HirngespinsteAustausch zwischen Literatur und Kunst |
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Stimmt. Und da wartet ja auch noch der Turm zu Babel. Die luftigen Höhen führen letztendlich doch immer nach unten. Es sei denn, man steigt bereits die Stufen des Dante'schen Fegefeuers hinauf. Dann ist man auf einem guten Weg. Der Rest der Welt... tja, die Apokalypse lässt grüßen. Da hilft auch kein Vergil mehr. (Assoziativ fällt mir sogleich Hermann Broch ein. "Der Tod des Vergils" steht noch ungelesen herum. Wäre eine mögliche nächste Lektüre.)
Art & Vibration
Steht jene "Bibliothek des Wahnsinns" jetzt neben der von dir an dieser Stelle vor elf Jahren ebenfalls empfohlenen "Bibliothek der verlorenen Bücher"?
Und da ich hier gerade irgendwo das Stichwort Propaganda aufschnappte: Von Literarischem in jüngster Zeit wenig beeindruckt, lese ich derzeit Jonas Tögels "Kognitive Kriegsführung", der sich in diesem Jahr auch über Nudging-Methoden in anderen Bereichen äußerte. Es ist schon erstaunlich, wie alt bestimmte Methoden sind und dennoch (von den verschiedenen Seiten) unverändert "erfolgreich" angewandt werden, mit zunehmendem Personalaufwand.
Zitat von Salin
Steht jene "Bibliothek des Wahnsinns" jetzt neben der von dir an dieser Stelle vor elf Jahren ebenfalls empfohlenen "Bibliothek der verlorenen Bücher"?
Durchaus, nebst einigen weiteren, die mir zu diesem Thema gefallen haben. Pechmann nähert sich der Sache natürlich etwas anders. Brooke-Hitching wiederum ist selbst Sammler und Sohn eines Antiquars, was auch zu spüren ist. Ihm geht es weniger um die Anerkennung bestimmter Werke und Literaten als darum, einige seltene Kostbarkeiten und Kuriositäten aufzustöbern und vorzustellen. Dabei vermittelt er für mich auch neue Erkenntnisse. Allerdings handelt es sich hierbei dann eher um einen Bildband statt eines literaturwissenschaftlichen Buches, mit zahlreichen Abbildungen zu den Geschichten der Buchfunde, die einen zum Staunen bringen, selbst wenn Bücher, eingeschlagen in Menschenhaut, präsentiert werden. Eines der bisher weiterhin unschlagbaren Stöberwerke dieser Art bleibt jedoch "Was geschah mit Schillers Schädel" von Rainer Schmitz, eine Art Lexikon-Wälzer, in dem man auch nach Jahren noch fündig wird, wenn es um Literatur, skurrile Geschichten und Hintergrundwissen zu Schriftstellern und ihren Büchern geht.
In Sachen Propaganda-Techniken: Sicherlich hängt diese enorme Wirkung immer gleicher Methoden mit dem typischen Wechsel der Generationen zusammen und mit der Unfähigkeit vieler Menschen, den Jetzt-Moment inmitten des politischen Chaos' richtig einzuschätzen, selbst wenn sie die vergangenen Vorkommnisse vollständig ablehnen. Sie verstehen nicht, dass gleiche Mechanismen greifen, weil sie automatisch emotional und durch Medien gelenkt Partei ergreifen. Dazu fehlt das Interesse, sich tiefer mit historischen Ereignissen auseinanderzusetzen, die oftmals in der Gegenwart auch mehr und mehr verfälscht oder vereinfacht werden. Tatsächlich verliert Vergangenheit umso mehr Raum, desto weiter die Zukunft voranschreitet. Dadurch verschmelzen auf einmal ganze Jahrzehnte und Jahrhunderte zu einem Einheitsbrei, die für sich stehend völlig verschieden sind und dann einfach zusammengefasst werden. Und so wie neue Romane oder Filme bei jungen Menschen Begeisterung wecken, die gleiche und bewährte Themen aufgreifen (die ewige Wiederholung), die bei Vorgenerationen nur ein Gähnen auslösen, ist auch die Vermittlung von Krieg und Aufrüstung immer wieder neuartig, wenn mit Begründungen der Notwendigkeit, des Schutzes, des Terrorismus' und der Verteidigung gearbeitet wird, als ob nicht immer auf beiden Seiten der Zivilist das eigentliche Opfer ist, der unschuldig zwischen die Fronten gerät. Wer dagegen die Techniken einmal durchschaut hat, fällt nicht mehr so schnell oder vielleicht sogar gar nicht mehr darauf herein. Ich sage nicht, dass es leicht ist. Das Vorgehen ist teilweise psychologisch gut ausgearbeitet und verfeinert, manchmal allerdings auch so primitiv, dass ich mich nur wundern kann, dass Menschen darauf hereinfallen.
Deine Lektüre werde ich mir auch gerne ansehen. Zum aktuellen Thema lese ich gerade Ilan Pappé "Die ethnische Säuberung Palästinas". Kritik am Zionismus und dem Wunsch nach einem reinen Staat üben viele, darunter auch zahlreiche Israelis, hier besonders die Gläubigen, die der Bibel folgen und einen eigenen Staat Israel erst mit der Ankunft des Messias voraussetzen (entsprechend von Gott übergeben) und keinesfalls mittels einer gewaltsamen Eroberung. Ohne eine Lösung für beide Parteien, ist die Beilegung dieses so lange andauernden Konflikts nicht möglich.
Art & Vibration
Tögels Buch ist jedenfalls gut geschrieben. Vor allem bei aktuelleren Themen versucht er nicht inhaltlich zu werten, welche Seite einer Wahrheit näher ist, sondern konzentriert sich auf die Analyse von Manipulationsmethoden. Gerade habe ich noch ein Interview angeschaut. Sehr souverän und konsequent in dieser Sache.
Noch ein Gedanke dazu: Heutzutage lässt sich Propaganda beispielsweise schon daran erkennen, dass sie immer dann greift, wenn eine vertretene Meinung in den Medien nicht mit einer Gegenansicht kommentiert wird, sondern Ansicht und Mensch entweder sofort diskreditiert oder nachträglich verboten und ausgeschlossen werden. Das ist fast immer ein sicheres Zeichen für den politischen Eingriff in die Meinungsfreiheit, denn es sollte in einer Demokratie (!) doch wohl möglich sein, zwei oder mehr verschiedene Meinungen zu einem Thema zu haben und diese auch öffentlich vertreten zu dürfen, ohne dass sich eine der Parteien durch die gegnerische Ansicht bedroht fühlt.
Es gilt jedoch, dass der Masse das selbstständige Urteilen und Denken abgesprochen wird, so besteht auch kein Bedarf, verschiedenen Meinungen präsentieren zu müssen. Entsprechend grenzt man einfach die böse "Desinformation" ein, damit die offizielle Darstellung als die einzig anerkannte und wahre gilt.
Das war bzw. ist auch immer die Aufgabe der Faktenchecks, um kritische Meinungen bloßzustellen. Man erinnere sich, wie z. B. während der Pandemie in Social Media unter kritischen Posts sofort ein Warnhinweis und ein Link zu einer "Expertenmeinung" bzw. zu offiziellen Medienberichten erschien, die genau das Gegenteil behaupteten und nahezu pejorative "Aufklärung" boten, völlig egal, ob der Beitrag nun etwas Harmloses oder Schwerwiegendes enthielt. Der politische Eingriff in diese Sphäre ist kaum noch zu übersehen und hat sich seit der Pandemie verstärkt, um die Meinung zu lenken und zu manipulieren, selbst in Bereichen, die keinerlei politische Bedeutung haben. Ein Warnhinweis suggeriert immer, dass etwas Gesagtes nicht der Allgemeingültigkeit entspricht und löst unbewusst Zweifel am Wahrheitsgehalt aus, selbst wenn das Aufgezeigte mit Fakten belegt ist und jedem vernünftig denkenden Menschen einleuchten müsste. Hier wird psychologisch gearbeitet, so dass Menschen durch die Warnung annehmen, der dazu gesetzte Link wäre der eigentlich seriöse. Das jedoch ist reine Manipulation, ähnlich wie es in den Medien zu beobachten ist, wo der kritische Mensch von einer Phalanx an "Experten" niedergebrüllt wird, ohne dass tatsächlich ein sachliches Gegenargument erfolgt.
Art & Vibration
Das mit den "Experten" hat Tögel ebenfalls erwähnt – eine hundert Jahre alte Methode, wie auch das mit den Faktenchecks, die oft nur aus sorgsam ausgesuchten Halbwahrheiten bestehen und so das Gesamtbild verfälschen.
Gleichwohl ist nicht zu übersehen, dass neutrale Berichte heute erheblich seltener zu finden sind. Doch immerhin kann Sprache sehr entlarvend sein, sofern man darauf achtet. Nicht nur in guten Romanen.
Gegen Ende zitiert Tögel C. G. Jung:
"Ich bin nicht das, was mir passiert. Ich bin das, was ich entscheide zu werden. [...] Wer nach außen blickt, der schläft. Wer nach innen blickt, der wacht auf."
Zugespitzt, aber nicht verkehrt bei einem Buch, das den Titel Kognitive Kriegsführung trägt, zumal es im auf diese Weise eingeleiteten Unterkapitel um Empowerment geht. Aber wer weiß, vielleicht hat Jung mit jenem Blick nach innen auch den Traum gemeint.
Traum, ja. Aber gerade auch eine Art geistiges Erwachen. Ich denke, mit all dem, was während der Pandemie geschah, wurde etwas Wesentliches geöffnet. Diese völlige Rücksichtslosigkeit der Umsetzung, mit der Aufhebung lang beständiger Regeln und Grundsätze, hat zu einem tiefen Vertrauensbruch der Bevölkerung in ihre Regierungen geführt, der in der Politik verheerend ist, will man alles unter Kontrolle behalten. Das Ganze erscheint heute als groß angelegtes Experiment, wie weit gegangen werden kann, wie weit Menschen etwas mitmachen und wann der Zeitpunkt erreicht ist, wo sich Zweifel und Empörung einstellen. Bei einigen war die Schmerzgrenze verdammt spät erreicht. Das wiederum hat neue Propaganda-Maßnahmen notwendig gemacht, die vor allen Dingen auf die willige Masse wirken sollten, teilweise mit dem Spiel aus Zensierung, Belohnung und Erpressung. Mir scheint jedoch, dass die erschreckende Umsetzung einer bewusst erzeugten Spaltung zwischen den Menschen schließlich nur dazu diente, eine manipulativ klare Abgrenzung zwischen denen, die Mitläufer waren und denen, die sich geweigert haben, zu schaffen, um letztere zu kontrollieren, was dann wiederum die Hetze möglich machte. Diese Vorgehensweise war allerdings gleichzeitig zu radikal und hat bei vielen Menschen genau das Gegenteil bewirkt. Statt Hörigkeit und einem Sich-Fügen wurde das Vertrauen vollständig zerstört, inklusive des Glaubens, dass Regierungen das Wohl des Volkes im Auge haben.
Auch wenn bereits zuvor viel Kritik an der Politik bestand, gab es eine grundlegende Akzeptanz, dass es sich um Ausnahmen handelte und die Basis politisch richtiger Entscheidungen Gültigkeit hatte. Das wurde völlig erschüttert und gewinnt auch innerhalb der Kriegspropaganda nicht an gewünschter Wirkungskraft, ganz einfach, weil sich Menschen zwar durch Emotionen leiten und aufhetzen lassen, im Grunde jedoch immer der Wunsch nach Frieden dominiert. (Da hilft auch die sehr wirksame Waffe Angst nicht.) All das hat vielmehr dazu geführt, dass viele die Medien nun von vornherein in Frage stellen und bewusster sehen, dass die Vorgänge einen Zweck erfüllen und manipulative Mittel zum Einsatz kommen. Wie du sagst, Sprache ist gut zu durchschauen, insbesondere typische Schlagwörter, die einen Kritiker sofort in eine Ecke drängen und ihn mit der aufgezwungenen Maske des Leugners, Antisemiten, Nazis, Putinverstehers usw. diffamieren. Genau diese Mittel bleiben jedoch das, was sie sind: Verfälschungen und Irreführung, weil sich gewaltsame Vorgänge nun einmal nicht als gut verkaufen lassen, so dass man auch Kritiker nicht einfach mundtot machen kann. Diejenigen, die ich als "erwacht" bezeichnen möchte, lassen sich zum Glück kaum noch davon stören. Es ist immer wichtig, das Ganze zu überblicken und sich nicht von Teilausschnitten blenden zu lassen.
Art & Vibration
2021 gab es in Frankreich eine kleine Sensation. Es wurden 6.000 verschollene Manuskriptblätter von Louis-Ferdinand Céline wiedergefunden, der diese auf der Flucht in Richtung Dänemark in seiner Wohnung in Montmartre zurückließ und sie dann durch Résistance-Kämpfer gestohlen und verloren glaubte. Er hätte wohl bei seiner Rückkehr nach Frankreich Zugang zu ihnen gehabt, wollte aber die Gebühren für die Einlagerung nicht zahlen, da er annahm, es handelte sich nur um einige Skizzen.
Die erste Übersetzung ins Deutsche ist nun erschienen, ein kleiner Teil des Konvoluts mit dem Titel "Krieg", ein Werk, das wohl von seinen anderen Büchern stylistisch etwas abweicht, jedoch viel Stoff für den Lesegenuss bietet. Mich hat noch kein Buch dieses Schriftstellers tatsächlich gelangweilt, mit Ausnahme seines bekannten und fast grotesk übersteigerten Geschimpfes auf das Judentum, das man kaum bis zum Ende lesen kann, da es mit typischen Klischees arbeitet und in einer emotional überladenen Erregtheit geschrieben wurde. Auch bleibt "Die Reise bis ans Ende der Nacht" sicherlich sein wichtigstes und bestes Werk. Kennt man dieses, wirken die anderen Bücher wie eine unendliche Fortsetzung des Gesagten. Und trotzdem gibt es Phasen, wo mich Céline fasziniert (auch gelungen finde ich "Professor Y", wo er über sein Schreiben reflektiert.) Es gibt einen schönen Dokumentarfilm von Arte mit dem Titel "Gallimard", in dem viele der damaligen Schriftsteller zu Wort kommen, darunter auch Céline, der böse auf die jüdischen Verleger schimpft und sich übervorteilt fühlt. Jedenfalls macht die Doku wirklich Lust darauf, wieder nach der französischen Lektüre dieser Zeit zu greifen. Ich freue mich, dass noch so einiges von Céline offen ist und auf eine Veröffentlichung wartet. Die Rezensionen sind vielversprechend. (Ich wusste gar nicht, dass seine Witwe 107 Jahre alt geworden ist. Sie war auch mit ein Grund, dass die Manuskripte nicht vor ihrem Tod übergeben werden konnten, da man Streichungen und ähnliches fürchtete.)
Aber zuerst versuche ich es mit etwas Gegenwartsliteratur: Andrea Tompa "Omertà". Ich muss sagen, der Roman hat einen faszinierenden Sog, ist innerhalb der Tragik auch humorvoll. Aus dem Ungarischen übersetzt wurde es von Terezia Mora, die die verschiedenen Sprachmelodien gut einfängt, besonders die der einfach gestrickten und gottgläubigen Bäuerin Kali, die einen nicht selten zum Lachen bringt. Ob sich der knapp 1.000-seitige Roman auch im Gesamten lohnt, werde ich noch berichten.
Art & Vibration
Eines der wichtigen Merkmale für alle Romane Célines waren immer die drei Punkte. Damit hat er versucht, eine Art Zwischenpause zu kreieren und er hat auch viel Wert auf diese gelegt. Diese fehlt in dem neu entdeckten Werk "Krieg" vollständig.
Art & Vibration
Noch einmal zurück zu "Die Bibliothek des Wahnsinns" :
Interessant ist auch der Fund der "Vox Piscis" 1626. Dieses Buch wurde auf einem Marktplatz im Bauch eines Fisches gefunden, eingeschlagen in Segeltuch, und enthielt die Aufzeichnungen bzw. Sakramente des Mönchs John Frith, der 1533 wegen Ketzerei verbrannt und zuvor in einem Fischkeller gefangen gehalten wurde.
Ein Mr. Mead, Stipendiat des Christ's College in Cambridge, schrieb: „Ich habe alles mit meinen eigenen Augen gesehen, den Fisch, den Schlund, das Stück Segeltuch, das Buch … nur habe ich nicht das Öffnen des Fisches gesehen.“
Wenn das nun fragwürdig klingt, dazu hatte Mead erklärt: „Wer gestern am Morgen so nah dran gewesen wäre wie ich, wäre davon überzeugt gewesen, dass hier kein Betrug vorlag.“
Er war jedenfalls so beeindruckt, dass er den Band unter dem Titel "Vox Piscis" – „Die Stimme des Fisches“ veröffentlichen ließ. Wie das Buch in den Bauch des Fisches kam, ist bis heute nicht geklärt.
Art & Vibration
Mein Eindruck zu "Omertà" :
Dieses Buch ist eine typische Spiegel-Empfehlung, das in meinen Augen den vielen Lobeshymnen nicht gerecht wird. Es beginnt gut, durch den Humor und die Sichtweise der Bäuerin Kali, verliert dann aber mit dem Wechsel zum Gärtner stark an Kraft. Auch ist die Naivität der erzählenden Figuren anstrengend und bleibt trotz des Wechsels der Sichtweisen auf einem ähnlichen Niveau. Dieses Ausdehnen auf knapp 950 Seiten war völlig unnötig, auch wenn die Ungarische Tragödie und der Kommunismus ganz gut durchschimmern. Dennoch denke ich, sind altbewährte Romane aus dieser Zeit deutlich besser. Es ist ein solider Roman, der seine Längen hat, der jedoch wenig Philosophie, Poesie oder einen interessanten Stil vermittelt. Mir sind solche Dinge wichtig, dass nicht nur Zeitgeschehen und Story geboten sind, sondern auch eine Reflexion, die tiefer reicht. Ich kann so etwas nicht mehr lesen. Wenn Enttäuschung, dann durch Bücher, die mehr Zeit getrunken haben.
Art & Vibration
Es lohnt sich wirklich, B. Travens "Das Totenschiff" noch einmal zu lesen. Die Parallelen zum heutigen Geschehen sind unübersehbar, weil sich auch die Machtgierigen und die lenkbare Masse Mensch nie tatsächlich ändern, für wie fortschrittlich und zivilisiert sie sich auch immer halten. Im Buch heißt es:
"Ich glaubte nicht daran, daß es irgendeine Feindschaft zwischen Völkern gäbe, wenn sie nicht künstlich erzeugt und dann tüchtig geschürt würde. Man sollte eigentlich meinen, daß Menschen vernünftiger seien als Hunde. Hunde lassen sich manchmal gegen ihresgleichen hetzen, manchmal aber auch nicht. Menschen dagegen lassen sich immer aufeinander hetzen, und das »Kschksch« braucht gar nicht einmal geschickt gemacht zu werden. Es braucht nur überhaupt gemacht zu werden, da gehen sie auch schon aufeinander los wie blödsinnig geworden..."
Und noch schöner:
"Verdächtig ist jedes Land, wo so viel von Freiheit geredet wird, die angeblich innerhalb seiner Grenzen zu finden sei. Und wenn ich bei einer Einfahrt in den Hafen eines großen Landes eine Riesenstatue der Freiheit sehe, so braucht mir niemand zu erzählen, was hinter der Statue los ist. Wo man so laut schreien muß: Wir sind ein Volk von freien Menschen!, da will man nur die Tatsache verdecken, daß die Freiheit vor die Hunde gegangen ist oder daß sie von Hunderttausenden von Gesetzen, Verordnungen, Verfügungen, Anweisungen, Reglungen und Polizeiknüppeln so abgenagt worden ist, daß nur noch das Geschrei, das Fanfarengeschmetter und die Freiheitsgöttinnen übriggeblieben sind."
Man liest den Roman heute mit anderen Augen. Und der Humor ist immer noch herrlich. Keine Frage.
Art & Vibration
Wem sagt der Name Hall Caine etwas? Wer hat ein Buch von ihm gelesen?
Caine war eine Art Sekretär und Mitbewohner Dante Gabriel Rossettis in dessen letztem Lebensjahr in jenem bekannten, wundersam ausgestatteten Haus, bevor er selber als Romancier und Dramatiker erfolgreich wurde, als bekanntester und meistgelesener seiner Zeit. Heute ist er ohne deutsche Wikipedia-Seite, aber dafür in 13 anderen Sprachen präsent.
Ein BBC-Beitrag (Radio 4) über The Manxman (1894) vermochte mich nicht als Leser zu gewinnen, zeigte mir jedoch – wie soll ich es sagen? – eine Bildungslücke auf. Dieser Roman wurde u. a. von Hitchcock verfilmt.
Meinst du Thomas Henry Hall Caine? Von dem gibt es einige Bücher, die ins Deutsche übersetzt und mittlerweile gemeinfrei sind. Ich fand den "verlorenen Sohn" ganz gut und "The Manxman" ist in der englischen Version ebenfalls lesenswert. Wenn du willst, kannst du hier in einige Werke hineinlesen. "Der Oberrichter" ist "The Deemster", einer der damaligen Bestseller.
https://www.projekt-gutenberg.org/autore...n/hallcain.html
Diese ganz eigene Welt der Insel kommt wirklich gut zur Geltung, im Englischen sicherlich besser als im Deutschen, aufgrund des Dialekts innerhalb der Dialoge. Aber allgemein überrascht Hall Caine mit einem für damalige Zeiten spannenden Rahmen, anders als der eher langweilige Henry James oder die doch naive Welt von Austen. In "The Manxman" fand ich z. B. die Szene herrlich, in der die Jungen einen Hasen jagen, weil sie ihn für eine Hexe halten (die Mutter von Pete), während ihr Sohn an der Jagd teilnimmt, dabei den Hasen ebenfalls für seine Mutter hält und anfeuert, damit er überlebt.
In seinen Romanen sind oft die kleinen Ereignisse groß und prägen sich ein. Und wie bist du auf ihn gestoßen? Rossetti finde ich ja allgemein faszinierend, gerade auch, weil er seine Gedichte zunächst mit Siddal beerdigt hat und dann wieder ausgraben ließ, wo sie natürlich unvergesslich als im Wasser treibende Ophelia (Millais) bleibt. Es heißt, ihr rotes Haar wäre weiter gewachsen, als sie den Sarg öffneten.
Apropos vergessene Autoren. Durch Weidermann und sein "Buch der verbrannten Bücher" bin ich auf Hermann Essig gestoßen. Sein einziger Roman "Taifun" erzählt ironisch bissig von den Künstlern der Zeitschrift "Der Sturm". Als das Buch posthum erschien, sagte der Sturm-Herausgeber und spätere Galerist Herwarth Walden (eigentlich Georg Lewin) enttäuscht, es wäre...
"... ein mißglückter Versuch, aus naturalistischer Darstellung zu künstlerischer Gestaltung zu gelangen, die Tragödie einer unfertigen Künstlerschaft mit der Wirkung übermenschlicher Gemeinheit."
Andere fanden die darin versiegelte Zeit durchaus authentisch. Essig lehnte die Moderne vollständig ab, starb aber auch schon 1918. Sehr gefallen hat mir als Empfehlung aus dem Weidermann-Buch auch Alexander Moritz Frey "Die Pflasterkästen", ein Antikriegsroman, der es durchaus mit Remarque aufnehmen kann, sogar tiefer ins Geschehen greift, da Frey als Sanitäter und Pazifist an der Front des Ersten Weltkriegs war und wesentlich kritischer berichtet, dort übrigens auch mit Hitler zusammen traf, der als Meldegänger unterwegs war. Sein Buch "Solneman, der Unsichtbare" lohnt die Lektüre ebenfalls.
Ich lese nun eines der Werke aus der Liste der 100 besten Romane der Weltliteratur, das mir zuvor noch nicht bekannt war. João Guimarães Rosa "Grande Sertão" Es soll eine Art brasilianischer "Ulysses" sein. Mal sehen.
Art & Vibration