furchtpark um das Loslaßen aber auch im Betrachten meines Lebens. Tagtäglich wurde ich kurz versorgt, mit kulinarischen Genüssen die ich noch bewältigen konnte und wenn ich nicht fieberte (Medikamente) so staerkte mich bis dahin eine zarte Praxis und die dazugehörige Theorie, die ich seit Jahren naschte, die hier mir aber die Skepsis entzwirbelte und die mich zu dem führte was ich heute atme!
Ich schrieb hier einst in einer Debatte um den Tod, und dazugehörig die Frage nach Gott, von einem Todesschrei....einem Nachklang....der nicht verweht. Der in die Stille der aufgebrachten Hysterik in denen die meisten Geister schrecken, wenn dort hinein, ein solcher Markschrei klöngelt, dann erfasst es das und unser permantes Ego an den Wurzeln und wir können, wenn wir diesem Nachal, dem Echo folgen einige bisher lästige Vorurteile (Denkschematas) überwinden, uns dem zuwenden, was uns allen bevorsteht und aus dem wir uns jetzt zeitig erlösen könnten?
Daraus erfasst so Manchem auch eine lüterarüsche Stümmm: Uhund dü hadd es uin süch, siehe den ollen Russen....
Man kann dem auch nachelfen:Es gibt eine langfristige Meditaionsmethode aus der Gelupschule: Betrachte alle Wesen als Skelette, als Totem. madig und verwest. Dann transformiert sich der Geist im Loslaßen zum Körper, wenn es funktionokelt und langatmig geübt!
Ich wünsche mir dass ein Jeder, der in seiner Motorik, in seinem Denkhaus befangen, dort hinsieht, wo der Schmerz am Größten, wo der Tod in die Türe tritt! Wenn man dabei und den Mut erfasst sich dort hinzugeben erschließt sich eine andere Geisteshaltung?
Herzgewünke
vom ollen A