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Sergej Dowlatow
in Die schöne Welt der Bücher 20.01.2012 18:05von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Sergej Dowlatow
Der Koffer
Ach ja... ich habe ein neues Lieblingsbuch, das ich wahrscheinlich immer mal wieder und wieder und wieder lesen werde, weil es so schön ist, so humorvoll und auch ganz einfach nur sympathisch. Es heißt "Der Koffer" von Sergej Dowlatow. „Ihn zu lesen macht glücklich“, sagt Wladimir Kaminer im Vorwort und trifft es mit diesen Worten auf den Punkt.
Viel zu sagen, gibt es eigentlich nicht über den Inhalt. Grob umrissen handelt es sich um eine autobiografische Reise in die Vergangenheit, in die sowjetrussischen Siebziger.
Dowlatow wurde 1941 geboren, arbeitete lange und glücklos als Journalist. Er versuchte sich an Prosa, die er nicht publizieren durfte. Die Druckstöcke seines ersten Buches wurden auf Befehl des KGB vernichtet. 1978 emigrierte Dowlatow in die USA, wo er endlich Anerkennung fand und sein Werk in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde. Als er 1990 starb, haben sich seine Werke weiterhin verkauft. Dowlatow sagt von sich selbst, dass er sehr faul ist (was mitunter eine der humorigen Szenen im Buch ist, so sagt z. B. seine Frau über ihn:
„Das ist doch der Wahnsinn – mit einem Mann zu leben, der einen nur nicht verlässt, weil er zu faul ist.“)
Durch diese herrliche Faulheit schrieb er wenig, ganze fünf Bücher, die dann von geschäftstüchtigen Verlegern immer einmal wieder unter neuen Titeln herausgegeben wurden und den Leser als eine angebliche Erscheinung eines neuen Werkes zum wiederholten Kauf verführten. Ins Deutsche übersetzt sind neben dem hier vorgestellten Werk noch „Der Kompromiss“ und „Die Unsren“.
„Der Koffer“ jedenfalls ist mit einer Leichtigkeit geschrieben, die den Leser sofort für sich einnimmt und erobert, obwohl die Zeiten, die beschrieben werden, wohl kaum leicht zu nennen sind. Man folgt dem Autor und seinem Leben und könnte ihm ewig zuhören. Dowlatow fühlte sich nicht zum Kommunisten tauglich und beantragte seine Ausreise aus Russland. Als er die Genehmigung erhielt, wurde ihm nur ein einziger Koffer für seine Sachen zugestanden. Diesen öffnet er Jahre später in Amerika und weiß zu jedem Detail, jeder Sache aus dem Koffer eine wunderbare Geschichte zu erzählen. Da finden sich Acrylsocken, mit denen er auf dem Schwarzmarkt reich werden wollte, Schuhe, die er einem hohen Parteisekretär entwendet hat oder auch eine Jacke von Fernand Léger. (Léger: „Renoir malte, was er sah. Ich male, was ich verstanden habe.“) Jedes Stück hat seine Geschichte, wie Dowlatow zu ihnen gekommen ist, und diese Geschichten sind wunderbar, urkomisch und geistreich verfasst. Allein diese Stimmung, die vom Autor wieder heraufbeschworen wird, ist großartig authentisch und bringt den Leser häufig zum Lachen. Dowlatow trinkt natürlich auch gerne einen über den Durst.
Zitat von Dowlatow
„Ich habe früher ziemlich viel getrunken. Und hing dementsprechend oft irgendwo herum. Deshalb dachten viele, ich sei gesellig. Aber sobald ich nüchtern war, war es vorbei mit meiner Geselligkeit.“
Neben dem Scherz gibt es aber auch eine verhaltene Traurigkeit und Sehnsucht, die gut zu spüren ist und einige ernste Gedanken mit sich bringt:
Zitat von Dowlatow
„Im Handumdrehen kann die Hülle von Frieden und Reichtum vom Menschen abplatzen. Dann kommt sogleich seine verletzte, verwaiste Seele zum Vorschein.“
Dieses kleine Werk ist eine großartige Erzählung voller komischer, russischer Alltagssituationen und Gestalten, die nicht Figur, sondern wunderbar verkommene und wirkliche Menschen sind, voller Bitternis, Menschlichkeit, Trunksucht, Sympathie und Einfallsreichtum, was gerade in Russland unbedingt erforderlich ist und war.
Ein echter Geheimtipp... ich zumindest liebe dieses Buch!
Liebe Grüße
Taxine
Art & Vibration
RE: Sergej Dowlatow
in Die schöne Welt der Bücher 20.01.2012 20:42von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
... Für mich folgt bald das Buch "Die Unsren" und geduldig warte ich auf die Preissenkungen für den "Kompromiss".
Ich muss alleine beim Gedanken lachen, wenn ich mir vorstelle, wie du lachst, wenn du das Buch liest.
Die Atmosphäre wird dir sicher zusagen.
Art & Vibration
In der Tat, äußerst unterhaltsame Geschichten, die in tschechowscher Manier das russische Wesen einzufangen verstehen.
Bei aller Ironie in den Charakterschilderungen, steckt dahinter doch stets eine große Portion Ernsthaftigkeit, die der erzählten Zeit, aber auch irgendwie einem russischen Typus geschuldet ist, wie ich finde.
Eine meiner Lieblingsstellen, die mir gleichzeitig charakteristisch für das Buch scheint:
Zitat
"Jelena Borissowna", stellte das Mädchen sich vor. "Ihre Wahlhelferin… Sie haben noch nicht gewählt…" Das war keine Frage, sondern ein direkter Vorwurf. Ich fragte noch mal: "Möchten Sie einen Tee?" […] Ich sagte: "Wählen können wir immer noch."
Da hielt Jelena Borissowna eine vollkommen unerwartete Ansprache: "Ich weiß, dass diese Wahlen die reinste Inszenierung sind. Aber was soll ich machen? Ich muss Sie ins Wahllokal bringen. Sonst darf ich nicht nach Hause gehen."
"Verstehe", sagte ich. "Aber seien Sie ein bisschen vorsichtiger. Für solche Reden wird man Sie nicht gerade belobigen."
"Ihnen kann man vertrauen. Das war mir sofort klar, als ich das Porträt von Solschenizyn gesehen habe."
"Das ist Dostojewski. Aber Solschenizyn schätze ich auch…"
(Dowlatow: Der Koffer, Dumond, Köln 2008, 107.)
Klasse auch, als die bis ins kleinsten Detail abgesprochene Verteidigungsstrategie des Kameraden vor Gericht nichts taugt, weil der kein bisschen zu improvisieren imstande ist oder wie er mit Umweg über den Geheimdienst von der Redaktion einen Anzug ergattert. Und die besoffnen Bildhauer erst, die es dem Schicksal überlassen, ob ihre Statue aus der Verankerung reißt und die Massen erschlägt, und lieber in die Kneipe gehen. Und der Zar an der Bierbude, der Hammer, was hab ich mich weggeschmissen. Ohnehin einer der Hauptprotagonisten: Wodka. Ach, jede Geschichte hat ihre Höhepunkte und meist eine tolle Poente.
Tolles Buch, das im Handumdrehen ausgelesen ist. Danke für die Empfehlung.
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[i]Poka![/i]
Die Einordnung in das Genre Roman fällt mir jetzt erst auf. (Deshalb hab ich vergebens nach einem Inhaltsverzeichnis gesucht ) Darüber ließe sich allerdings doch streiten. Oder? Für mich eher eine Sammlung von Kurzgeschichten, zu denen der Inhalt des Koffers als Aufhänger dienst. Da hatten die Verleger wohl doch ein sehr liberales Genreverständnis. Wahrscheinlich saß man am großen runden Verlagstisch und überlegte, was sich besser verkaufen lässt
Nun ja, und Dowlatow ist ja schon 1990 gestorben. Sehr früh, schade. Ich glaube, der hätte Bukowski gefallen.
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[i]Poka![/i]
RE: Sergej Dowlatow
in Die schöne Welt der Bücher 01.02.2012 17:42von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Sobald der Erzähler gleich bleibt und als Protagonist auftritt, ein roter Faden vorhanden ist und eine Verbindung - hier der Koffer - zu allen Geschichten, kann man durchaus von einem Roman reden. Aber klar, eigentlich sind's Kurzgeschichten. Das ist nicht zu bestreiten.
Über "Die Unsren" heißt es: "... eine Mini-Saga der heutigen russischen Psyche." Mal sehen, inwieweit dies nun wieder zutrifft.
Art & Vibration
Zitat von Taxine
Sobald der Erzähler gleich bleibt und als Protagonist auftritt, ein roter Faden vorhanden ist und eine Verbindung - hier der Koffer - zu allen Geschichten, kann man durchaus von einem Roman reden. Aber klar, eigentlich sind's Kurzgeschichten. Das ist nicht zu bestreiten.
In diesem Fall reicht das für meine Begriffe nicht aus. Der gleiche Protagonist ist nicht entscheidend, der ist ja zugleich auch Erzählinstanz. Einen roten Faden die Handlung betreffend gibt es nicht wirklich. Nicht mal die Ausbürgerung als "Ziel" oder eine Gesamtgeschichte als Rückblick, wie es dazu kam.
Die kritischen Bilder, die von der Gesellschaft gezeichnet werden und sein Verhalten in ihr, sind auch nicht wirklich als roter Faden zu bezeichnen, nicht mal als Ursache seinen Koffer zu packen. Auch nicht die biographischen Gegebenheiten, die sich in verschiedenen Geschichten bestätigen und eine Glaubwürdigkeit der Erzählfigur herstellen.
Entscheidend ist aus meiner Sicht, dass jede Geschichte in sich abgeschlossen ist. Ein durchgängiger, ein konstituierender Handlungsfaden, der alle Geschichten auf entscheidende Weise miteinander verbinden und so ein Roman entstehen würde, ist nicht vorhanden. Jede Geschichte kann problemlos für sich stehen und bedingt der anderen nicht.
Das ist meine Meinung. Aber darüber zu diskutieren lohnt sich eigentlich kaum. Der Inhalt des Buches hingegen sehr.
Ich würde gerne weitere Werke von russischen Literaten jüngerer Generation lesen, die vielleicht auch das postkommunistische System zum Inhalt nehmen. Kannst Du ein paar gute Bücher nennen? Ich erinnere mich, Du hattest vor Dowlatow schon einige gelesen.
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[i]Poka![/i]
RE: Sergej Dowlatow
in Die schöne Welt der Bücher 01.02.2012 21:24von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Was mir an Dowlatow gefiel, war diese Einfachheit in Kombination von Humor und Ernst und das typisch Russische in diesen Erzählungen. Da heran reichen wenige.
Eine andere, aber trotzdem sehr russische (gute) Stimmung fand ich bei Wladimir Makanins "Underground - oder ein Held unserer Zeit".
Postkommunistischer Inhalt samt gutem Stil ist auch bei den Autoren und Herausgebern von "Metropol" zu finden (mehr dazu hier). Besonders mag ich Viktor Jerofejew. "Der gute Stalin" ist autobiografisch und toll geschrieben, handelt weniger von Stalin, als über die Stimmung "Stalin", dieser enormen Kraft, die sich nur im russischen Volk herausbilden konnte, handelt aber auch von Jerofejews Kindheit, seinem Vater (ein Übersetzer und Diplomat unter Stalin) und über den Skandal "Metropol". Auch Jewgeni Popows Experiment "Die Wunderschönheit des Lebens" gibt die Stimmung der postkommunistischen Zeit gut wieder, ist allerdings auch eigenwillig zu lesen, weil er Zeitungsartikel mit eigenen Texten zu der jeweiligen Zeit und ihrer Entwicklung kombiniert. Dadurch aber schimmert eine ganz erstaunliche Aktualität und Authentizität durch,... hat mir gefallen. Axjonow gefiel mir ebenfalls.
Pelewin hatte ich ja auch mal genannt, "Generation P", hat weniger mit postkommunistischem Inhalt zu tun, drückt aber das Heute besonders schön aus.
Art & Vibration
Zitat von LX.CZitat von Taxine
Sobald der Erzähler gleich bleibt und als Protagonist auftritt, ein roter Faden vorhanden ist und eine Verbindung - hier der Koffer - zu allen Geschichten, kann man durchaus von einem Roman reden. Aber klar, eigentlich sind's Kurzgeschichten. Das ist nicht zu bestreiten.
In diesem Fall reicht das für meine Begriffe nicht aus. Der gleiche Protagonist ist nicht entscheidend, der ist ja zugleich auch Erzählinstanz. Einen roten Faden die Handlung betreffend gibt es nicht wirklich. Nicht mal die Ausbürgerung als "Ziel" oder eine Gesamtgeschichte als Rückblick, wie es dazu kam.
Die kritischen Bilder, die von der Gesellschaft gezeichnet werden und sein Verhalten in ihr, sind auch nicht wirklich als roter Faden zu bezeichnen, nicht mal als Ursache seinen Koffer zu packen. Auch nicht die biographischen Gegebenheiten, die sich in verschiedenen Geschichten bestätigen und eine
Raffiniert. Ähnlich wie bei Leo Perutz "Nachts unter der steinernen Brücke". Ein Prager Roman, der in der Zeit Rudolf II. spielt und aus 14 Erzählungen besteht, die miteinander verknüpft sind. An sich mag ich so etwas experimentielles. Dowlatow scheint wirklich eine gute Empfehlung zu sein. Peter Härtlings Roman "Schubert" besteht auch aus Erzählungen.
„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
Zitat von Taxine
Pelewin hatte ich ja auch mal genannt, "Generation P", hat weniger mit postkommunistischem Inhalt zu tun, drückt aber das Heute besonders schön aus.
Ja, richtig, Generation P wollte ich ja noch lesen. Das werde ich als Nächstes tun.
Zitat von Martinus
An sich mag ich so etwas experimentielles. Dowlatow scheint wirklich eine gute Empfehlung zu sein. Peter Härtlings Roman "Schubert" besteht auch aus Erzählungen.
Dowlatow ist eine gute Empfehlung. Experimentell ist er aber nicht.
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[i]Poka![/i]
Zitat von LX.C
In der Tat, äußerst unterhaltsame Geschichten, die in tschechowscher Manier das russische Wesen einzufangen verstehen.
Na guck an:
"Сергей Довлатов говорил, что похожим ему хочется быть только на Чехова."
http://lib.aldebaran.ru/author/dovlatov_...sergei_chemodan
gibts das komplette Buch in russischer Sprache. Die Bezeichnung Roman scheint aus dem Englischen übernommen.
Im Russischen wird das Werk einfach unter Prosa eingeordnet. Das kann ein Roman sein, können aber auch Kurzgeschichten sein.
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[i]Poka![/i]
RE: Sergej Dowlatow
in Die schöne Welt der Bücher 02.02.2012 14:52von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Hier habe ich auch noch eine etwas ausführlichere Seite über Dowlatow gefunden, die auch einige andere modernere Autoren wie Wen oder Twardowski nennt:
Dowlatow
Dowlatow scheute sich übrigens auch nicht, sich über Nabokov lustig zu machen (wenn auch der Inhalt der Erzählung kaum an "Der Koffer" heranreicht). Zu lesen an dieser Stelle.
Art & Vibration
RE: Sergej Dowlatow
in Die schöne Welt der Bücher 10.02.2012 03:21von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Die Unsren
Sein Vater, der Bauer, prügelte ihn als Kind mit einem Holzscheit. Einmal ließ er ihn im Wassereimer in einen stillgelegten Brunnen hinab. Er hielt ihn dort ungefähr zwei Stunden. Dann schickte er ihm in einem zweiten Eimer ein Stück Käse und eine halbe Flasche Napareuli-Wein nach. Und erst nach einer weiteren Stunde zog er den nassen und betrunkenen Großvater heraus…
Vielleicht ist der Großvater darum so streng und reizbar geworden.
Elf Familienporträts und das eines Hundes (gleichfalls ein Familienmitglied) entwirft Dowlatow in „Die Unsren“. Da alle miteinander verwandt sind und seiner Familie angehören, treten auch die meisten mehrmals aus dem Blickwinkel der jeweils beschriebenen Person auf. Dowlatow hat zwölf Kapitel angelegt und erzählt in seiner üblich humorigen Weise vom Ernst des Lebens, hier natürlich insbesondere vom russischen Leben und Denken. Der Stil ist eigenartig verknappt und gewöhnungsbedürftig (mag an der Übersetzung liegen), doch bald findet man in diese typische Dowlatow-Art des Erzählens und schließt das Buch erneut mit herzlicher Sympathie.
In einem Land, in dem „das Leben immer glanzloser und eintöniger“ wird… „Selbst die Gemeinheit besaß einen irgendwie alltäglichen, verzagten Charakter.“ … kämpft seine Familie mit der sowjetischen Alltäglichkeit.
„Trotzdem war es unter Stalin besser. Unter Stalin wurden Bücher gedruckt und anschließend die Autoren erschossen.
Heute werden keine Schriftsteller mehr erschossen. Es werden keine Bücher gedruckt.
Jüdische Theater werden nicht mehr zugemacht. Es gibt einfach keine…“
Von den grimmigen Großvätern über die Onkel und ihr Größenwahn, über kluge Tanten, über den Vater und die Mutter zu seinem Cousin (der seine ganze Begabung unter eigenartigen Verhältnissen auslebt) bis hin zu „Glascha“, der Uniform hassenden Hündin, die ihr Leben lang Jungfrau bleibt und beim Zoll wie ein Stück Schweinefleisch gewogen wird, zu seiner Frau und seinen Kindern, berichtet Dowlatow von lustigen Begebenheiten. Natürlich wird auch von Verhaftungen, der Partei und Denunziationen erzählt, von Literaten und Aufsteigern, von Wodkagelagen und der Emigration nach Amerika, die hier, im Gegensatz zu „Der Koffer“, etwas ausführlicher Erwähnung findet, sowohl im Hin und Her davor als auch in der Müdigkeit des Ankommens.
Die Reise nach Amerika war eher aufgezwungen, ist eine Entscheidung zwischen Gefängnis und Ausland. Der Erzähler sagt, wenn Literatur in Russland strafbar ist, dann gehört er eben ins Gefängnis, aber seine Frau reist vor ihm mit seiner Tochter ab und ausgerechnet ein KGB-Typ erklärt ihm, dass er die beiden lieben würde, macht es damit offiziell. Wer „Der Koffer“ kennt, wird ahnen, weshalb das Verhältnis zur eigenen Ehefrau bei Dowlatow ein ganz spezielles ist. Auch hier kommt der Leser ganz auf seine Kosten.
In Amerika macht er einige Entdeckungen, die aber doch nur kurz angedeutet werden. Da sind Eichhörnchen, die überall herumspringen, was in Russland etliche Leute herangelockt hätte, um sie zu begaffen, hier aber keinen interessiert, und es gibt vollkommen leere Highways.
Zitat von Dowlatow
„Welches ist die Haupteigenschaft der Amerikaner? Ich entschied auf der Stelle, dass es ihr Optimismus war. Im Hof unseres Hauses gab es einen Mann, der sich im Rollstuhl fortbewegte. Wenn man ihn fragte: „Wie geht’s?“, antwortete er ohne eine Spur von Verlegenheit: „Bestens.“ Oder man sah auf der Straße ein Mädchen, blass, ungepflegt, mit dicken Beinen, das ein T-Shirt mit der Aufschrift „Ich bin Ursula Andress“ trug. Wiederum ohne jede Verlegenheit. Und so weiter.“
Dowlatow behauptet von sich selbst, er schreibe Erzählungen. Damit hatte er sich dann wohl durchaus für ein Genre entschieden. Seine Tante war Lektorin… „obwohl ich nicht ganz begreife, wozu ein Lektor überhaupt nötig ist. Wenn ein Schriftsteller gut ist, ist der Lektor sozusagen überflüssig. Wenn er schlecht ist, rettet ihn auch kein Lektor.“ Überhaupt würde er Druckfehler nur mit dem Wissen des Autors korrigieren, … „die Regeln der Zeichensetzung erfindet jeder Autor für sich neu“. Er schreibt davon, dass er in Russland nicht gedruckt wird, berichtet von seinem Leben und seinen Kämpfen. Da er aber nicht allzu literarisch werden will, beschränkt er sich auf kurze Andeutungen, die aber häufig sehr gelungen sind. Da taucht die Schwierigkeit auf, sich selbst anzuerkennen und an sein Talent zu glauben, in einem Land, dass die eigenen Sachen nicht druckt, gepaart mit einer natürlichen Empfindlichkeit. Ihm helfen nur zwei Dinge: viel Alkohol und der Trost des Selbstbetrugs: „Die Maske des verkannten Genies machte mir das Leben irgendwie leichter.“
Überhaupt waren fast alle seiner Freunde Genies. „Und einige gleich mehrfache.“ So hält man sich dann eben „russisch“ lebendig. Und wenn es nicht weiter geht, dann hilft noch mehr Wodka.
Die für mich lustigste Geschichte ist die über das Kennenlernen seiner Frau Lena. Sicherlich sind all diese Bilder der Familie nicht gänzlich realistisch (oder doch?), sondern mit dem Augenzwinkern erzählt, das man auch schon aus Dowlatows „Der Koffer“ kennt. Hier ist die Begegnung wieder eine andere, wenn auch der Charakter der Frau gleich ist, die ihm später, mit der Tochter bereits emigriert, „stoische Postkarten“ schickt. „Meine Mutter las sie wieder und wieder. Sie versuchte, in ihnen irgendwelche Gefühle zu entdecken. ich wusste ja, dass das sinnlos ist.“.
Der Beginn dieser Beziehung verläuft wie folgt: Nach einer Party hat ein Freund eine fremde Frau in der Wohnung des Erzählers vergessen. Sie scheint das nicht großartig zu stören, denn sie kündigt nach dem gemeinsamen Frühstück... „Kaffee auf dem Tisch, Gebäck, Marmelade. Aus irgendeinem Grund Fischsülze“ … an, dass sie am Abend wieder da ist. Dieses Dasein und Wiederkommen der ihm fremden Frau vollzieht sich von da an jeden Tag, ohne dass er dafür eine Erklärung findet.
Zitat von Dowlatow
Dabei fiel mir folgende Geschichte ein. Ich kam mit einem Freund aus der Sauna. Ein Milizionär hält uns an. Wir erstarren und fragen:
„Worum geht’s?“
Und er sagt:
„Können Sie mir nicht sagen, wann der Rosenkranz von der Achmatowa erschienen ist?“
„Im Jahr 1914! Im Verlag „Giperborej“, Sankt Petersburg.“
„Danke. Sie können gehen.“
„Wohin?“, fragen wir.
„Wohin Sie wollen“, antwortet er. „Sie sind frei.“
Damals verblüffte mich die Mischung aus Alltäglichkeit und Irrsinn. Und nun hatte ich etwa das gleiche Gefühl.
Als der Erzähler sich endlich verwirrt erkundigt, was da tatsächlich vor sich geht - „Und ihr Gesicht ist ruhig wie ein Deich.“ -, ist er nach der Frage genauso schlau wie vorher. Die Selbstverständlichkeit der Frau und ihre Anwesenheit, obwohl sie eine Wohnung besitzt und ihn nicht liebt, kann nur durchbrochen werden, wenn diesem alltäglichen Eheleben ohne DAS das DAS hinzugefügt wird, was dem Erzähler durch Wodka dann als Rettung gelingt. Danach ist es einfacher. Es ist mehr der Versuch, diesen Irrsinn zu beenden, als ein tatsächliches Bedürfnis… „Wir gingen noch nicht einmal zum „du“ über.“ Ein Jahr später bekommen sie eine Tochter. „So haben wir uns dann kennengelernt.“
Dowlatow hat mich also auch mit diesem kleinen Werk ganz für sich eingenommen, aber wenn ich ehrlich bin, dann habe ich auch gar nichts anderes erwartet.
Art & Vibration
RE: Sergej Dowlatow
in Die schöne Welt der Bücher 10.02.2012 13:29von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Ja, ging mir letztes und dieses Jahr auch so. Die russische Literatur enthält etwas, das sich mir tief einprägt. Ach... da fällt mir noch ein Kultbuch ein. Ilja Ilf und Jewgeni Petrow "Zwölf Stühle". Am besten in der Übersetzung von Thomas Reschke. Das ist auch eine Mischung aus Humor und urrussischer Seele.
Art & Vibration