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Hirngespinste

Austausch zwischen Literatur und Kunst


#1

September/Oktober/November/Dezember 2023

in Lektüreliste 05.09.2023 00:42
von Taxine • Admin | 6.678 Beiträge

Ich lese momentan von André Schwarz-Bart "Der Letzte der Gerechten". Den Verweis auf diesen Roman fand ich zufällig, in der ausgezeichneten Biografie von Arnold Künzli über Karl Marx, mit der Bezeichnung: eine Psychographie. Erstaunlich mitreißend erzählt Schwarz-Bart die jüdische Geschichte über mehrere Generationen, bei der auch das Mystische, Kabbalistische und Phantastische nicht fehlt (mit der herrlich bunten Übertreibung der Überlieferung). Er selbst stammte aus einer jüdischen Familie und hieß eigentlich Abraham Szwartcbart. Als Kind überlebte er das Vernichtungslager und eignete sich seine Bildung, die Kunst des Schreibens und seine Kenntnisse größtenteils autodidaktisch an. Für sein eindringliches Buch "Der Letzte der Gerechten" erhielt er dann auch verdient den Prix Goncourt.

Der jüdischen Überlieferung "zufolge ruht die Welt auf sechsunddreißig Gerechten, den Lamed Waw, die sich in nichts von den gewöhnlichen Sterblichen unterscheiden; häufig wissen sie selber nichts von ihrer Berufung. Käme es aber dazu, daß auch nur ein einziger von ihnen fehlte, so würde das Leid der Menschen selbst die Seelen der kleinen Kinder vergiften, und die Menschheit würde in einem Aufschrei ersticken. Denn die Lamed Waw sind das vervielfachte Herz der Welt, und alle unsere Schmerzen ergießen sich in sie wie in ein großes Gefäß."

Genau davon handelt dieses Buch mit der generationsübergreifenden Geschichte jener Gezeichneten, von denen sicherlich jede erzählenswert ist, und die mit Erni Levy und den Vernichtungslagern endet. Es ist bekannt, dass die Juden daran glauben, dass die Ankunft des Messias erst mit unsagbarem Leid eingeleitet wird. Diese in Gott vertrauende Buße ist hier literarisch beeindruckend verarbeitet. Ähnlich eindrucksvoll fand ich damals den Roman "Laurus" von Vodolazkin, bei dem es um den im russischen Glauben verankerten Narren Gottes geht. (Im russischen Original vermischt der Schriftsteller übrigens gelehrte Schriften und Altrussisch, was den Zugang etwas erschwert. In der deutschen Übersetzung ist das Buch dagegen leicht zu lesen, nicht ohne die Tiefe und die dramatischen Vorgänge dennoch hervorragend zu transportieren. Sein neuestes Buch "Brisbane" ist bereits in fast alle Sprachen übersetzt, außer ins Deutsche (ein einmal wieder beachtliches Beispiel des geistigen Niedergangs im Sieg der Propaganda. Vodolazkin hat sich am Anfang sehr gefühlvoll und menschlich zum Kriegsgeschehen geäußert, allerdings ohne die gewünschte Huldigung und Lobpreisung der Ukraine.)

Zurück zum Buch:
Die Geschichte pendelt sich zunächst um Mordechai Levy ein, der einer der Gerechten ist, diese Rolle jedoch, wie viele vor ihm, ablehnt, und erst nach der Heirat seiner quirligen und wenig gottesfürchtigen Frau allmählich begreift, welche Last und Verantwortung auf seinen Schultern liegt. Als sie ihn fragt, wieso das Leiden Teil der Aufgabe aller Gerechten ist, erklärt er:

"Aber um sie zu beantworten, müßte man wissen, was im Herzen eines Lamed Waw vor sich geht; und das ist ihm selber unbekannt, er weiß nicht, daß sein Herz blutet, er glaubt, es sei das Leben, das in ihn eingeht. Lächelt ein Gerechter einem Kinde zu, so sagt man, dann ist in ihm ein ebenso großes Leiden wie in einem Gerechten, der den Martertod erduldet. Und siehst du, wenn ein Lamed Waw weint oder sonst irgend etwas tut, und selbst wenn er wie ich in einem Bett liegt, mit der Frau, die er liebt, so nimmt er einen sechsunddreißigsten Teil alles Leidens der Welt auf sich. Doch er weiß es nicht, ebensowenig wie seine Frau, und eine Hälfte seines Herzens schreit, während die andere singt. Was fügt da der Martertod noch hinzu?"

Und doch kann sich keiner dem tragischen und schmerzhaften Tod entziehen. Der Gerechte braucht im Leben keine Wunder zu vollbringen. Er selbst ist das lebendige Wunder.

Ich werde weiter berichten. (Alle Zitate stammen aus der Ausgabe des Fischer-Verlags)




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#2

RE: September 2023

in Lektüreliste 13.09.2023 12:43
von Taxine • Admin | 6.678 Beiträge

Der Roman von Schwarz-Bart dreht sich gegen Mitte des Buches dann zunehmend nur noch um die Geschichte von Erni Levy, der als Letzter der Gerechten den Abtransport seiner Familie und seiner Geliebten durch die Nazis miterlebt und Buße tut, indem er sich selbst in ein Ghetto und Konzentrationslager einschleusen lässt, um letztere zu finden. Gelungen war das Bild des Zuges, in dem alle bereits Verstorbenen und Ermordeten sitzen und bedauern, dass er sich zu ihnen gesellt. Hier hätte der Roman meiner Ansicht nach auch gerne enden können, um als Meisterwerk zu gelten. Jedoch dehnt Schwarz-Bart das Leiden bis ins schmerzliche Detail noch weiter aus, mit dem Traum eines Wiedersehens nach dem Tod. Ein schöner Satz, der haften blieb, sei hier noch einmal festgehalten:
"Es lebe die Demokratie, riefen die Demokratien."

Eines der bemerkenswerten Bücher aus meinem Favoriten-Regal ist "Das Café der Verrückten" von Felipe Alfau, auf Englisch lautet der Titel "Locos". (Witzigerweise war das damals ein Buch aus dem umfangreichen Bücherpaket, das ich als Gewinn für eine eingesandte Story bei einem Kurzgeschichten-Wettbewerb erhielt. Ich weiß nicht, ob ich diesen hervorragenden Schriftsteller auch ohne das entdeckt hätte.) Im Buch kreieren Schriftsteller und Figuren ein spannendes Wechselspiel und ergänzen einander insoweit, dass sich oftmals die Erzählebenen verändern, die Figuren auch ganz plötzlich lebendig werden, ihrer Geschichte entkommen und diese nach Gutdünken weiterschreiben bzw. erzählen, während der Autor anderes zu tun hat und am Ende alles wieder ordnen muss. Natürlich kann es auch passieren, dass Alfau selbst zur Figur wird. Das Buch ist unbeschreiblich, nicht nur in den verspielten Stories und in den zusammenhängenden Hinweisen, sondern auch in der Vertiefung der psychologischen Vorgänge, die bis in eine Angst vor dem Frühling reichen, der den Tod symbolisiert und das Leben durch diese Angst zu einer inneren Hölle macht.

Alfau stammt aus Spanien und ist mit vierzehn Jahren mit seinen Eltern nach Amerika emigriert, behielt aber den Blick auf seine spanische Heimat bei, was sich auch in seinem Humor ausdrückt, wenn er zum Beispiel über den anstrengenden Job der spanischen Bettler schreibt. Durch sein Leben in New York zog er das Schreiben allerdings in englischer Sprache vor.
Im Vorwort zu "Locos" erklärt er dem Leser gleich zu Beginn, dass der Roman genauso in der Mitte aufgeschlagen werden kann wie am Anfang oder Ende, allerdings nicht aufgrund des spielerischen Konzepts eines Cortazars oder Pavics, sondern weil die Geschichten auch einzeln lesbar und über Hinweise und Charaktere verbunden sind.

Ich las das Buch vor vielen Jahren und war schon damals begeistert, muss aber auch beim zweiten Lesen wieder feststellen, wie gekonnt Alfau seine Geschichten und Figuren miteinander verwebt. Als er es in den 20er Jahren schrieb, war das Buch seiner Zeit voraus und wurde zwar 1936 veröffentlicht, jedoch erst wesentlich später (nämlich 1990) wiederentdeckt, als auch Borges und andere schon neue Stilrichtungen geprägt haben. Alfau schrieb ein weiteres Buch mit dem Titel "Chromos", das ich jetzt im Original lesen werde. Dieses lag über 40 Jahre in seiner Schublade und er rückte es nur heraus, als ihn der Verlag nach der Wiederentdeckung von "Locos" darum bat. Entstanden ist es bereits 1948, und einige der Figuren aus "Locos" spielen auch hier eine Rolle. Es erhielt dann auch sofort den "National Book Awards". Beide Werke sind ein faszinierendes Dokument für das kreative Schreiben.

Alfau sagte über sich selbst: "I don’t see how anybody could like my books or could even understand them. They are unreadable." Dem kann man natürlich so gar nicht zustimmen. Ich würde eher sagen, er war ein Genie mit dem hohen Anspruch, das Schreiben als Kunst zu begreifen. Er mochte den Full-time-Job eines Autors überhaupt nicht. In einem Interview sagte er:

"The truth is, I was never interested in writing, nor did I ever dream of making a living at my craft. I hate full-time authors. I hate intellectuals that make a living from abstractions and evasions. The art of writing has turned into an excess. Today, literature is a waste. It should be abolished, at least in the form we know: as a money-making endeavor.”

Schade bleibt, dass es von Alfau wirklich nur zwei Bücher gibt, diese jedoch locker zwanzig von anderen Bestseller-Autoren aufwiegen.




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#3

RE: September 2023

in Lektüreliste 18.09.2023 19:36
von Salin • 511 Beiträge

Alfaus Locos (in der Ausgabe Dalkey Archive Press von 1997) hat bei mir auch schon einen Umzug wohlbehalten überstanden. Immerhin ist es heute noch erhältlich, während eine andere Lektüre, über die wir einst zur selben Zeit sprachen, Jarrys Heldentaten und Ansichten des Doktor Faustroll nur gebraucht für 98 bzw. 155 € erhältlich ist.

Gabriele D'Annunzios Lust ist ein erstaunliches Buch. In den 1880er Jahren geschrieben und handelnd, befremden zunächst der hohe Ton und die vielen Erklärungen des Erzählers, selbst dann, wenn er es durch Handeln hätte zeigen lassen können. Nun gut, die Hauptfigur, der Conte Sperelli-Fieschi d'Ugeta, hat sowohl ein Faible fürs Romantische als auch für galante Umgangsformen, wie sie seit dem 17. Jahrhundert in der obersten Gesellschaftsschicht Verbreitung fanden. Thematisch geht es um Liebeleien – oder vielleicht doch um etwas Dauerhaftes? – und daneben um sehr Oberflächliches – oder sagt man hier Ästhetisches? Der Roman ist an etablierten Schönheitsvorstellungen orientiert, nicht an Neuem oder Nüchtern-Realistischem. Gleichwohl ist jeder Satz stilgerecht geschrieben.
Die um die hundert im Roman erwähnten Namen berühmter Musiker, Maler, Bildhauer und Dichter zeigen meist einen eher normalen gehobenen Bildungshintergrund der erzählenden und handelnden Personen, verstärken aber dennoch eine Richtung. Überwiegend Klassisches, an antiken Idealen Orientiertes und Romantisches. Bei Shelley und Keats hilft der stimmungsreichen Handlung, dass beide in Rom begraben wurden. Das Schmucke und Ornamentale Botticelli und Berninis passt zur Beschreibung des Wohnstils der in Lust dargestellten Adeligen. Jener Gian Lorenzo Bernini wird von Sperelli zur Dekadenz gezählt, wobei im Roman das Luxuriöse im positiven Licht geschildert wird, anders als das zwischenmenschliche Verhalten in Sachen Partnerwahl.

Literarisch bedeutsam wird es spätestens in der Mitte des Romans, und gegen Ende gewinnt er merklich an Tiefe. Erreicht wird dies durch die teilweise Abkehr von der generellen romantischen Idealisierung sowie dadurch, dass neben Elena Muti, einer Duchessa di Scerni, mit der Donna Maria Ferres y Capdevila eine zweite weibliche Hauptperson eingeführt wird und auch Elenas eigenes Umfeld sich ändert. Letzteres wird besonders effektvoll mittels Einblick in eine "verborgende Bibliothek" und das damit verbundene Verhalten des Besitzers beschrieben.

Hier drei für D'Annunzios Stil typische Zitate:

Zitat
Sie hatte ein ovales Gesicht, vielleicht ein bisschen zu lang, aber es war jene kaum merkliche, aristokratische Verlängerung, die von den Künstlern des fünfzehnten Jahrhunderts in ihrem Streben nach Eleganz so stark betont worden war.

Kaum strich der Hauch einer Frau über die Asche, sprühte sie schon Funken.

In Francescas Gegenwart fragte er mich, ob ich ihm erlauben würde, eine Studie meiner Hände zu machen. Ich habe eingewilligt. Heute beginnt er.
Ich bin aufgeregt und voller Angst, als müsste ich meine Hände einer unbekannten Folter aussetzen. [...] Es kam mir vor, als verfertigte er nicht eine Studie meiner bloßen Hand, sondern eines entblößten Teils meiner Seele, und als durchdringe er sie bis auf den Grund und entdecke die verborgensten Geheimnisse.


Meine 502-seitige, aber kleine leinengebundene Ausgabe mit Lesebändchen erschien 1994 im Züricher Manesse-Verlag, in der Übersetzung von Pia Todorović-Strähl. Eine neue deutsche Übersetzungen ist derzeit nur als gelbes Reclam-Taschenbuch erhältlich – ein bedauernswerter Stilbruch. Dass es an besseren deutschsprachige Neuveröffentlichungen mangelt, könnte der Biographie des Autor geschuldet sein, aber auch zwei kurzen Erzählerkommentaren, deren Inhalt seit dem 20. Jahrhundert unter die Kategorie Rassismus bzw. Antisemitismus fällt. Der Roman erschien erstmals 1889 in Italien.

Nein, ich lasse nicht im Frühjahr alle meine Lesebändchen bügeln.

zuletzt bearbeitet 18.09.2023 21:26 | nach oben springen

#4

RE: September 2023

in Lektüreliste 25.09.2023 18:44
von Taxine • Admin | 6.678 Beiträge

Apropos Jarry – bei Julien Green in den Tagebüchern heißt es:

„Breton wurde gestern vom FBI verhört, das ihn vier Stunden lang ins Kreuzfeuer seiner Fragen nahm. Er erzählte mir, die Beamten des FBI wären höflich und ihre Fragen „manchmal scharfsinnig“ gewesen. Er fürchtete, wie er mir anvertraute, dieses Verhör sehr, da er das hat, was er, glaube ich, einen Schuldkomplex nennt. Und diesbezüglich erzählte er mir von Jarry, der so lebhaft und fortgesetzt das Gefühl hatte, etwas ausgefressen zu haben, daß er nie zu einem Schutzmann sprach, ohne zuvor seinen Hut gelüftet und ihn mit „Guten Tag, Herr Polizist“ angeredet zu haben. „Sie können sich denken, wieviel Verachtung sich hinter solch einer unterwürfigen Haltung versteckte“, fügt Breton hinzu.“

(Gefunden in Julien Green „Tagebücher 1943 bis 1954“, , S. 58, List Verlag)


Von D'Annunzio habe ich noch "Feuer" herumliegen. Ein Blick hinein könnte vielleicht nicht schaden. Ansonsten habe ich von Donald M. Thomas eine Biografie über Solschenizyn gelesen (sehr gut), von Schklowski "Zoo oder Briefe nicht über die Liebe" und seine Tolstoi-Biografie (fesselnd) und zum zweiten Mal Platonows "Tschewengur" (tatsächlich mit gleicher Begeisterung ob der Vielfältigkeit der Charaktere und weisen Reflexion) und blättere nun in "Bastard" von Harald Norse.




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#5

RE: September 2023

in Lektüreliste 26.09.2023 19:12
von Salin • 511 Beiträge

In Das Feuer (in der ersten Übersetzung) hatte ich irgendwo vor Jahrzehnten mal kurz reingeschaut, behielt aber nur Granatäpfel in Erinnerung. Das heißt, wenn ich die Früchte später sah, fiel mir D'Annunzio wieder ein. Immerhin. So auch letzteres Jahr, als das städtische Gartenamt hier in einer benachbarten, für den Verkehr gesperrten Straße (weil der Bau einer Aussichtsbrücke für mehrere Millionen Euro statt anderthalb satte dreieinhalb Jahre dauerte) von Frühjahr bis Herbst zwischen Kübeln mit Eisenholz- und Seidenbäumen auch einen Granatapfelbaum aufstellte. Die wenigen der über dreißig Früchte, die übrigblieben, platzen Ende September am Baum hängend auf, tatsächlich ausgereift, anders als hiesige Handelsware.

Wegen der Granatäpfel hatte ich mich nach Lust für die 1988 bei Matthes & Seitz erschienene umgearbeitet Ausgabe entschieden, wo ich nun zur Hälfte durch bin. Vorwort und Bildteil betonen stark den autobiographischen Aspekt, also die Parallelen zwischen Stelio Effrena und Gabriele D'Annunzio sowie zwischen Foscarina und Eleonora Duse. Umso auffallender das mit Effrena verbundene Eigenlob. Anders als elf Jahre zuvor in Lust wird dieses Mal weitgehend aus Sicht der jeweiligen Figur kommentiert und zudem insgesamt sparsamer. Für nicht wenige heutige Leser wahrscheinlich gewöhnungsbedürftig ist die poetische Schreibweise, wie manche Theaterbühnentexte jener Zeit, schwärmerisch, mitunter schwülstig, aber eine sehr eigene Sprache. Eine beliebige Seite dürfte ausreichen, um den Autor zu erkennen. Die einzelnen Episoden werden wortreich beschrieben, was die Handlung in die Länge zieht. Für Stelios Rede im Dogenpalast braucht es 33 Seiten und über Richard Wagner, der hier als eine der Figuren auftaucht, wird aus besonderem Grund ausgiebig geschrieben.
Ehrgeiz und Reiz des Romans sehe ich daran, dass er Teile der abendländischen Kultur in jene venezianischen Herbsttage münden lässt.

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#6

RE: September 2023

in Lektüreliste 10.10.2023 00:14
von Taxine • Admin | 6.678 Beiträge

Auf das Buch "Bastard" von Norse hatte ich mich sehr gefreut. "Beat Hotel" war beeindruckend, auch in den verspielten Stilelementen, den Rückblenden, der rauschhaften Atmosphäre, den Begegnungen innerhalb der Beat-Generation und der Erklärung der Cut-Up-Methode. Die Autobiografie dagegen ist eine einzige Enttäuschung und nahezu bieder. Sie gähnt in ihrer Einfallslosigkeit, in den belanglosen Anekdoten über Kindheit, Homosexualität und Sex, mit einigen Gesprächen, die Norse belauscht oder denen er direkt beiwohnt und die ihn in die Nähe der großen Berühmtheiten katapultieren sollen (so wie das homosexuelle Geplänkel zwischen Auden und Chester Kallman oder der öde Flirt, bei dem Norse sich "Marlon Brando entgehen lässt", wo überhaupt fast jeder ihm an die Wäsche will und er sich manchmal tatsächlich auch verweigert). Norse wirkt in seinem Bericht nahezu plump, selbstgefällig, überempfindlich und selbstmitleidig, während seine ständigen Verweise darauf, dass er schwul und jüdisch ist und dass er etwas Mächtiges in der Hose hat, irgendwann einfach nur langweilen. Fast überall hat er Sex mit den Eroberungen anderer und stellt sich dann als Opfer und Unschuldslamm dar (so mit einem Freund von Tennessee Williams, was er natürlich auch ausplaudert, um sich über die Empörung des Betrogenen zu wundern).

Ich bin erstaunt, dass beide Bücher aus ein und derselben Hand stammen. An der Übersetzung alleine kann es nicht liegen, auch wenn ich "Beat Hotel" im Original las. Das eigene Leben zu erzählen, ist eben doch eine Kunst, die nicht jeder beherrscht, gerade auch, weil in "Beat Hotel" das Authentische fesselnd war. Hier jedenfalls ist die Erinnerung völlig misslungen und stümperhaft zusammengestellt, oftmals mit unsinnig gedehnten Episoden oder unsortierten Zeitsprüngen. Auch schreckt Norse nicht davor zurück, jedes noch so kleine Kompliment einzuflechten, das ihm irgendwann einmal irgendjemand gemacht hat, während er selbst kein gutes Haar an den Menschen lässt (da ist z. B. viel von aufgedunsenen Gesichtern die Rede). Und um dem Ganzen noch die Krone aufzusetzen, empört er sich ausgerechnet über Henry Miller, weil dieser in seinem Buch etwas über neurotische Juden sagt, genau das, was Norse selbst als Charakterzug aufweist. Norse hat den "Wendekreis des Krebses" gleich zweimal gelesen, das erste Mal mit Begeisterung, das zweite Mal dann mit der Entdeckung der Stelle, an der Miller wohl erwähnt, dass Nichtjuden anders leiden als Juden, weil sie weniger neurotisch sind. "Dreck, Henry, Dreck", so sein Kommentar. "Auch noch so viel frische Luft lässt Scheiße nicht wie Parfüm duften."
Tja, das gilt dann allerdings auch für seine Autobiografie. Noch nie hat es jemand geschafft, eine so aufregende Zeit so belanglos darzustellen. Bei mir blieb lediglich der Eindruck zurück, die Memoiren einer lästernden Primadonna gelesen zu haben. Schade um die Zeit.


Schon besser ist dagegen die Verkündigung des Literaturnobelpreises 2023. Jon Fosse stammt aus Norwegen und hat einen eigenwilligen Stil. Durch Wiederholungen innerhalb der Prosa vergrößern sich die menschlichen Schicksale immer mehr, während sich die Gefühle vertiefen, fast biblisch wirken. Dadurch erhält der Leser einen Einblick in die familiären Abgründe und Besonderheiten seiner Protagonisten. Er schreibt über menschlich-allzumenschliche Themen, die den Leser nach und nach ans Herz gehen. Gerade sein Werk "Trilogie" in der Hinterfragung von Anstand und Moral im Unglück ist gelungen, inmitten der Kälte Norwegens und den Vorurteilen der Bewohner. Mit solchen Sätzen kreiert Fosse beispielsweise seine Atmosphäre:

Zitat von Fosse
"Doch nicht lange nachdem der Vater auf See geblieben war, wurde die Mutter kränklich, immer dünner, immer dünner, so dünn wurde sie, dass man durch ihr Gesicht hindurch die Knochen sehen konnte, ihre großen blauen Augen wurden immer größer, immer größer, bis sie fast das ganze Gesicht ausfüllten, so sah es aus für Asle, und ihr langes braunes Haar war dünner als früher und struppiger, und dann, eines Morgens, als sie nicht mehr aufstand, fand Asle sie tot im Bett."



Sollte man einen Vergleich ziehen, dann erinnert das alles ein bisschen an eine Mischung aus Bernhard und Hamsun, natürlich trotzdem völlig anders, wesentlich minimalistischer, aber mit einer feinen Nuance für erstaunliche Charaktere, die durch den verlangsamten Stil in ihren Erlebnissen umso lebendiger werden. Ähnlich intensiv wirken auch die Bücher eines anderen Norwegers, Tarjei Vesaas, beispielsweise "Die Vögel" oder "Das Eisschloss". Er ist ein Schöpfer innerer Welten, die er auf faszinierende Weise für den Leser sichtbar macht.




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#7

RE: September 2023

in Lektüreliste 22.10.2023 12:01
von Taxine • Admin | 6.678 Beiträge

Ein wirklich interessantes Buch für Bibliophile ist "Die Bibliothek des Wahnsinns" von Edward Brooke-Hitching. Hierbei handelt es sich um eine Zusammenstellung außergewöhnlicher Bücher und Schriften, die auch mit schönen Abbildungen gezeigt werden, z. B. eine Jacke, auf der eine dem Wahnsinn verfallene Frau in Heidelberg ihre Memoiren schrieb, Orakel-Knochen, die in China dazu gedacht waren, böse Geister zu vertreiben, oder Manuskripte, die später zweckentfremdet wurden, wie die Wahnsinnsgeschichte eines Kroaten, der im 19. Jahrhundert eine mumifizierte Leiche als Souvenir aus Ägypten mitnahm, deren Leinen eines der ältesten Funde der etruskischen Schrift enthielt, ohne dass er es wusste. Sein Souvenir stand als Dekoration über Jahre in einer Ecke herum. Erst sein Bruder entdeckte nach seinem Tod das wertvolle Beiwerk. Alte Manuskripte wurden dafür häufig genutzt, um beispielsweise in Kleidung verarbeitet zu werden. Über die Leinen der Mumie heißt es:
"Das auf ca. 250 v. Chr. datierte Werk, das heute als „Liber Linteus Zagrabiensis“ bekannt ist, bestand zunächst aus einer etwa 3,4 Meter breiten Leinwand, die dann auf zwölf Seiten gefaltet und als Schreibmaterial mit schwarzer und und roter Tinte beschrieben wurde."
Man nimmt an, dass es sich um einen religiösen Kalender handelt.

Die Griechen und Ägypter wiederum nutzten Fluchtafeln und Totenpässe. Erstere verwünschten jemanden, letztere wurden als Kapseln um den Hals der Toten gebunden und enthielten Anweisungen und ganze Textpassagen für das Gespräch vor dem Jüngsten Gericht.
Vorgestellt werden auch wunderbar makabre Bücher, darunter ein Gebetsbuch mit verborgener Waffe, die über das Lesezeichen abgefeuert werden konnte und für den Duke of Venice gefertigt wurde, oder ein Exemplar, in dem sich ein ganzer Giftschrank verbarg, mit Schubladen für giftige Pflanzen (siehe Bild).



Ich würde sagen, wenn man dieses Buch gelesen hat, wünscht man sich nur noch Paperback, gerade auch in Hinblick darauf, dass es gang und gäbe war, Bücher in Tierhaut oder gar in menschliche Haut binden zu lassen. Dafür wurde eine Weile die Haut von Verurteilten und Mördern genutzt, später auch die von Autoren selbst oder die ihrer Verehrerinnen.

Interessant ist z. B. auch, dass eine Zeitlang der Trend bestand, Bücher von dem Geist Toter schreiben zu lassen. Eine solche Version erschien u. a. 1873 vom verstorbenen Dickens, besser gesagt von Edwin Droon als spirituelles Medium, dessen Feder angeblich durch Dickens Geist gelenkt wurde, mit dem Titel: "Part Second of the Mystery of Edwin Drood, by the Spirit Pen of Charles Dickens". Solche seltsamen Exemplare sind heute noch teilweise als Ausstellungsstücke hinter Glas zu bewundern. Weitere gab es von Mark Twain, der zu diesem Zeitpunkt bereits sieben Jahre tot war, von Oscar Wilde oder von T. E. Lawrence.
Laut des Katalogs der British Library and the American Librarian Association mussten solche kuriosen Bücher unter der Autorenbezeichnung "postmortale Persönlichkeit" verzeichnet werden. Forscher stellten bei solchen Schriften allerdings fest, dass das Genie jener Toten durch das Leben nach dem Tod wohl erheblich nachgelassen hat. Umso besser verkauften sich sogenannte Planchetten und Ouija Boards, ein Brett, mit eingelassenem Stift, das in spirituellen Sitzungen dann über das Blatt geführt wurde, um mit den toten Schriftstellern zu kommunizieren.




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#8

RE: September 2023

in Lektüreliste 22.10.2023 12:14
von Sokolow • 189 Beiträge

Zitat von Taxine im Beitrag #7
(...)
Interessant ist z. B. auch, dass eine Zeitlang der Trend bestand, Bücher von dem Geist Toter schreiben zu lassen. Eine solche Version erschien u. a. 1873 vom verstorbenen Dickens, besser gesagt von Edwin Droon als spirituelles Medium, dessen Feder angeblich durch Dickens Geist gelenkt wurde, mit dem Titel: "Part Second of the Mystery of Edwin Drood, by the Spirit Pen of Charles Dickens". Solche seltsamen Exemplare sind heute noch teilweise als Ausstellungsstücke hinter Glas zu bewundern. Weitere gab es von Mark Twain, der zu diesem Zeitpunkt bereits sieben Jahre tot war, von Oscar Wilde oder von T. E. Lawrence.


Das ist genial, mein nächstes Werk schreibe nicht ich, sondern Vladimir Nabokov

zuletzt bearbeitet 22.10.2023 12:14 | nach oben springen

#9

RE: September 2023

in Lektüreliste 22.10.2023 12:20
von Taxine • Admin | 6.678 Beiträge

Das ist aber mit Vorsicht zu genießen. Oscar Wildes Geist beschimpfte beispielsweise im Nachwerk James Joyce. Was er sich dabei nur gedacht hat?




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#10

RE: September 2023

in Lektüreliste 22.10.2023 12:22
von Sokolow • 189 Beiträge

der geist nabokovs ist mir wohlgesonnen, wenn nicht der, wer sonst.

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#11

RE: September 2023

in Lektüreliste 22.10.2023 12:25
von Taxine • Admin | 6.678 Beiträge

Dann fängst du aber an, Dostojewski zu beschimpfen, und die ganze verfallene Welt der Literatur. Obwohl so ein neues Nabokov-Buch wäre schon nicht schlecht. Aber zum Glück können wir die Werke immer wieder lesen.




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#12

RE: September 2023

in Lektüreliste 22.10.2023 12:26
von Sokolow • 189 Beiträge

Zitat von Taxine im Beitrag #11
Dann fängst du aber an, Dostojewski zu beschimpfen, und die ganze verfallene Welt der Literatur. Obwohl so ein neues Nabokov-Buch wäre schon nicht schlecht. Aber zum Glück können wir die Werke immer wieder lesen.

das kann uns keiner verbieten........

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#13

RE: September 2023

in Lektüreliste 22.10.2023 12:27
von Taxine • Admin | 6.678 Beiträge

Sollen sie mal, dann gehen wir in den Untergrund und lernen alles auswendig. Herausforderungen gibt's, man glaubt es nicht.




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#14

RE: September 2023

in Lektüreliste 22.10.2023 12:32
von Sokolow • 189 Beiträge

ich dacht wir sind schon im untergrund

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#15

RE: September 2023

in Lektüreliste 22.10.2023 12:35
von Taxine • Admin | 6.678 Beiträge

Du meinst Abgrund. Und nicht einmal der eigene. Was soll man sagen. Flucht in den Elfenbeinturm ist vielleicht nicht das Schlechteste.




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