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Hirngespinste

Austausch zwischen Literatur und Kunst

#1

Jurek Becker

in Die schöne Welt der Bücher 05.12.2010 11:07
von LX.C • 2.821 Beiträge

Jakob der Lügner

„Seit gestern ist morgen auch noch ein Tag.“ (50) Seit gestern ist die Nachricht rum. Die Russen stehen vor Bezanika. Verbreitet hat die Nachricht Jakob. Der kam zu ihr wie die Jungfrau zum Kinde, als er sich aufgrund eines mutmaßlichen Vergehens im SS-Revier des Gettos melden musste. Sie allein hätte schon Anlass zur Hoffnung gegeben, hätte es Jakob nicht etwas übertrieben. Um einen Freund von einer lebensgefährlichen Dummheit abzuhalten, kokettiert er damit, das Radio zu der Nachricht gleich mit zu besitzen. „So eine Nachricht ohne die Quelle ist einfach nichts wert, eben bloß ein Gerücht.“ (53) Seinem Freund Micha rettet er damit das Leben, sein eigenes dagegen wird nun erst so richtig kompliziert. Täglich umschwärmen ihn die Kollegen am Güterbahnhof, wollen neue Nachrichten hören, selbst zu Hause lässt man ihm keine Ruhe mehr. Sein alter Freund Kowalski rückt ihm ständig auf die Bude, will hören, will das Radio sehen, will fühlen, schmecken; nein, schmecken nicht. Jakob wird immer ungehaltener, antwortet gar nicht oder nur verstockt. Und hat am nächsten Tag, zumindest aber am übernächsten doch wieder eine kleine hoffnungsvolle Nachricht parat. Am liebsten möchte er die Geschichte beenden, will sich des imaginären Radios entledigen, wäre da nicht die moralisch-ethische Verantwortung. Seit seinen Nachrichten gibt es im Getto nämlich keinen einzigen Fall von Selbsttötung mehr.
Nur ein Geschöpf weiß um Jakobs Problem, nur ein kleines hat ihn durchschaut, die aufgeweckte Lina, deren er sich seit der Deportation ihrer Eltern angenommen hat. Auch sie lässt nicht locker, weiß aber nicht mal, wie so ein Ding aussieht. Radios sind im Getto nämlich verboten und Lina hatte wenig Gelegenheit, ein Leben außerhalb des Gettos kennen zu lernen. Schließlich nervt sie Jakob so lange, bis er sie in den Keller führt und versteckt hinter einer Anbauwand unter größter Anstrengung ein Interview und ein Blaskonzert imitiert. Lina ist natürlich nicht auf den Kopf gefallen, sie liebt Jakob wie den allerbesten Onkel. Sie weiß nun als einzige um die Lüge und erkennt zugleich den tiefen Sinn in ihr, die Hoffnung und den Trost, und wird so selbst zur Verfechterin von Jakobs Radio, als ihm bereits Schwindel vorgeworfen wird. Sie weiß es am besten, Jakob ist kein schlechter Mensch, nicht mal einer, der sich gerne in den Mittelpunkt stellt. Auch der Erzähler erkennt das auf dem Weg ins Vernichtungslager, die Räumung des Gettos und die Deportation hat längst alle Hoffnung wieder zerstört:

„Ich gehe nicht so weit wie einige Dummköpfe, die ihm eine Art Mitschuld an dieser Reise geben, doch ich kann nicht leugnen, dass ich einen ungerechten Groll gegen ihn spüre, weil alle Häuser, die ich auf die von ihm gelieferten Fundamente gebaut habe, zusammengestürzt sind. […] Durch Jakobs Beine hindurch sehe ich Lina, die ich bisher nur vom Hörensagen kannte, sie sitzt auf dem Rucksack. Lina macht ihn mir wieder sympathischer, ich denke, welcher andere hätte schon ein Kind auf sich geladen, und ich denke, das wiegt mindestens so schwer wie meine Enttäuschung.“ (279)

Die passive Haltung der Juden ist immer wieder Thema in der Shoah-Literatur. In „Jakob der Lügner“ wird sie durch Frankfurter, einem alten Schauspieler thematisiert. Als Frankfurter von der guten Nachricht erfährt, bricht bei ihm keinerlei Freude aus, sondern bedächtiges Schweigen, Angst und Sorge um seine Familie. Denn wenn die Nazis erfahren würden, dass ein Radio im Getto existiert, wären sie alle dran, so fürchtet er.
In seinen Augen ist Jakobs Handeln der Gemeinschaft gegenüber unverantwortlich. Er schreitet aus seiner Sicht zur einzig verantwortungsvollen Tat, er steigt in seinen Keller hinab, kramt ein altes, wahrhaftiges Radio aus, das er nicht ein einziges Mal während der Gefangenschaft eingeschaltet hat, und zerstört es bis nichts mehr davon erkennbar ist. Damit stehen sie sich gegenüber, der Mutlose, der zum tatsächlichen Hoffnungsträger hätte werden können. Und Jakob, Held wollen wir ihn nicht nennen, er würde sich auch lieber in seine Eisdiele verkriechen und Kartoffelpuffer backen, aber ein bisschen heldenhaft, der über die Fiktion einer imaginären Nachrichtenwelt die Menschen aufrecht hält. Wie fatal die Unterlassung ist, um die ihn auch der Arzt Kirschbaum bittet, zeigt sich später, als er seinem alten, langjährigen Freund Kowalski alles beichtet. Kowalski beteuert mehrmals, Jakob nicht böse zu sein, ihn zu verstehen und wird am nächsten Tag erhängt am Fensterkreuz aufgefunden.

Mit Ausnahme der Menschen im Warschauer Getto, wir befinden uns hier übrigens in Lodz gab es keinen kollektiven Widerstand der Juden. Kertész hat die Täter-Opfer-Logik der Shoah thematisiert und im „Roman eines Schicksallosen“ (1975) mittels Tabubrüchen in der Darstellung gezielt vor Augen entfaltet. Aber es gab den vereinzelten, individuellen, persönlichen Widerstand. In Fred Wanders „Der siebente Brunnen“ (1972) beispielsweise wird die von Kertész thematisierte Täter-Opfer-Logik für einen kurzen Moment außer Kraft gesetzt. Der Erzähler bleibt wie angewurzelt bei den Nichtjuden sitzen, als alle Juden in die Vernichtung geschickt werden. Er fragt sich nach kraftraubenden Deportationen und Märschen plötzlich, warum sie alle wie brave Schäfchen auf eine Lautsprecheransage reagieren, die in den Tod führt, und widersteht dem Automatismus, der Masse ein weiteres Mal zu folgen, was ihm das Leben und die spätere Möglichkeit des Erzählens sichert. Russisch Roulett, gewiss, aber wie Jurek Becker provokativ formuliert: „Das Schlimmste, was uns hätte geschehen können, wäre ein sinnvoller Tod gewesen.“ (99)
Auch in „Jakob der Lügner“ wird schließlich ein Ende konstruiert, dem Leser angeboten, in dem sich Jakob zur Flucht entscheidet, wenige Stunden, bevor die Russen tatsächlich das Getto befreien. Anders als Fred Wanders Protagonist trifft er dabei auf die geladene Revolvertrommel. Doch diese alternative Variante, der Versuch, seinem Schicksal aktiv zu entkommen, verwirft der Erzähler wieder und endet mit der angeblichen Wahrheit, die auch den Erzähler autorisiert. Alle werden verladen und deportiert. Der Erzähler erfährt auf der Fahrt ins Vernichtungslager von Jakob die Geschichte und ist vermutlich der einzige Beteiligte, der überlebt.

Diese Andeutungen fordern geradezu auf, einen genaueren Blick auf den Erzähler zu werfen, der eine besondere Rolle für die Romankonstruktion spielt. Es findet ein nachträgliches Erzählen statt. Die Distanz wird von vornherein klargestellt, indem der Erzähler in einer Eingangsszene sein Überleben kenntlich macht und verdeutlicht, wie satt er der Mitleidsbekundungen der Mitmenschen ist. Nach Mitleid für seine Protagonisten wird man den Erzähler auch nicht haschen sehen. Er schwingt sich vielmehr zu einer heiteren Melancholie auf. Das Gefühl des Menschenunrechts muss für den Leser aus der Situation selbst, der Versachlichung des Gettos und Gettolebens heraus entstehen.
Der Erzähler ist Randfigur der Erzählung, deutet seine Gegenwart hier und dort an, um als Beobachter nachträglich Wahrhaftigkeit generieren und die Geschichte Jakobs glaubhaft ausbauen zu können. Lücken, die weder die eine noch die andere Variante abdecken, schließt er mit nachträglichen Konstrukten, die eine Handlung nur so oder so wahrscheinlich machen. Indem er den Leser mit einbezieht, ihm verdichtete Konstruktionen nicht verschweigt oder den Leser gar auf Recherche mitnimmt, versucht er zusätzlich Authentizität zu erzeugen. Die dominant eingreifende Präsenz des Erzählers verdeutlicht noch einmal die Distanz zwischen Handlung und Erzählung.
Trotz allem liest sich die Geschichte wie, ja, eben eine fiktive Geschichte. Hinzu kommt die Tatsache, dass Jurek Becker zwar im Getto Lodz gelebt hat, aber zu der Zeit noch ein Kind von sieben oder acht Jahren war. Der beteiligte Erzähler ist zur Zeit des Geschehens, an vielen Äußerungen deutlich erkennbar, aber schon eine erwachsene Person, was jegliches Bemühen, dem Roman Wahrhaftigkeit anzudichen, ad absurdum zu führen scheint.
Doch darauf sollte man sich nicht versteifen. Wir wissen ja, Autor und Erzähler können zwei unterschiedlichste Paar Schuhe sein. Gerade im Bereich der Shoah-Literatur, wo man selbst noch im Roman nach historischer Wahrheit sucht, ist das nicht immer leicht zu verinnerlichen.
Man muss „Jakob der Lügner“ in mehrfacher Hinsicht als Erzählung über das Erzählen begreifen und den Erzähler, so authentisch er auf den ersten Blick erscheint, in dieser Hinsicht als Instrument der Romankonzeption verstehen, was nicht ausschließt, dass die erzählte Begebenheit in der einen oder anderen Form doch stattgefunden haben könnte.
„Jakob der Lügner“ ist Teil einer Trilogie, mit der Becker gewiss auch versucht hat, ein Stück eigene Vergangenheit zu rekapitulieren, zu rekonstruieren, die Wahrnehmung des Kindes um das Wissen des Erwachsenen zu komplettieren. Mit „Jakob der Lügner“ (1969), „Der Boxer“ (1976) und „Bronsteins Kinder“ (1986) gehörte der Autor zu den bedeutendsten Shoah-Literaten der ehemaligen DDR. Vom Nationalpreis der DDR bis zum Bundesverdienstkreuz räumte Jurek Becker alles Nennenswerte ab. Er starb nach schwerer Krankheit im März 1997.

(Quelle der Zitate: Becker, Jurek: Jakob der Lügner, Suhrkamp, Frankfurt/M. 1982.)


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[i]Poka![/i]

zuletzt bearbeitet 07.12.2010 13:09 | nach oben springen

#2

RE: Jurek Becker

in Die schöne Welt der Bücher 05.12.2010 11:21
von Patmöser • 1.121 Beiträge

Danke, guter LX.C, für diesen Ordner.

Jakob der Lügner ist eines der wichtigsten (und für mich tiefgründigsten) Bücher der deutschen Literatur. Mag etwas überschraubt und überhoben klingen, nun gut, aber allein schon die Thematik ist zeitlos und unerschöpflich. Die Lüge (im engsten und weitesten Begriff und Philosophie), hier als lebensrettendes und vielleicht auch überlebensnotwendiges Paradigma, und das so genial "einfach" in Wort und Schrift gesetzt, das wird bleibend sein, in der Literatur dieser Welt.
Zuletzt las ich dieses Buchh vor einer Zahn - OP, und das dann geradezu aus so gewissen "Gehorsamsgründen". Und bald werde ich dieses Buch wieder lesen. Das ist das Schöne, das Wertvolle am Lesen überhaupt, meine ich.

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