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Hirngespinste

Austausch zwischen Literatur und Kunst

#1

Literatur im Samisdat

in An der Literatur orientierte Gedanken 13.04.2012 14:06
von Taxine • Admin | 6.678 Beiträge

Literatur im Samisdat

Nach Valerij Tarsis und seinem Werk „Botschaft aus dem Irrenhaus“ möchte ich gerne weitere Werke benennen und näher betrachten, die im Samisdat verbreitet wurden, im Ausland veröffentlicht, in der Sowjetunion lange verboten waren und den Verfassern der Schriften viele Unannehmlichkeiten und Leid, Bestrafung, Lager oder Verbannung eingebracht haben. Andere (wie z. B. Wassili Grossman) verloren das Leben, bevor ihre Werke das Licht der Öffentlichkeit erblickten.

Während Tschechow sich noch bei seinem Verleger wegen herausgestrichenen Sätzen in einigen seiner Erzählungen beklagte, da sie zu düster seien, die Zensur als unerträglich empfunden wurde, wandelte sich das Blatt schnell.
Die Zensur selbst war noch nicht einmal das eigentliche Problem. Sie wurde 1917 nach der Februarrevolution sogar ganz und gar abgeschafft, erst durch die Bolschewiki wieder eingeführt und das auch nicht nach heutigem Verständnis, was Zensur ist. Tatsächlich war der Begriff „Zensur“ in der Sowjetunion völlig fehl am Platz, denn sie existierte nicht. Es gab nichts, was der Schriftsteller nicht schreiben durfte, sondern nur das, was er schreiben sollte. Dieser Rahmen war explizit vorgegeben, so dass Schriftsteller gar nicht in die Bredouille kamen, dass etwas in ihren Werken gestrichen werden musste. Darum war die öffentlich gestattete Literatur auch dermaßen bewegungsarm und ohne Kreativität, fade und monoton, blieb sozialistischer Realismus mit vorgeschriebener Richtung.Der Schriftsteller wurde so zum gehorsamen Staatsdiener und Regimebefürworter.

Im Samisdat kursierten viele Werke, die heimlich abgeschrieben, abgetippt, aus dem Gedächtnis zitiert und verbreitet wurden, immer auf die Gefahr hin, selbst verhaftet zu werden. In ihnen war vor allen Dingen die Ablehnung allen Sowjetischen und Banalen herauszuhören. Das Russische rückte in den Vordergrund, "Leningrad" wurde wieder durch "Petrograd" ersetzt. Es war eine neue Form des Protestes, der sich durchsetzte, der sich auch in ästhetischer Suche äußerte. Die Manuskripte wurden von Hand zu Hand gereicht, manchmal hatte eine Familie nur eine Nacht Zeit, um es zu lesen und dann weiterzureichen.
Man spricht von russischer Untergrundliteratur, wobei der Wert der Literatur allgemein betrachtet eigentlich nicht vom Verbot oder der offiziell gestatteten Veröffentlichung abhängt, Russland allerdings in seiner Qualität dennoch eine Ausnahme bildet. Es gibt und gab dort zwei verschiedene antagonistische Kulturen: die offizielle und nichtoffizielle, die erste (erlaubte) und die „zweite Literatur“ (Andrej Sinjawskij prägte diesen Begriff.)

Der eigentliche Samisdat entstand nach Stalins Tod, da von da an der „Personenkult“ abgelehnt wurde. Mit Pasternaks Roman „Doktor Schiwago“ brach eine Lawine los und bahnte sich einen Weg an nicht offiziellen Werken und Berichten. Hier kann auch noch einmal unterschieden werden in fiktive Werke, die also Kritik durch die Romanform üben, als auch autobiografische Werke, die Erfahrungen, Tagebücher, heimlich geschmuggelte Briefe aus Lagern, Erzählungen über das Erlebte sind.
Letztere machen den Anfang, werden von mir näher betrachtet.

Eine wichtige und schöne Ausgabe vieler solcher Werke findet sich beim Ullstein Verlag: Ullstein – Kontinent. Hier sollen die internationalen Rechte osteuropäischer Schriftsteller wahrgenommen werden. Emigranten, Künstler im Exil und Betroffene kommen zu Wort, darunter z. B. auch (über Russland hinaus) Sandor Kopacsi mit seinem erschütternden Buch „Die ungarische Tragödie. Wie der Aufstand von 1956 liquidiert wurde.“

Folgende Werke sollen näher betrachtet werden:

Wladimir Gussarow „Mein Vater der Bonze“
Viktor Nekrassow „Zu beiden Seiten der Mauer“ und „Ansichten und etwas mehr“
Michail J. Makarenko „Aus meinem Leben“
Milovan Djilas „Der Wolf in der Falle“
Wladimir Bukowski „Wind vor dem Eisgang“
Anatonj Gladilin „Probe am Freitag“
Wladimir Woinowitsch „Iwankiade.“
Michael Nariza „Das ungesungene Lied“
Andrej Amalrik "Unfreiwillige Reise nach Sibirien"
Eduard Kusnezow "Lagertagebuch"
Wladimir Maramsin "Der Natschalnik"



Weitere werden folgen (so die Werke von Sinjawskij (Pseudonym: Abram Terz, der für seine fantastische Erzählung „Ljubimow“ sieben Jahre Lager bekam)).


Liebe Grüße
Taxine




Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 14.04.2012 13:05 | nach oben springen

#2

RE: Literatur im Samisdat

in An der Literatur orientierte Gedanken 13.04.2012 14:10
von Taxine • Admin | 6.678 Beiträge

1. Wladimir Gussarow

Als mein Urgroßvater, Wanka Gussarow, elf Jahre alt war, hörte er, nach dem Willen des Zaren Alexander Nikolaijewitsch, auf, ein Sklave zu sein. Doch ehe wir uns richtig in die Freiheit einleben konnten, stopfte man uns die „Prawda“ und die Aprilthesen in den Mund, damit wir sie Jahr für Jahr von morgens bis abends durchkauen und die Welt ringsum nicht sehen.

„Mein Vater der Bonze“ ist ein tragisch komisches Buch. Gussarows Stil ist angenehm, sein Bericht humorvoll und auch selbstkritisch. Ehrlich und wunderbar locker beschreibt er die tragischen Dinge seines Lebens, ohne jemals den eigenen Humor zu verlieren. Das macht dieses Werk so leicht, trotz der Schwere seines Inhalts.
Neben Tarsis war auch Gussarow in einem Irrenhaus. – „Deshalb sind Psychiater die letzte Hoffnung. Ist ein Beschuldigter nervös, heißt es – nicht normal; ist er ruhig – er begreift seine Lage nicht; beteuert er seine Unschuld – geistig behindert.“ - Gussarow berichtet ausführlicher als Tarsis (auch nicht fiktiv, sondern von wirklichen Bedingungen), dabei eindringlich und bissig, betrachtet sowohl die Kindheit als auch seine spätere Entwicklung und schließlich seine Verhaftung.

Sein Werdegang ist bezeichnend. Geboren wurde er am 15. September 1925. Er arbeitete als Schauspieler, wurde 1952 als Regimekritiker verhaftet und in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen, danach noch etliche Male unfreiwillig „hospitalisiert“, war nach seiner Freilassung erneut als Schauspieler auf den Bühnen, vor der Kamera, bis er diese Autobiografie schrieb, die im Samisdat verbreitet wurde und durch die er seine gesamten Rechte verlor. Heute verdient er sich seinen Lebensunterhalt als Gelegenheitsarbeiter.
Hinzu kommt, dass er der Sohn eines ZK-Sekretärs war. Er erzählt von den Privilegien dieser „goldenen Jugend“, die Kinder hoher Parteifunktionäre genossen. Für ihn war dieses Leben wie ein „Leben auf dem Mond“, fernab der Vorgänge und Verhaftungen, Denunziationen und der politischen Entwicklung. Er genoss mit seiner Familie die schönen Wohnungen, das reichliche Essen, das Fahren mit Chauffeur, die Narrenfreiheit.
Er sagt, er hätte unter diesen Bedingungen lange Zeit nichts von der Kritik am sowjetischen Regime mitbekommen, keiner machte den Mund auf. Sein Vater war eine Autorität, seine Tante bei der Tscheka. Er selbst sei kein Sklave des Regimes gewesen, wie er behauptet, sondern auf lange sein „Anhänger und Verteidiger“.

Bis sich das Blatt wandelt. Als er Schauspiel studiert, bemerkt er zunächst noch nicht, was bereits alles als „staatsfeindlich“ gilt. Seine Blindheit beruht auf eben jener Erziehung und dem ständigen Umgang mit hohen Parteibonzen. Er genießt die Privilegien, bekommt ein Stipendium und erkennt erst nach und nach, dass z. B. jüdische Kommilitonen, obwohl wesentlich besser und begabter, nicht nur kein Stipendium erhalten, sondern auch noch der Akademie verwiesen werden. Überhaupt sind ausländische Namen den skeptischen Blicken der Fanatiker und Regierungstreuen unterworfen und erfahren bald die Konsequenzen.

Als er während des Krieges zu trinken beginnt und aus diesem zurückkehrt, wird er, da er der Sohn eines Funktionärs ist, häufig wieder von der Miliz entlassen, wenn er gepöbelt oder in seinem Suff gewisse Dinge herausgegrölt hat, die andere nicht wagen, auszusprechen. Hier muss man dann doch ganz klar sagen, dass er, im Gegensatz zu vielen „wirklich“ Unschuldigen, die nicht einmal tatsächlich Kritik geübt haben, sehr wohl ausgesprochen hat, was ihm an Stalin und dem Regime nicht passte, weshalb er in seiner Autobiografie auch häufig seine Schuld einräumt. Dieser Widerspruch zwischen dem Verweis auf die furchtbaren Umstände und das eigene Einsehen, dass man zu gewissen Zeiten bestimmte Dinge nicht sagen darf, zeigt sich in seinen Zeilen sehr deutlich und gibt hervorragend das allgemein vorherrschende Schwanken in den Ansichten wider. Natürlich ist all das, was er wiederum sagt (nach heutiger Auffassungsgabe) kaum tatsächlich staatsfeindliche Propaganda oder rechtfertigt sogar eine Verhaftung, dennoch könnte man meinen, ein Mensch, der all das anspricht, sollte sich in einer anderen Lage befinden, als z. B. all die, die nichts verbrochen hatten, was nicht der Fall war; darunter all jene, die sich weigerten, jemanden zu denunzieren, die durch andere Menschen verraten wurden, die scharf auf ihre Wohnungen waren oder aus noch kleinlicheren Gründen denunzierten (weil z. B. der Ehepartner ihnen nicht mehr passte), die aus dem Krieg als Kriegsgefangene zurückkehrten und als Verräter galten.

„Eine Prawda-Nummer enthielt ein Gespräch Stalins mit einem ausländischen Korrespondenten: „Nicht ein Haar wird den heimkehrenden Gefangenen gekrümmt werden. Dafür übernimmt die sowjetische Regierung die volle Garantie.“ Die Heimkehrer suchten später lange in den alten Zeitungsbündeln der Lager nach dieser Nummer und fanden sie nicht. Auch in der Lenin-Bibliothek ist sie nicht vorhanden. Offenbar wird sie anderswo aufbewahrt.“

Der ironisch tragische Ton ist hier gut herauszuhören. Diese Menschen machten sich alleine dadurch schuldig, weil sie überlebt hatten. Wer dazu auch noch versuchte, die Wahrheit zu sagen und seine Unschuld zu beteuern, verscherzte es sich von vorneherein mit dem Untersuchungsrichter, wurde härter bestraft, so war es für viele einfacher, die Vorwürfe gegen sie einfach zu bestätigen und die Strafe entgegenzunehmen.

Die Nuancen von Schreck und Humor in Gussarows Bericht sind wirklich stark. So spricht er am Anfang z. B. von seiner Großmutter:

Zitat von Gussarow
„Es heißt, sie habe Vater als Kind kräftig verdroschen, ihm sogar die Zunge mit einer Nadel durchstochen, weil er unflätig geflucht habe. Doch mich rührte sie nicht an, vermutlich, weil ich mit der Polizei drohte. Wenn ich auch noch in die Hosen pinkelte, meine Rechte kannte ich.“



Oder über seinen Vater, um seinen Charakter besser zu verdeutlichen:

„Neuerdings fängt Vater, wenn er in Fahrt ist, an, mich mit „Sie“ anzureden, als spräche er vor einer Parteiversammlung…“


Oder später von seinen Schauspielerfahrungen:

Zitat von Gussarow
„Leider schafften es nur geniale Schauspieler, in der siebenundneunzigsten Aufführung mit der gleichen Anteilnahme zu spielen wie in der Premiere.
Schon nicht mehr in Rjasan, sondern im Moskauer Bezirkstheater des Jungen Zuschauers spielte ich den Wladimir in Rosows „Viel Erfolg“. Bei einer auswärtigen Aufführung machten wir Schauspieler ordentlich „Fez“. Vorgesetzte waren nicht da, und auf den Zug mussten wir noch über eine Stunde warten. Jeder versuchte, den anderen mit Eigenschöpfungen zu übertrumpfen, so dass es mir schließlich zu viel wurde und ich mir vornahm, korrekt und ernst zu spielen.
Am Ende der Vorstellung stürzte der Regieassistent hinter den Kulissen auf mich zu und gratulierte mir. Ich hatte statt „Wir beide blicken“ gesagt: „Wir beide ficken…“, und war außer Konkurrenz.“



Während sich die Schauspieler also gegenseitig aus dem Konzept zu bringen hoffen und die Worte verdrehen, so z. B. ruft einer aus: „Ich kotender Stinker“, statt „ich stinkender Köter“, oder noch besser, wenn der eine Schauspieler sagt: „Das macht den Fohl nicht kett.“ und der andere darauf antwortet: „Kommt drauf an, welcher Fohl.“, muss Gussarow mit leichtem Schreck feststellen, dass hinter den Kulissen gegrölt wird, auf der Bühne geprustet, jedoch im Zuschauerraum der Ernst andauert, keiner das Gesicht zu einem Lächeln verzieht. Das nun wieder besagt viel über das Publikum.
Als Gussarow die Rolle „Lenin“ spielt, erfährt er viel Bewunderung. Eine alte Frau beginnt ihn sogar mit ihren Problemen zu traktieren, weil sie ihn für Lenin hält.

Als er im Suff von den "Stalinischen Bastarden" spricht und beginnt, die „Internationale“ zu singen, kommt auch für Gussarow die Stunde der Wahrheit. Er wird verhaftet und eingesperrt. Die „Verrückten“ gleichen sich in ihrem Schicksal. Die romantische Vorstellung Gussarows von einer Lagerzeit voller Ruhe und Schachspiel verflüchtigt sich durch die Wirklichkeit. Er hört von Folterungen, von der Willkür des Gesetzes, von der Gleichgültigkeit der Bewacher. Die Neuen werden daran erkannt, dass sie noch die wässrige Suppe verweigern oder tatsächlich darüber nachdenken, was sie ihren Kindern zum Geburtstag schenken. Sie, wie auch Gussarow, glauben noch an gerechte Urteile, hoffen auf ihre Entlassung, da sie unschuldig sind, und werden eines Besseren belehrt. Trotzdem hat Gussarow das Glück, dem allen nicht zu begegnen. Viele Berichte aus dieser Zeit erzählen von Ungerechtigkeiten, Prügel, Vergewaltigung, Untergrabung der Menschenrechte, Erschießungen und anderem. Gussarow muss all das nicht über sich ergehen lassen. Ihm wird "lediglich" die Freiheit entzogen.

Neben den vielen Menschen, die mit ihm in der Irrenanstalt sind und die Gussarow großartig beschreibt (für mich auch besser als Tarsis, der diesen Charme und ganz spezifischen Blick nicht so gut entwickelt und seine Figuren vielmehr als Rolle denkt, während Gussarow von echten Menschen samt ihrer Macken spricht – „Majestätisch schritt er über den Gefängnishof, die Glatze mit einem Taschentuch bedeckt, einen Band Marx unter dem Arm.“), erzählt Gussarow auch von der Reaktion auf den Tod Stalins, den Unglauben, die absurden Moskauer Prozesse gegen die jüdischen Ärzte, die Reaktionen danach, von wunderbar menschlichen Begegnungen. Auch gibt Gussarow ein großartiges Insider-Wissen weiter, wie sich die Menschen z. B. vor Spitzeln warnten oder wie die Wohnsiedlungen, die Chruschtschow errichten ließ, bezeichnet wurden, als ein Wortspiel wurde aus „truschtschoby“ (Slums) und dem Namen des Staatsoberhaupts die Bezeichnung: „Chruschtschoby“.

Die Aufzeichnungen Gussarow sind in drei Teile geteilt. Der erste handelt von seiner Kindheit und dem ZK-Milieu seiner Familie, der zweite beschreibt den Aufenthalt in der Irrenanstalt, der dritte handelt von seiner Freilassung und den neuen, auf ihn zukommenden Problemen, darunter die Trennung von seiner Frau, die zwar einen anderen heiratet, aber immer wieder bei ihm auftaucht und seine Geliebte ist, und der schmerzhafte Tod seiner Mutter, die bis zum Ende die Sowjetmacht liebte. („Im Lauf ihres Lebens hatte Mama alles von Marx und Engels abgeschrieben, ein Berg dicker Hefte hatte sich angesammelt. Ich packte sie zusammen und trug sie samt den Quellen zur Sammelstelle für Altpapier. Welch verpfuschtes Leben!“) Die Mutter erkrankte und starb an Krebs. Die sowjetischen Krankenhäuser nahmen allerdings keine Krebspatienten auf, so musste die arme Frau Schmerz simulieren, damit sie behandelt werden konnte. Freilich gab es auch andere Krankenhäuser, in denen Geld ausreichte, um aufgenommen zu werden. Und dann gab es noch diese wenigen, in denen das Geld nicht mehr genügte. Einzig Ergebenheit war das Kriterium.


Über den zweiten Teil der Aufzeichnungen heißt es: „Dieses Exemplar hat einen Sommer und einen Winter in der Erde gelegen, ist stockig und schimmlig geworden.“ Als Gussarow endlich wieder entlassen wird, findet er keine Arbeit. Er beteiligt sich an einem Wettbewerb und wird dem Anschein nach am Theater genommen. Dass er im Pass die Eintragung hat, dass er im Butyrka Gefängnis war (dort allerdings nur auf der Krankenstation), bringt sofort neue Schwierigkeiten mit sich. Als die Eintragung entdeckt wird, spricht man schnell von einem zweiten Vorsprechen, das dann niemals stattfindet. Weitere scheinheilige Absagen aus gleichem Grund (selbst als er auf die Idee kommt, sich durch die Beziehungen seines Vaters (immer noch Funktionär) einen neuen Pass ausstellen zu lassen) folgen. Gussarow verfällt erneut dem Suff.

Schließlich kommt er beim Film unter.

Zitat von Gussarow
„Die Arbeit beim Film ist uninteressant. Man fühlt sich wie eine Marionette. Nicht die Aufnahme, in der du gut gespielt hast, wird genommen, sondern jene, in welcher der Regen hinter dem Fenster besser herauskommt.“



Interessant war auch der Bericht über eine amerikanische Ausstellung (unter den neuen „Freiheiten“ unter Chruschtschow), wo Gussarow Pepsi Cola trinkt und die Menschen sich wundern, dass die Amerikaner ihre eigenen Staatsoberhäupter in Frage stellen. Auch hatten die Amerikaner geplant, das russische Volk umsonst zu bewirten und zu verpflegen, was die sowjetischen Behörden als Provokation empfanden und nicht gestatteten.

Als Solschenizyns Werk „Iwan Denissowitsch“ herauskommt und Gussarow es liest, fasst er richtig zusammen, dass es sich hier nicht so sehr um einen Schriftsteller handelt, der sich durch ein überragendes Erzähltalent auszeichnet (zumindest in diesem ersten Roman noch nicht), stattdessen aber gründliche Kenntnisse der Materie besitzt und daher viele Menschen anspricht und die Ereignisse hervorragend darstellt. Er ist so begeistert von ihm, dass er ihm einen Brief schreibt und ihm anbietet, in seine Wohnung zu ziehen. Die Wohnungsnot in der Sowjetunion ist bekannt, Solschenizyn antwortet tatsächlich. Sie treffen sich, finden einander sympathisch, allerdings ist bis dahin Gussarows Großmutter bei ihm eingezogen, so dass Solschenizyn von einem Einzug absieht.
Durch ihn fühlt sich Gussarow schließlich angeregt, selbst zu schreiben und zu berichten, was er erlebt hat. Diese Aufzeichnungen sind das Resultat. Auch tippte Gussarow, einmal in die Materie hineingefunden, etliche Manuskripte für den Samisdat, darunter auch „Gratwanderung“ von Jewgenia Ginsberg oder die kritischen Sachen von Milovan Djilas.
Dazu sagt er:

„Jene pikante Situation, in der ein verantwortlicher Tschekist seine Samisdatexemplare vor seinem Sohn versteckt, der wiederum seine vor dem Vater verbirgt, scheint mir durchaus der Wahrheit zu entsprechen.“


Die Leute warnen ihn: „Er tippt, bis er ausgetippt hat.“ Und bald wartet auch schon der „Rabe“ vor seinem Haus und er wird wieder in ein „Krankenhaus“ gebracht. Etliche persönliche Sachen werden beschlagnahmt und als er wieder entlassen wird, hat man ihn „zu Tode kuriert“.

Danach folgen noch einige lustige Berichte über seine Saufereien. Darunter wird er von drei Frauen ausgeraubt und wundert sich auf dem Polizeirevier, dass die Miliz mehr an ihm als an den Damen interessiert ist… da lässt er es lieber sein. Ein anderes Mal wird er betrunken auf der Polizeistation selbst ausgeraubt. Als er darum bittet, ihm wenigstens etwas zum Anziehen zu geben, bekommt er sein eigenes Sakko zurück, eine fremde Hose und seine leer geräumte Brieftasche. Auch sein Kugelschreiber wurde gegen einen schlechteren ausgetauscht. Er lächelt darüber und erklärt, dass er den Edelmut der Polizisten zu schätzen wüsste, da ihm Straßenräuber gar nichts gelassen hätten. Diese Beispiele zeigen wunderbar jenen Humor, der dem Buch innewohnt.

Sollte man nun Gussarows Buch in einem Satz zusammenfassen, so eignen sich hervorragend seine eigenen Worten, um den Inhalt ins Bild zu rahmen:

Zitat von Gussarow
„Ich bin glücklich, dass ich trotz meines liederlichen Lebens in der Nähe der Historie „herumgetorkelt“ bin, wenn auch nicht in ihrer lichtesten Periode.“



Gussarows Aufzeichnungen sind ein Werk, das mich aufgrund seines Themas interessiert hat, das sich aber durchaus auch literarisch und im Erzählstil bewährt hat.


(Alle Zitate stammen aus: Wladimir Gussarow "Mein Vater der Bonze", Ullstein Verlag - Kontinent)




Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 13.04.2012 14:41 | nach oben springen

#3

RE: Literatur im Samisdat

in An der Literatur orientierte Gedanken 13.04.2012 19:09
von Patmöser • 1.121 Beiträge

Danke für diese außerordentlich interessanten, literarischen Ansichten, Taxinchen. Habe das wirklich mit Gewinn gelesen!
Diese Folge erweitert und noch etwas präzisiert, das könnte ich mir auch in Buchform gut vorstellen.

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#4

RE: Literatur im Samisdat

in An der Literatur orientierte Gedanken 13.04.2012 22:46
von LX.C • 2.821 Beiträge

Ja wirklich, auch von mir herzlichen Dank für diesen literaturhistorischen Exkurs. Aber was bedeutet "Samisdat" genau? Ich könnte sicher nachschauen, aber ich schaue lieber hier Viele Werke wurden ja auch erst während der Perestroika in Russland veröffentlicht. Da war so manch Autor schon nicht mehr auf dieser Welt.

"Vielleicht liegt in ihrer Ewigkeit und Unveränderlichkeit nicht ihrer Kraft, sondern ihre Schwäche? Vielleicht liegt darin der Verrat der Kunst am Menschen, der sie schuf?" (Grossman: Alles fließt, Albrecht Knaus 1985, S. 64.)

Man muss es wohl umkehren (ob Gemälde oder Literatur). Genau darin liegt die Kraft der Kunst, dass sie den Menschen, der kein Gehör findet, wenn ihre Stimme laut genug ist, überdauert und für ihn in die Ewigkeit spricht. Na ja, zumindest für eine kleine Menschenewigkeit.


--------------
[i]Poka![/i]

zuletzt bearbeitet 13.04.2012 22:47 | nach oben springen

#5

RE: Literatur im Samisdat

in An der Literatur orientierte Gedanken 14.04.2012 12:55
von Taxine • Admin | 6.678 Beiträge

Zitat von LX.C
Aber was bedeutet "Samisdat" genau?


Samisdat heißt eigentlich nur Selbstverlag. Es beinhaltet also Manuskripte, die selbst herausgegeben, abgeschrieben, weitergereicht wurden. Im Samisdat kursierten auch nicht nur kritische russische Werke, sondern ebenso ausländische wie die von Koestler, Orwell, Camus, Sartre und so weiter. Dazu auch die, die nach dem Tod der jeweiligen Schriftsteller, durch mutige Menschen versteckt und bewahrt wurden, darunter z. B. Werke von Babel, Mandelstam, Boris Pilnjak, Bulgakow und andere. Werke im Samisdat standen der öffentlich gestatteten Literatur nicht nur in ihrem Verbot und ihrer Kritik (oder was alles schon als kritisch galt) gegenüber, sondern auch in ihrer Experimentierfreude, im Lösen von erlaubten Stilmustern, Spracherneuerung und ähnlichem. So auch z. B. die bereits hier vorgestellten Werke von Platonow oder der wunderbare Andrej Bitow mit seinem "Puschkinhaus". Andere suchten mit verfremdenden Mitteln Kritik zu üben, wie z. B. die Brüder Strugazki, die sich dem Science Fiction Genre bedienten.




Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 14.04.2012 14:14 | nach oben springen

#6

RE: Literatur im Samisdat

in An der Literatur orientierte Gedanken 14.04.2012 14:34
von Patmöser • 1.121 Beiträge

Dann wäre die Literatur des Samisdat doch eigentlich ein nie versiegender Brunnen an literarischen Köstlichkeiten!
So wurden dann Isaak Babel, unter vielen anderen, wenigsten noch eine gewisse Ehre und Genugtuung zuteil und vor allem - sie werden vor dem Vergessen bewahrt. Das ist dann schon sehr tröstlich...
Kennt jemand hier Platonows Kutschervorstadt?

zuletzt bearbeitet 14.04.2012 14:35 | nach oben springen

#7

RE: Literatur im Samisdat

in An der Literatur orientierte Gedanken 14.04.2012 17:12
von Taxine • Admin | 6.678 Beiträge

Zitat von Patmöser
Dann wäre die Literatur des Samisdat doch eigentlich ein nie versiegender Brunnen an literarischen Köstlichkeiten!



Ja, das war und bleibt sie. Gerade solche Schriftsteller wie Grossman, dessen Manuskript "Alles fließt" zunächst vom KGB beschlagnahmt wurde, so dass er das gesamte Werk noch einmal rekonstruieren musste (wenn man bedenkt, was da alles verloren ging), oder Babel mit seiner Reiterarmee, die wunderschönen Gedichte von Mandelstam oder der Zwetajewa konnten im Samisdat bewahrt bleiben und sicherlich werden auch noch einige weitere Unbekannte ins Licht rücken. Andere Manuskripte wurden anonym herausgegeben oder sind unter Pseudonymen erschienen. Davon etliche, die leider noch nicht ins Deutsche übersetzt wurden. Auch liegen sicherlich viele Manuskripte noch in den Kellern staatlicher Verwaltung und stauben dort unentdeckt vor sich hin. Viele, zu viele Werke sind auch ganz und gar vernichtet worden.

Zitat von Patmos
Kennt jemand hier Platonows Kutschervorstadt?


Von Platanow habe ich nur noch den Erzählsammelband "Schöne, grimmige Welt". Weißt du zufällig, Patmos, in welchem Band "Die Baugrube" enthalten ist?


Weiteres zu "Literatur im Samisdat":

Die öffentlich gestattete Literatur durfte auch Themen wie Tod, Rausch, Sexualität oder die Marktlage und Verteuerung der Produkte nicht erwähnen. Der Tod war ein Akt gegen den Staat, man entzog sich seiner bürgerlichen sozialistischen Pflicht, wie es überspitzt in so manchen Werken heißt. Platonow schrieb: Der Mensch würde nicht nur in Angst und Schrecken leben, sondern sogar Angst haben zu sterben, "weil er fürchtet, man werde ihm seinen Tod als konterrevolutionären Akt auslegen". Sex war ein Tabuthema, die Auseinandersetzung in der Literatur mit Sex, Drogen, Verfall wurde als westlicher Einfluss ausgelegt und war daher verboten. Das Problem des Alkoholismus durfte nicht vertieft werden, daher ist auch Wenedikt Jerofejews Poem "Reise nach Petuschki" ein Samisdatwerk.

Kein Wunder, dass gerade die Satire aus solchen Bedingungen heraushalf und einen gewissen Trost ermöglichte. Sowohl in Witzen über Lenin, Stalin, Chruschtschow, den Kommunismus oder über Marx wurde das sowjetische Leben verarbeitet, als auch in Romanen und Erzählungen.

Wenn die Zensur auch im herkömmlichen Sinne „nicht existierte“, war ein Werk immer bereits zweimal die Zensur durchlaufen, wenn es bereit für eine Veröffentlichung war. Zunächst ging es durch die Selbstzensur, dann durch die Vorzensur der Redakteure, um in der endgültigen Herausgabe noch einmal überflogen und gestrichen zu werden. Die Selbstzensur ist ein sehr wichtiges Phänomen, zumal die meisten Schriftsteller im Kreislauf der sowjetischen Entwicklung agierten, von diesem System erzogen wurden und auch fest verwurzelte Gewohnheiten und Denkklischees vertraten, von denen sie nicht wussten, dass sie Klischees waren. Hinzu kam die Furcht, zu wissen, dass bestimmte Aussagen nicht nur die Veröffentlichung verhinderten, sondern auch Bestrafung mit sich brachten.

Selbst bei den Werken im Samisdat war Selbstzensur (absichtlich und unabsichtlich) unumgänglich. Schon beim Schreiben und dann beim Weitereichen des „fragwürdigen“ Manuskripts musste sich der Verfasser damit auseinandersetzen, mit welchem Strafmaß er rechnen musste, oder was passieren konnte, wenn das Manuskript gefunden wurde. Er konnte dabei auch nicht nur die ihn betreffenden Konsequenzen in Betracht ziehen, sondern musste auch an all die Menschen denken, die sein Manuskript für ihn bewahrten. Dass der Prozess des Schreibens daher für die meisten entweder eine Art Erlösung war, sich von den Ängsten zu befreien und dennoch auszusprechen, was gesagt werden muss, oder ein Akt der Unfreiheit, bei dem ständig abgewogen werden musste, was gesagt oder nicht gesagt werden darf, was vielleicht dann doch besser unausgesprochen blieb oder doch wenigstens abzumildern sei, muss nicht extra betont werden.
Schreiben war ein Kampf, sowohl für die Menschenrechte, für das Gehörtwerden, für das Aufdecken der Probleme, ein Kampf gegen die Lüge und die Propagandamaschine, auch eine ständige Auseinandersetzung mit sich selbst und seinen Möglichkeiten, samt Überwindung oder Ablehnung. Schreiben erforderte einen unglaublichen Mut, war gleichzusetzen mit dem Kämpfer auf einem Schlachtfeld, der sein Leben setzte, denn auch hier ging es um Existenzen und Leben. Wie viele wagen schon, etwas anzusprechen, wenn sie genau wissen, welche Konsequenzen daraus entstehen, welchen Gefahren sie sich und andere aussetzen. Dass dennoch der Mut nie versackte, immer neue Werke im Samisdat kreisten und ihren künstlerischen und literarischen Wert verbesserten, aus dem einfachen Aufdecken der Umstände und Tatsachen, der Kritik und den wichtigen autobiografischen Berichten auch in Experimente und Wagnisse fanden, verdient meine ganze Bewunderung.




Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 14.04.2012 18:37 | nach oben springen

#8

RE: Literatur im Samisdat

in An der Literatur orientierte Gedanken 14.04.2012 19:02
von Patmöser • 1.121 Beiträge

Zitat von Taxine

Zitat von Patmöser

Kennt jemand hier Platonows Kutschervorstadt?


Von Platanow habe ich nur noch den Erzählsammelband "Schöne, grimmige Welt". Weißt du zufällig, Patmos, in welchem Band "Die Baugrube" enthalten ist?




Verstehe ich jetzt nicht, wie du das meinst, Taxinchen.
Ich kenne die Baugrube nur als Roman, also für sich, nicht aus Sammel oder Erzählerbänden.

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#9

RE: Literatur im Samisdat

in An der Literatur orientierte Gedanken 14.04.2012 21:28
von Taxine • Admin | 6.678 Beiträge

Ja, so war es mir auch noch in Erinnerung. Allerdings ist das Werk einzeln nicht mehr aufzutreiben.
Ich dachte daher, es sei vielleicht in einen der Erzählbände untergebracht, ähnlich wie Dshan oder so.
Welche Ausgabe hast du von "Die Baugrube"?




Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 14.04.2012 21:29 | nach oben springen

#10

RE: Literatur im Samisdat

in An der Literatur orientierte Gedanken 14.04.2012 21:57
von Patmöser • 1.121 Beiträge

Ich selbst besitze diesen Roman nicht. Der steht, neben den Epiphaner Schleusen (eine vierbändige Ausgabe), in einem der untersten Regale in meinem Stammantiquariat.
Die Kutschervorstadt könnte ich von einer, in die russische Literatur verliebten, Dame bekommen, aber nur ausgeliehen und ausgeliehene Bücher mag ich nicht, mochte ich noch nie...

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#11

RE: Literatur im Samisdat

in An der Literatur orientierte Gedanken 09.05.2012 16:54
von Taxine • Admin | 6.678 Beiträge

Ich konnte eine Ausgabe von Platonow erwerben, in der drei Romane enthalten sind. "Die Baugrube", "Der Takyr" und "Das Volk Dshan". Da habe ich mich sehr gefreut.


Weiter im Samisdat.
Hier nun ein Blick auf Viktor Nekrassow:

Erste Schrift:
"Zu beiden Seiten der Mauer"

Ich wollte von der guten Literatur sprechen, nicht von Leuten, die sich darin gut eingerichtet hatten. Nun, jetzt weiß ich es besser, das nächste Mal erzähle ich auch von diesen Funktionären, die keiner liest…

Nekrassow ist der Schriftsteller von „Stalingrad“, einem hoch gelobten Roman, für den er den Stalinpreis erhielt. Ob man diesen nun gelesen haben muss, spielt hier keine Rolle. Die Literatur, die öffentlich erlaubt war, kann nicht frei berichten, nicht sagen, was Sache ist. Sie kann nur im Rahmen der Möglichkeiten agieren. Das hat der Samisdat gezeigt. Nekrassow war Frontoffizier und nahm 1942 an der Schlacht um Stalingrad teil. Danach arbeitete er nicht nur als Schriftsteller, sondern auch als Regisseur (Film „Soldaten“), Schauspieler, Architekt und Journalist. Bald wurde er schief angesehen, da er Reiseberichte verfasste, die kritisch beurteilt wurden. Er durfte in den Fünfzigern ins Ausland reisen und berichtete nicht im Sinne der Partei. Aus dieser wurde er bald ausgeschlossen, durfte das Land verlassen und emigrierte nach Frankreich.

Nekrassow berichtet in seiner ersten Schrift für "Kontinent" als eine Stimme, die mit sich selbst spricht, die endlich sagen kann, was sie sagen möchte, frei und unabhängig und keinesfalls belehrend, von seinen Reisen außerhalb der Sowjetunion. Er lehnt für sich selbst als Schreibender ab, dass der sowjetische Leser von ihm erwarten darf, dass er den Kapitalismus verurteilt, dass er sagt, dass im Ausland und gefürchteten Westen alles schlechter ist, dass er sich literarisch auf die Suche nach einem Menschen macht, der unter der Brücke schläft (was er letzten Endes dann doch tut), während in der Sowjetunion doch immer alles gut ist, genauso schön wie im Ausland, wie es in einer der vielen Phrasen heißt. „Die haben den Louvre, aber wir haben die Eremitage!“, heißt es in der Propaganda. Ja, sagt Nekrassow. Aber es ist doch etwas anderes, wenn man in Paris sitzt oder durch Berlin streift oder in der Wildnis Spaniens unterwegs ist. Es ist etwas anderes, wenn man das Land verlässt und die Entscheidung treffen kann, zu reisen, wenn es einem beliebt.

In Berlin trifft Nekrassow auf die Trennung, die Mauer, die sich nicht nur über Landschaften, sondern auch über Seen, Wälder und Brücken erstreckt. Eine dieser Brücken heißt unsinniger Weise „Brücke der Einheit“.
Dagegen erinnert er sich an Berlin, als er 1948 dort direkt nach dem Krieg war, dass man damals noch durch die Reichskanzlei streifen konnte, durch die Empfangsräume und Gänge, sogar durch Hitlers Arbeitszimmer. „Jeder Soldat träumte davon, Berlin zu erreichen und auf Hitlers Schreibtisch seine Notdurft zu verrichten.“
Hier war Berlin noch eine Stadt. Man konnte von einem Ende zum anderen fahren, auch wenn alles stark zerstört war. Die Stadt war keine geteilte, an deren Mauer Kreuze prangen – Grabstätten all derer, die durch eine Kugel eines Grenzsoldaten oder einer Salve aus einer automatischen Selbstschussanlage zu Tode kamen, all das in einem Museum dokumentarisch festgehalten. Ebenso Fotografien, auf denen die Menschen die Flucht wagen. Ein Vater, der seinen Sohn mittels eines Flaschenzugs aus dem sechsten Stockwerk eines Wohnhauses über die Mauer schaffen möchte, ein Grenzsoldat, der einen kleinen Jungen durch den Stacheldraht lässt, damit es zu seinen Eltern auf der anderen Seite kann, während die Vorgesetzten auf das Kind schießen, ein zu niedriges Fluchtauto, das unter dem Schlagbaum hindurchpasst und dem die Flucht gelingt, woraufhin die Schlagbäume geändert werden müssen.
„In den siebzehn Jahren seit Bestehen der Mauer – seit August 1961 – sind 175287 Menschen unter Lebensgefahr aus Ost-Berlin geflohen“, erzählt Nekrassow. Das waren die sogenannten Anfänge der DDR.
„Die Mauer setzt sich unbarmherzig über alles hinweg. Teilt Häuser, Anwesen, Grundstücke. Die westliche Seite eines Hauses ist erhalten, die östliche zerstört.“
So ist auch der Titel dieses Buches entstanden. Aber die Mauer reicht natürlich auch weiter… („Früher hieß sie Eiserner Vorhang – in sowjetischer Leseart immer in Anführungsstrichen und mit dem Zusatz „angeblich“. Heute ist sie eine einhundertfünfundsechzig Kilometer lange Realität. Mitten in Europa, direkt in seinem Herzen.“)

Daraufhin kommt Nekrassow auf seine eigenen Schwierigkeiten zurück. Als er von der Reise aus Italien und Amerika zurückkehrte, schrieb er das Buch „Auf beiden Seiten des Ozeans“ und legte sich mit Chruschtschow und seinen Helfershelfern an. Niemand, so Nekrassow, brauchte dort Gegenüberstellungen. „Was man braucht, sind Enthüllungen, Bloßstellungen.“ Hier kann man sich den Berichtserstatter Nekrassow wunderbar vorstellen, der objektiv berichten möchte und dann einsehen muss, dass in der Sowjetunion kein Mensch die Wahrheit braucht. Alles, was benötigt wird, ist die Bestätigung dessen, was propagandiert wird.
Nekrassow versucht sich dennoch klar über die verschiedenen Länder zu werden, ihrer Möglichkeiten und Lebensumstände, lobt die Architektur und Landschaften, vergleicht das Fernsehen, Kneipen, Hochhäuser. Er greift weder den Kapitalismus noch die Politik an, er stellt die Länder einander gegenüber und muss dafür in Kauf nehmen, von den sowjetischen Kritikern als inkompetent bezeichnet zu werden.

Wie also ergeht es ihm nun, in der Freiheit? Im Westen? Das fragt sich Nekrassow selbst. Hier macht er Reisen, kann lesen, was er will, kann essen, wonach ihm ist. In Moskau gab es Wurst, so der Autor, die verweigerten sogar die Katzen, in Frankreich kann man kauen und kauen und sie schmecken nach nichts, in Deutschland und anderen Ländern schmeckt sie großartig oder man kann sie in Delikatessläden kaufen. Auch erinnert er sich, wie er, als er noch sowjetischer Schriftsteller war, versuchte, sein Land zu verteidigen:

Zitat von Nekrassow
„Mit Schmunzeln denke ich heute daran, wie ich Ende 1962 mit dem druckfrischen „Iwan Denissowitsch“ unterm Arm in Paris eintraf (…)und wie ich von der Bühne des russischen Nachtklubs „Dschar Ptiza“ (Feuervogel) hinab damit prahlte, was für Bücher man bei uns jetzt herausgibt! In der Manege neben dem Kreml in Moskau hingen auf einer Ausstellung sogar abstrakte Bilder, und die Besucher debattierten gleich am Ort, unter diesen Bildern, ruhig und unbefangen über sie. Am nächsten Morgen erfuhr ich allerdings, dass Chruschtschow der Sache schon ein Ende bereitet hatte, aber es war eben am nächsten Morgen; am Vorabend hatte ich von der Bühne hinab heiter und überzeugt gesprochen.“



Nekrassow lässt seinen Blick auch auf den Krieg zurückgleiten, auf seine Kameraden, Freundschaften, auf diejenigen, die verschwunden sind, auf die Propaganda unter Breschnew, auf das für ihn auf immer verschwundene Kiew, in dem er aufgewachsen ist, samt seiner Veränderungen und Menschen, die er nie wieder erblicken wird. Weiter blickt er auf Postkarten von der Schweiz. Auf Erinnerungen an Genf und die vielen überteuerten Uhren.
… ich habe mich in den drei Jahren weiß Gott einigermaßen, an Schaufenster gewöhnt, aber hier bleibt mir buchstäblich das Maul offenstehen.

Dann wendet er sich den russischen und wirklich russischen Schriftstellern zu. Von solchen wie Valentin Rasputin oder Mark Aldanow hat er erst im Ausland gehört und kann sich nicht genug wundern, wie gut sie schreiben. Auch lobt er das Gefängnistagebuch von Kusnezow (das hier auch bald vorgestellt werden wird). Er sagt so schön, dass er sich in solchen Momenten, wenn er über Ränder nachdenkt, die nicht gut gesetzt sind oder sich ärgert, weil jemand im Flur zu laut telefoniert an die Umstände denkt, unter den Kusnezow geschrieben hat, dessen Humor ihm durch die Zeilen und Lagerzeit geholfen hat. „In solchen Lagen ist es gut, Kusnezows zu gedenken.“

Bei Nekrassows Versuchen, den Kapitalismus zu durchschauen und ihn der sowjetischen Propaganda gegenüberzustellen, fällt dann doch seine Unsicherheit auf. Er räumt hie und da ein, dass es verdummende Massenliteratur gibt, betont aber auch, dass bei seiner Ankunft in Paris oder London von etlichen Menschen „Der Gulag“ gelesen wurde. All das erscheint etwas übertrieben, zumindest für mich. Nekrassow versucht damit, den Kapitalismus zu rechtfertigen, in dem sich die Menschen für alles interessieren und frei entscheiden können, was sie wollen und lesen können. Dabei handelt es sich wohl um genau dieses Schwanken, in das jeder gut erzogene Sowjetbürger gerät, der mit dieser Propagandamaschinerie aufgewachsen ist und sich erst langsam von dieser gelöst hat, weil die tatsächlichen Bedingungen nicht mit den über Jahre eingetrichterten Gefahren übereinstimmen.

Was ihm am Westen nicht behagt, sind die laufenden Streiks der Arbeiter und Gewerkschaften. Für Nekrassow ist ein Streik nur aus Solidarität gerechtfertigt, diese Arbeiter aber streiken für einen volleren Magen. Er vergleicht die Gehälter und stellt sie den sowjetischen gegenüber, sieht nicht ein, dass die Menschen aus solchen Belanglosigkeiten anderen Menschen Probleme bereiten, die auf die Arbeit dieser Streikenden (als der üblich reibungslose Verlauf) angewiesen sind. Hier redet der Kommunist in Nekrassow, den er in anderen belächelt. Besonders schön ist seine Empörung, wenn er sich ausmalt, wofür diese Leute streiken. Für ihre Rechte. „ Für das Recht, einen neuen Wagen zu kaufen (der alte hat schon 70 000 auf dem Tacho), oder eine Jacht (die Kinder sind groß geworden, lassen nicht locker)…“ usw. Er übertreibt also gewaltig in seiner Fantasie. (Vielleicht vergleicht er nur die Gehälter, nicht die hohen Preise und steigenden Mieten. Er sieht also nur, dass in Frankreich die Löhne weitaus höher als in der Sowjetunion sind, allerdings nicht, dass auch das Leben und der Unterhalt mehr kostet. Eine eigenartige Blindheit…)

Auch hat Nekrassow politisch nicht unbedingt immer den Durchblick, äußert sich aber unbefangen über die Ereignisse und gibt seine ironische Meinung dazu kund. Das erscheint mir persönlich, als Leser solcher Schriften, immer etwas unpassend, wenn sich Menschen zu Umständen äußern, die sie nicht richtig durchschauen, bei denen sie einfach die Zeitungen nachplappern und zu ihren Gunsten verfälschen, als würde das schon genügen. Daher wirkt auch seine Ironie hin und wieder verfehlt. Die gefährliche Arbeitslosigkeit in kapitalistischen Ländern belächelt Nekrassow gleichfalls, allerdings anders, als man erwartet. Statt sich diesem Thema ernst zu widmen, lacht er die Arbeitslosen aus, die ja immerhin noch 75 Prozent ihres alten Gehaltes erhalten*, erklärt, dass die Frauen sich feuern lassen, um dieses Geld zu kassieren – man nimmt, was man kriegt – und scheut sich in seiner Fantasie auch nicht davor, über die Hochschulabsolventen herzuziehen, die es wagen, Arbeit in der Nähe oder doch zumindest in Frankreich finden zu wollen. Für ihn wäre es sinnvoll, wenn sie nach Senegal oder Tschad gehen, wo ihre Arbeit gebraucht wird. Er wirft ihnen vor, dass sie dort nicht hinwollen, da es ihnen zu heiß und zu weit weg ist. (Da frage ich mich doch leise: wieso geht er nicht selbst?)
Kurz: was Nekrassow versucht zu kritisieren, ist bei den Haaren herangezogen. Er vergleicht nicht die westlichen Probleme und den Kapitalismus mit den sowjetischen Schreckgespenstern, sondern wagt eine ganz eigene verworrene Ansicht über die Dinge. (* Bei der Arbeitslosigkeit und seinen absurden Beispielen nimmt er sich die Arbeitslosigkeit eines… Achtung: Ingenieurs als Zeugnis für alle Arbeitslosen, um an ihm zu beweisen, dass die Arbeitslosigkeit im Westen gar nicht so tragisch ist, denn dieser ist es eben, der noch ein Jahr lang Zweidrittel seines Gehalts erhält, weshalb Nekrassow von ihm auf alle schließt.) Er verkehrt also die Bedingungen, um die gleichfalls übertriebene These sowjetischer Propaganda bloßzustellen. Doch er versucht es durch schlechte und überzogene Beispiele, was einer Lüge gleichkommt.
Er versucht damit zu zeigen, dass der Sozialismus nicht möglich ist, schon gar nicht in seiner „reifen Form“. Er verurteilt den Westen, dass er immer noch glaubt, sich mit der Sowjetunion arrangieren zu können.

Natürlich wird ein Mensch, der aus einem Land kommt, in dem Willkür und Verbrechen Alltag sind, in dem etliche Menschen erschossen wurden oder ganz einfach wie vom Erdboden verschwanden, in dem Kriegsrückkehrer als Verbrecher angesehen wurden, in dem man in der eigenen, engen Einzimmerwohnung, die man sich noch mit drei anderen Menschen teilt (später auch mehr zu der sogenannten "Kommunalka" - der unter Stalin eingeführten Gemeinschaftswohnung), nicht laut über gewisse Dinge reden kann, die benannten Probleme des Westens etwas empfindungsloser betrachten. Menschen, die gewohnt sind, dass man für nichts ins Gefängnis gesperrt wird, werden sich wohl kaum darüber aufregen, dass man in Frankreich Steuern zahlen muss.
Nekrassow sieht zwar die Rechtsbrüche, aber es überwiegt für ihn das Vorhandensein von Recht. Er erkennt die Freiheit, sagen zu dürfen, was er möchte, ohne Gefahr zu laufen, eingesperrt zu werden oder sich vor Spitzeln zu fürchten. Das wiegt höher als Rassismus, Rauschgiftprobleme und Terrorgefahr. Die Gefahr des Westens, dass man unter der Brücke landet, zeigt sich ebenfalls als die Freiheit, unter einer Brücke sterben zu können. (Für Nekrassow zeigt sich das dann allerdings stark romantisiert, als ein Sitzen auf einer Bank, während man den Louvre im Rücken hat, eine Zigarette raucht und das Herz stehen bleibt…) Allerdings verzeiht man ihm diese Vorstellung auch wieder, als einen Menschen, der ständig in der Sowjetunion gefragt wurde, weshalb er immer wieder erneut ins Ausland wollte, ob ihm Russland nicht genügen würde. Für so einen Mensch eröffnet sich die Welt in aller Freiheit und nur langsam schafft auch ein Nekrassow es, diese künstlich geschaffene „Welt voller Feinde“ Stück für Stück abzuwerfen, und bis er es schafft, dauert es, ist dann aber eine konsequente Entscheidung.

Am besten hat mir Nekrassows Reise nach und durch Spanien und Katalonien gefallen, die in „Ansichten und etwas mehr“ vertieft wird. Dort berichtet er von einem verlassenen Friedhof, auf deren Steinen festgehalten steht, wie die Menschen umkamen, unter anderem durch den Tritt eines Pferdes. Auch durchstreift er die Museen und schwelgt in der Kunst des Prados.
Nekrassow ist ein hervorragender Erzähler. Seine Gedanken, Erinnerungen, Geschichten zeigen einen ernsten Menschen, der es versteht, seine inneren Bilder für den Leser lebendig zu machen. Seine Schlussgedanken sind der intensive Ausdruck seiner Wünsche, denen nichts hinzuzufügen ist und die ich, als Leser, sehr genossen habe.




Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 09.05.2012 17:16 | nach oben springen

#12

RE: Literatur im Samisdat

in An der Literatur orientierte Gedanken 17.05.2012 20:23
von Taxine • Admin | 6.678 Beiträge

Viktor Nekrassow

Ansichten und etwas mehr


In „Ansichten und etwas mehr“ knüpft Nekrassow an „Zu beiden Seiten der Mauer“ an. Dieses Werk erscheint mir wesentlich ausgefeilter, anspruchsvoller, ernster, auch von einem reiferen Menschen geschrieben, der Zeit hatte, alles in Ruhe zu durchdenken. Sein Ton ist gemächlicher, tiefsinniger, zärtlicher in der Betrachtung der Menschen. An anderer Stelle, dort, wo es sinnvoll ist, auch lauter und wütender, wo er zuvor noch etwas herumgedruckst hat und die Dinge nicht richtig beim Namen nannte. Hier nun blickt er auf die Sowjetunion mit klarem Verstand und deutet genauer auf all das, was geschehen ist, erzählt auch ganz genau, wie er überhaupt Kommunist wurde und der Partei beitrat.

Nekrassow beginnt mit seinem wunderschön beschriebenen Aufenthalt in Spanien, durchdenkt die Frage, für wen er schreibt (nicht für den Westen, sondern für die Russen, die wissen sollen, wie er denkt und was er im Westen erlebt, dennoch kommt er immer wieder auf die Sowjetunion und seine eigenen Erlebnisse zurück, was wiederum schön für den Leser ist) und erlebt seinen ersten Stierkampf.

Zitat von Nekrassow
„Es ist der Kampf zwischen zwei ungleichen Gegnern. Der Stier ist zwar größer, stärker, gefährlicher, ein einziger Stoß seines Hornes kann tödlich sein, doch er ist – man verzeihe mir diese lakonische Feststellung – ganz einfach dumm. Er geht an seiner eigenen Dummheit zugrunde, nicht so sehr, weil man ihn vorher zuschanden gehetzt hat. (…) Der Matador aber bewegt sich die ganze Zeit über am Rande des Todes.“



Dann macht er sich an das Erzählen, von all dem, was er erlebt hat. Sein Bericht über die Menschen, die in die Lager kamen, von seinem Ausschluss aus der kommunistischen Partei, wie er erfolgte, sein Blick auf verschiedene Schriftsteller und Dichter, die keine Courage hatten, sondern sich entweder drückten oder ihre Kunst dem Staat verschrieben, wodurch sie keine Kunst mehr war, ist ausführlicher, als in seinem vorangegangenen Werk. Der Ausschluss erfolgte aufgrund seines Werkes „Zu beiden Seiten des Ozeans“. Chruschtschow fand daran keinen Gefallen, Nekrassow wurde gerügt. Der Stalinpreisträger muss sich dann noch weitere Rügen gefallen lassen und ist unglaublich dankbar dafür, dass es bei ihm bei der Rüge belassen wurde. Als er seine Abgaben zu spät bezahlt, ist das Urteil endgültig. Verschiedene Redner treten vor und sind sich alle einig, dass er zu gehen hat und auf seinem Werk „In den Schützengräben Stalingrads“ sitzen bleibt. Auch ist Nekrassow sehr selbstkritisch und geht mit sich selbst ins Gericht:

Zitat von Nekrassow
„Ich bin reinen Herzens und mit reiner Seele in die Partei eingetreten. Ich habe vertraut, genauer, ihr blind geglaubt. Später versuchte ich, mich selbst irgendwie zu überzeugen. Ich dachte, es gibt wahre und falsche Kommunisten, mich selbst zählte ich zu den wahren. Ich wollte auch die anderen überzeugen. Aber man hat mir die Überzeugung genommen.
(…) Ich habe all das an mir selbst erfahren, kenne das alles. Die Fäulnis. Den Betrug. Ich darf darüber reden, als der Betrogene, der darunter gelitten hat. Von einem gewissen Augenblick an war ich ein Beteiligter, der nicht immer „dafür“ stimmte aber auch nicht „dagegen“.



Was besonders schön an Nekrassows Eindrucks-Gedanken-Büchern ist, ist diese Mischung aus Rückblick, Überlegung, Ansichten, Erinnerung, Gegenwart, seine Betrachtung der Menschen oder Länder, in denen er sich aufhält, darunter neben Spanien auch Norwegen oder Frankreich, genauer Paris, wo Nekrassow lebt.

„Aber jetzt sind wir in Paris. Sie ist wahrhaftig eine Messe wert, diese Hure. Bei Gott, das ist sie. Und sei mir nicht böse, Freund, wegen dieses Bonmots, das sich mir plötzlich aufdrängte, obwohl es schwerlich so von Henri IV. stammen dürfte, aber im Mund eines meiner Freunde (…) klang es so treffend und überhaupt nicht vulgär, dass ich eine Minute lang überlegte, ob ich nicht meine Aufzeichnungen so nennen sollte.“

Der Blick ist also nicht ausschließlich auf die Vergangenheit gerichtet und damit kritisch und zum Teil auch bitter, sondern überblickt ein Gesamtes voller Momente und auch Kleinigkeiten, wenn er u. a. von seiner Freude berichtet, Pakete zu packen und die Gaben des Westens in die Sowjetunion zu verschicken. Mit viel Humor macht er sich über das „fette Frankreich“ und die böse, böse Konsumgesellschaft lustig.
Und dann wiederum erzählt er von den Boulevards, den Flohmärkten und den Bücherläden in Paris. Da sein Französisch schwach ist, beschränkt er sich auf Bild- und Kunstbände, aber, so ruft er aus, was für eine Pracht und Überfülle alleine hier. Paris bei Nacht, bei Tag, das alte Paris, Paris aus der Luft. Andere Städte. Und die Kunst in Bänden so schwer, dass man sie kaum vom Boden aufheben kann. Ja, sagt Nekrassow, das schickt sich nicht, wie ein Tourist aus der Sowjetunion zu kommen und zu kaufen und zu kaufen. Gerade darum tut er es. „Ich selbst falle mir in den Arm: Du darfst nicht! Du darfst nicht!... und bin schon an der Kasse.“

Immer wieder dringt durch Nekrassows Worten und Beschreibungen auch der Wunsch hindurch, den Westen für Russen schmackhaft zu machen. „Kommt her, ich führe euch herum“, sagt er und bringt Beispiele über Beispiele, gegen die Propagandamaschine anzureden. Er erzählt von den Cafés, sitzt dort, wo Sartre und Beauvoir saßen, durchstreift die Stadt, bedauert die Veränderungen:
„Man vernichtet, alte Häuser werden abgetragen, es gibt keinen „Bauch von Paris“ mehr – Les Halles -, stattdessen nur noch ein riesiges Loch, und niemand weiß bis zum heutigen Tage, womit es gestopft werden soll…“
Aber sagen will er:
„Den Geist der Freiheit. Das ist es, was du in Paris atmest.“

Auch erörtert Nekrassow ausführlich jenes Angebot, das in Paris auch als Zeichen der Freiheit gilt. Sexshops, Pornokinos, das gepredigte Böse. Nekrassow aber weist darauf hin, dass dies natürlich existiert, dass aber hineingehen kann wer will, und wer es nicht will, der geht eben nicht. Das ist der Vorteil der Freiheit. Filme von Pasolini findet er unerträglicher als Pornofilme, dennoch fragt er auch, weshalb man sie, bloß weil sie bestimmte Szenen enthalten, die über die Grenze des Ertragens hinausreichen mögen, verbieten sollte. Für ihn ist ein kapitalistisches Land, das zwar seine Menschen auch ausbeutet, ihnen aber gleichzeitig ermöglicht, ein Auto zu fahren und ein Haus zu bauen immer noch lieber, als ein fingierter Sozialismus. „Ich bin für die Freiheit. Und nichts weiter.“, ruft er aus.

Drei seiner Freunde betrachtet er näher, erzählt von ihrem Leben und ihrem Tod. Alle waren sie Säufer, wie Nekrassow auch von sich sagt, dass er dem Trunk nicht abgeneigt ist. Darüber kommt er auf den Alkoholismus in Russland zu sprechen, der dort besonders stark vertreten ist, der Tradition zu sein scheint, den Kummer ertränkt oder einfach die Seele belebt. Er reflektiert über diese Erscheinung, die er in Frankreich und anderen Ländern nicht vergleichbar findet. „Überhaupt dieses kluge Wort „Alkoholismus“ – für Russland besagt es gar nichts. Dort herrscht einfach eine allgemeine, seuchenartige Sauferei…“
In Russland ist der Handel mit Wodka eine der wichtigsten Haupteinnahmequellen der Regierung, so Nekrassow. „Und außerdem ist die im ganzen Volk verbreitete Sauferei das beste Mittel, die Gehirne zu vernebeln. Ein klares, nüchternes Gehirn ist das, was jene, die aus einem Volk von zweihundertfünfzig Millionen ein Volk von Robotern machen wollen, am meisten fürchten. Und in diesem Fall haben unsere Führer auf einmal beinahe etwas gemein mit ihrem Volk, das sich zwar weigert, zu Robotern zu werden, aber jedem nüchternen Menschen, der nicht trinkt, mit äußerstem Misstrauen begegnet.“

Wie der Roman idyllisch in Spanien beginnt, so endet er in Frankreich und Paris, mit einem liebevollen Blick Nekrassows auf diese Stadt und die Franzosen. Nekrassow besucht auch das Museum Pompidou und wundert sich über die Moderne. Er gesteht ein, dass er mit seinen sechzig Jahren keinen Zugang findet und ein Bewunderer der „Peredwischniki“ bleibt. Ihm fehlt das einfache Leben, das in den Bildern der russischen Realisten noch zu spüren ist.
Die französische Sprache aber liebt er, auch wenn er sie nicht beherrscht. Er schätzt keine Diners, die für ihn nur Zwang und Anstandsform sind, liebt aber die Cafés und die Jugend, die überall ihren Gefühlen Ausdruck verleiht, während er sie still für sich um diese Freiheit beneidet.

Auch eine Reise nach Israel bewegt Nekrassow tief und durch sie reflektiert er über den Antisemitismus in der Sowjetunion, den er nicht im Volk glaubt, sondern besonders stark beim Kleinbürger vertreten findet.

Zitat von Nekrassow
„Die wirklichen Antisemiten sind nicht die, die nach einem Gläschen Wodka behaupten: „Um Lewka mach dir keine Sorgen, der ist ja wendig wie ein Jud“, sondern die, die bei jenem berühmten Gläschen erklären: „Ich bin kein Antisemit, ich muss sogar sagen, dass wir in unserem Regiment einen Judenbengel hatten, der sehr tapfer war…“



Was er besonders dort in der Wüste verspürt, ist das Heilige, das Religiöse, die Anwesenheit von IHM, an den er doch nicht glaubt. Er freut sich über die vielen Menschen, die er dort antrifft, und die ihm so ähnlich sind.

In beiden Schriften Nekrassows, sowohl in „Zu beiden Seiten der Mauer“ als auch in der hier vorgestellten, erfährt der Leser ebenfalls eine Menge über die anderen Schriftsteller, die für „Kontinent“ und den Samisdat geschrieben haben, darüber hinaus auch über den Herausgeber, Wladimir Maximow, der all das möglich machte, während Nekrassow sich einige Male fragt, wie dieser das anstellt und woher er die Kraft und Energie nimmt. Auch Maximow wurde aus der Sowjetunion ausgewiesen, lebt nicht weit entfernt von Nekrassow in Paris.

Mit einem Zitat aus seinem Werk endet Nekrassow und zum Schluss auch mit einem Gedicht, dass aus der Feder eines noch sehr jungen Stalins stammt, dem ein georgischer Schriftsteller erklärt hatte, er hätte kein Talent.
„Und der junge Mann wählte und ging einen anderen Weg…“




Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 17.05.2012 20:32 | nach oben springen


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