HirngespinsteAustausch zwischen Literatur und Kunst |
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Die Zeit rennt, die Bücher liegen herum. Und dann liest man wieder viel oder wenig, von allem ein bisschen, meistens mit mehr oder weniger Enttäuschung. Ab und an ein Highlight dazwischen, wie z. B. in meiner Samisdat-Liste Andrej Sinjawski (alias Abram Terz) "Eine Stimme im Chor". Was für ein Mann. Was für eine Geduld. 5000 eng beschriebene Seiten schickte er im Laufe von sechs Jahren seiner Frau aus dem Lager. Briefverkehr war gestattet, die Seitenanzahl zum Glück nicht begrenzt. Verurteilt wurde er gemeinsam mit dem Dichter Juli Daniel 1965 (!!!), wegen angeblicher Verleumdung, Pornografie und Verrat von Staatsgeheimnissen. Grund war das im Ausland veröffentlichte Buch "Ljubimow".
Zu dieser Zeit waren die Verurteilungen schon lange nicht mehr so hoch angesetzt, war ja bereits das Tauwetter ... Sechs Jahre Aufzeichnungen, die nur darum nicht zensiert oder verboten wurden, weil Sinjawski sich mit Literatur, Kunst, Lebenssinn beschäftigt, weniger mit den Umständen selbst. Aber schreib mal über solche Sachen unter solchen Bedingungen.
Bekanntlich reduziert der Lageraufenthalt die Sinne nur auf Überlebenskampf und Essenssuche. Der Geist stumpft ab. Was hier durchschimmert sind neben Sinsjawskis Gedanken ab und an die Stimmen der Mitgefangenen (der Chor) als kurze Zitate, Wortverwechslungen, interessante Formulierungen, häufig auch witzig. Bewunderung und Anregung waren die Hauptgefühle, die ich beim Lesen des Buches empfand. Ich kenne auch sein Buch "Gute Nacht", wo er direkt über die Verhaftung und die Umstände berichtet. "Die Stimmen im Chor" sind sein philosphisches Geschenk aus einer Zeit, in der solche tiefsinnigen Gedanken eine wahre Kunst sind. Aber wie sagt er so schön:
„In diesem Sinne steht die Kunst immer außerhalb des gewöhnlichen Lebens, ist immer etwas Außergewöhnliches und folglich Überflüssiges. Man kann leicht darauf verzichten, sie ist eine Zugabe und liegt über dem Existenzminimum, sie ist Luxus, Schmuck, Grille, Souvenir, Nippes. Aber sie ist das Körnchen Überfluss, das das Leben dauerhaft macht.“
Ansonsten lese ich (mir selbst nicht ganz geheuer) einen nicht ganz so bekannten Klassiker der Nobelpreisliste, wobei es sich nun im wahrsten Sinne des Wortes um ein episches Werk handelt: Sigrid Undset "Kristin Lavranstocher" - alle drei Bände. Kann man lesen. Muss man aber nicht.
Zitat von Jatman1 im Beitrag März 2017
Ich möchte was von Oscar Wilde lesen. Was kann mir die hehre Schar der Belesenen ans Herz legen?
Würde ja gerne empfehlen, aber von ihm liegen bei mir nur die Briefe herum und selbst die sind noch nicht gelesen. "Das Bildnis des Dorian Gray" kennst du wahrscheinlich. Mehr ist mir leider nicht bekannt.
"Das Lied der Baba" hab' ich dagegen sofort rausgesucht. War schon mal vor einiger Zeit eine schöne Empfehlung von Lennie, wobei ich das Buch besorgt habe und dann kam, wie immer, etliches anderes Literarisches dazwischen. Aber Begeisterung steckt ja bekanntlich an. Und nun bin ich gespannt, wie es mir gefällt.
Art & Vibration
Ein wunderbares Zitat über Literatur. Und wahrscheinlich beschäftigte er sich gerade auch als Überlebensstrategie damit, um dem Leben gegenüber nicht gleichgültig zu werden und um nicht abzustumpfen; so könnte ich mir das denken.
Und irgendwie passt das mal wieder gut in die Schostakowitsch Thematik von Barnes, mit der ich mich nach wie vor befasse. Gegenüber Sinjawski scheint es bei ihm, als hätte er vorweg schon mit den Leben abgeschlossen. Er wartet zunächst Nacht für Nacht außerhalb seiner Wohnung im Hausflur am Aufzug darauf, vom Geheimdienst abgeholt zu werden. Hier handelte es sich allerdings um die 30er Jahre, 36, als Stalin also in "Hochform" war. Das Buch ist in einer wunderbaren Weise geschrieben, gedichtet, möchte man sagen. Trotz des Themas wird man wie auf einer Welle von Absatz zu Absatz getragen. (Also auch ein Kompliment an die Übersetzerin.) Und trotz der Veröffentlichung von 2016 hat man das Gefühl, das Buch ist zeitlos und könnte auch aus einer den "Kommunismus" noch betreffenden Zeit stammen. Leider muss ich mich nun nach einem Drittel mit Kafka beschäftigen (was nicht das Schlechteste ist, Das Schloss zieht einen geradewegs in seine verschlungene, undurchsichtige und auch düstere Welt hinein) und die Fortsetzung vertagen. Aber wie man schon herausliest, ist das eines der wenigen aktuellen Werke, die mich absolut überzeugen und das ich sehr gerne weiterempfehlen möchte. Übrigens mein erstes Buch von Barnes.
Meine Leserate nimmt übrigens auch stark ab. Aus Zeitgründen, möchte man denken und manchmal eben Ungeduld, sich mit fremden und dann meist auch noch fiktivem Leben auseinanderzusetzen, wo man doch das Eigene viel konsequenter in die Hand nehmen müsste. Aber wie schon aus dem Zitat herauszulesen ist, muss man es einfach nur zulassen, das "Körnchen Überfluss", denn gerade das reicht über die Endlichkeit des eigenen Lebens so unheimlich weit hinaus und ist so immer wieder eine erstaunliche Bereicherung. Daher müssen es inzwischen auch keine 40 Bücher mehr im Jahr sein. Vielmehr reichen mir 12 großartige vollkommen aus.
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[i]Poka![/i]
LX.C - für diese Worte einfach einmal eine Herz-Umarmung. Das trifft es. Es ist nicht mehr das reine Verschlingen an Büchern. Es ist mehr der Blick ins Buch, wenn der Moment stimmt, samt der Sehnsucht, aufs Neue gefesselt zu werden, geleitet, getragen ... Manche Schriftsteller/innen schaffen das noch. Bei mir z. B. immer wieder Nooteboom und seine Reisebücher. (Mein Vater ist gerade in Griechenland auf Besuch. Habe ihm das Buch direkt aus der Tasche weggelesen, hehe. )
Barnes mag ich auch sehr gerne. Was mir von ihm noch gefallen hat, so aus dem Gedächtnis und auf die Schnelle, sind die Bücher "Tour de France" und "Flauberts Papagei". Sein Schostakowitsch-Buch besorge ich mir natürlich sowieso. Danke für den Tipp.
Über Schostakowitsch wiederum hat auch William T. Vollmann geschrieben. Allgemein über das Thema. Ein breit angelegter und etwas eigenartig geschriebener Klopper (mehr als 1000 Seiten). Lebensläufe von Schostakowitsch, Käthe Kollwitz, Achmatewa, Zwetajewa, Fanny Kaplan (die auf Lenin geschossen hat), daneben Hitler, Stalin ... Ist allerdings kein "tragendes" Werk, teilweise sehr verbaut. Da denke ich, kann Barnes besser und fließender erzählen.
Vollmann hat mir aber trotzdem gefallen, gerade auch aufgrund des gewählten Inhalts. Das Buch setzt aber auch viel Hintergrundwissen voraus. Wer die damaligen sowjetischen Verhältnisse nicht kennt, wird hier vielleicht schwerer in die Materie finden.
Ach so. Und für deinen Ebook-Reader ... Guck mal bei Gutenberg nach Leonid Andrejew. "Das rote Lachen" oder "Die sieben Gehenkten". So genial. So surreal und emotional tief geschrieben. "Das rote Lachen", neben Remarque und co, eines der besten Anti-Kriegsbücher, die ich gelesen habe. Der Wahnsinn. Die Menschen, die dem Wahnsinn verfallen ... Vom Aufbau-Verlag gibt es eine Sammlung seiner Novellen und Erzählungen. Seine Werke sind kurz, aber wirken lange nach. Der hat mich wirklich umgehauen. Kannte ihn vorher nicht, obwohl er ein Zeitgenosse Gorkis war.
Art & Vibration
Ein dutzend Großartige würden mir auch durchaus genügen. Doch wieviel dutzende Dutzende muss man lesen, um auf ein großartiges Dutzend zu kommen?!
"Es ist mehr der Blick ins Buch, wenn der Moment stimmt"
d´accord. Was ich mich jedoch frage, warum schwinden diese Momente. Mir ein Rätsel, denn Zeit ist nicht mein Problem. . .
Oskar Wilde
Ja inzwischen habe ich auch mitbekommen, dass er im eigentlichen Sinne keinen „Roman“ geschrieben. Ich kam halt drauf, da ich so ein Zitate-Buch in der Hand hatte und da sehr amüsante Dinge entdeckt habe. Nun ja, also gab es dann, oh wie überraschend ein Stückchen Biographie:
"Kunst und Krankheit in der Psychoanalyse" Rattner / Danzer
Durchaus nicht langweilig und auch nicht zu abgedreht. Ebenso drin zu finden: Tschechow, Claudel, Dostojewski, Rilke, Klee
www.dostojewski.eu
Zitat von Jatman1 im Beitrag #7
"Es ist mehr der Blick ins Buch, wenn der Moment stimmt"
d´accord. Was ich mich jedoch frage, warum schwinden diese Momente. Mir ein Rätsel, denn Zeit ist nicht mein Problem. . .
Ha ... eine Überlegung, die ich teile. Immer häufiger lese ich, und wenn das Buch mich nicht packt, kommt gleichzeitig der nächste Gedanke: wozu dann weiterlesen? Für gute Literatur ist Durchhaltungsvermögen ja nun wirklich nicht nötig. Ein Buch fesselt oder regt an, oder es langweilt. Dann gibt es noch solche, die wie Filme wirken, wobei das Filme-Schauen dann einfacher wäre. Ich meine, sie haben eine Oberfläche, die man kennt, die aber nie tiefer reicht und einen noch überraschen kann.
Ich versuche es jetzt mit der Liste der Preisträger des "Prix Goncourt". Gerade Albert Camus gelesen und auf den Geschmack von französischen Büchern gekommen. Darauf folgte Chessex mit "Mona", das auch nicht schlecht war. Es ist wirklich so, dass mich die russische Literatur emotional trifft, die französische poetisch unterhält und anregt (geistig und künstlerisch), wobei Chessex französisch schreibt, aber aus der Schweiz stammt.
Ein sehr schönes Buch ist dann wieder (auch letztens noch einmal gelesen) "Die Dachkammer" von Danilo Kis. Auch wenn er ein geschätzter Schriftsteller ist, hauen mich seine anderen Werke nicht um. "Die Dachkammer" ist aber schön schräg.
Art & Vibration
Habbe jetzt die Zitatensammlung gelesen. Für Frauen hatte Wilde nicht viel über - nicht nur sexuell. Die kommen bei ihm grundsätzlich schlecht bei ihm weg. War ich erstaunt.
Von Fesseln kann noch keine Rede sein, aber es zog mich von der ersten Seite an. Nicht das erste Mal bei einem Buch von ihm: Mario Vargas Llosa
Diesmal "Der Geschichtenerzähler". Er setzt Cliffhanger ganz krass an den Anfang. Es ist sooo offensichtlich, aber man schluckt den Haken. Dann nimmt er sich Zeit dabei, einen hinter sich her zu ziehen.
Man kann sich selbst beobachten, wie man gefangen wird.
Mein von ihm zuletzt gelesenes Buch "Das böse Mädchen" habe ich auch bis zur letzten Seite gelesen.
Geschichten kann er erzählen - der Mario.
www.dostojewski.eu
Gerade beendet: Biographie von Stendhal von Johannes Willms.
Schöne Sprache und flüssig geschrieben. Leider zu viele Zitate in französisch. Zu Stendhal - seltsamer Mensch und unsympatisch bis zum Abwinken. Konnte zwar ein wenig Mitleid mit ihm haben, aber geblieben ist das Bild von einem Fatzken und das wohl auch noch ohne DAS Riesenkönnen.
Eins der wenigen Bücher die ich begann, dann weggelegt und nun wieder begonnen habe weiterzulesen: Kippenberger von seiner Schwester Susanne Kippenberger. Über die Nöte eines Künstlers und dessen "unheilbare" Zerissenheit kann besser nicht geschrieben werden - so meine ich. Ich freue mich gerade ein zweites Mal, dass ich mir das Buch gekauft habe.
Empfehlung für alle Künstler ;-)
www.dostojewski.eu
H. J. Gerigk Turgenjew - Eine Einführung für den Leser von heute
Mal gerade angelesen . . .
Turgenjew konnte und kann mich nicht begeistern. Und Gerigk erklärt mir unter anderem mit diesem Buch bereits auf den ersten Seiten, weshalb nicht.
Von Gerigk über Turgenjews Werk lesen, begeistert mich um ein Vielfaches als Turgenjews Werke selbst.
Der Gerigk ist der Wahnsinn. Der lässt einen Blinden wie mich sehen. Eine Riesenfreude dieses Buch.
Abschließend mal zwei Sätze. WOMM!!!! und dann stehen die da so einfach. . . Wunderbar!
"Soziale Relevanz kann jedoch niemals ein Kriterium für künstlerische Wertung sein." jajaja schon klar. Aber tu das ma in son Satz sagn tun. Einer noch:
"Mit ihren Werken erschaffen sie (Tolstoi und Dostojewski) jeweils einen Denkraum, in dem sie Recht haben."
Kein Buch, kein Aufsatz von Gerigk, der / das bisher spurlos an mir vorüberging.
Durchaus - so liest sich Begeisterung für Geschriebenes.
www.dostojewski.eu