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Hirngespinste

Austausch zwischen Literatur und Kunst


#1

Textpassagen

in Zitate 17.10.2007 23:13
von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Aber ich glaube, in einem gewissen Grad von Voreingenommenheit (den die Engländer so treffend prejudice nennen) hören wir ganz ehrlich den anderen sagen, was wir von ihm zu hören erwarten und wir bekommen gewissermaßen Worte, die die Erinnerung nicht einmal entstellen muss.

Ich möchte darauf bestehen, weil ich glaube, dass das der Grund für grausame Enttäuschungen ist, in der Freundschaft ebenso sehr wie in der Liebe: wenn man den anderen nicht gleich so sieht, wie er ist, sondern zunächst eine Art Idol aus ihm macht und ihm dann übelnimmt, dass er das nicht ist, als könnte der andere etwas dafür.


(André Gide/Die Schule der Frauen)



Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 30.10.2007 13:00 | nach oben springen

#2

RE: Textpassagen

in Zitate 17.10.2007 23:19
von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Es wirkt erschütternd, welch eine Fülle von Glücksmomenten die Menschen sich entgehen lassen, nur weil sie, aus Mangel an Beziehungen, an Verbindungen nicht gewusst haben, an welche Tür sie hätten klopfen müssen. Und es liegt etwas Tragisches darin, dass jene Türen, die nichts anderes begehrten, als Paradiese zu erschließen, sich nicht auftaten, weil man dran vorübergegangen ist.

(Montherlant/"Erbarmen mit den Frauen")



Art & Vibration
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#3

RE: Textpassagen

in Zitate 17.10.2007 23:20
von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
"Sich nicht kennen heißt leben. Sich kaum kennen heißt denken.
Sich erkennen (…) heißt eine flüchtige Vorstellung von der inneren Monade zu gewinnen, vom magischen Wort der Seele. Doch dieses plötzliche Licht verbrennt, verzerrt alles. Entblößt uns sogar von uns selbst."


(Fernando Pessoa/"Das Buch der Unruhe")



Art & Vibration
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#4

RE: Textpassagen

in Zitate 04.11.2007 05:35
von Martinus • 3.195 Beiträge
"Ich starre den ganzen Tag lang die leeren Wände an, weil ich nicht glauben kann, dass die Spuren der in diesen Mauern zugefügten Schmerzen und Demütigungen sich unter einem Blick, der eindringlich genug ist, nicht offenbaren werden; oder ich schließe die Augen und versuche, mein Gehör zu schärfen für die unendlich leisen Töne, die von den Schreien aller, die hier gelitten haben, stammen müssen und noch von Wand zu Wand wiederhallen. Ich bete, dass der Tag kommt, an dem diese Mauern eingerissen werden und die ruhelosen Echos schließlich entweichen können; obwohl es schwer ist, das Geräusch von Ziegel zu Ziegel beim Mauern ganz in der Nähe zu ignorieren."

J.M. Coetzee - "Das Warten auf die Barbaren"



„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
zuletzt bearbeitet 04.11.2007 05:36 | nach oben springen

#5

RE: Textpassagen

in Zitate 07.05.2008 20:35
von larifant • 270 Beiträge

"Nur zuweilen verspürte er eine eigenartige, hochkomplexe Regung, die sich nach still-kontemplativer Analyse als Selbstneid entpuppte und in der Maslow'schen Bedürfnispyramide ganz oben angesiedelt war, nämlich als äußerst seltene, kulturspezifische Form der Freude."

David Foster Wallace - "TV der Leiden"

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#6

RE: Textpassagen

in Zitate 11.05.2008 19:58
von Martinus • 3.195 Beiträge

Ganz allgemein hatten die Kirchen für mich, der ich sie zu oft an Wochentagen besuchte - wenn der Küster den Abndmahltisch wie eine Packkiste herumschob und die Kaugummi-Hüllen zusammenfegte, die in den hochheiligen Bezirken des Chores unverschämt glitzerten -, ebensoviel mit Gott zu tun wie Plakattafeln mit Coca-Cola: sie forderten den Durst, ohne ihn zu löschen.

John Updike in "Der Sonntagsmonat"




„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
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#7

RE: Textpassagen

in Zitate 25.05.2008 19:40
von Martinus • 3.195 Beiträge

aus Philip Roth: Exit Ghost

"Wenn man das Werk eines Schriftstellers zwanzig oder dreißig Jahre lang nicht mehr gelesen hat und dann ein solches Experiment unternimmt, weiß man nicht, was dabei herauskommen wird: Vielleicht stellt man fest, dass der einst bewunderte Autor völlig veraltet ist oder dass die damalige Begeisterung von Naivität gespeist war."





„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
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#8

RE: Textpassagen

in Zitate 02.07.2008 20:07
von Martinus • 3.195 Beiträge
In diesem Thread hatte ich ja schon einmal ein Zitat von J.M. Coetzee. Was für ein Wortzauberer

"Ich werde meine Röcke hochwickeln und im Seichten waten und von einem Krebs gezwickt werden, einem Einsiedlerkrebs, als kosmischer Witz, und werde auf den Horizont blicken und seufzen über die Unermeßlichkeit alles dessen, werde meine Sandwiches essen, das frische Sauerteigbrot und die eingemachten süßen grünen Feigen kaum schmeckend, und an meine Bedeutungslosigkeit denken. Dann, geläutert, ernüchtert, werde ich mit dem Zug wieder nach Hause fahren und auf der Veranda sitzen und die flammenden Sonnenuntergänge betrachten, die Karminrots, die Rosas, die Violetts, die Orangerots, die Blutrots, und werde schwer atmen und seufzen und den Kopf auf die Brust sinken lassen und hesperische Tränen weinen um mich, um das Leben, das ich nicht gelebt habe, die Freude und Bereitwilligkeit eines unbenutzten Körpers, der nun staubig ist, vertrocknet, abstoßend, und um das langsamer werdende Pulsieren meines Blutes."


J.M. Coetzee: "Im Herzen des Landes"



„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
zuletzt bearbeitet 02.07.2008 20:18 | nach oben springen

#9

RE: Textpassagen

in Zitate 20.07.2008 17:23
von Zypresserich (gelöscht)
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Was für eine herrliche Textstelle, Martinus. Autor & Buch is on my list.

Zitat von Pynchon – Gegen den Strom, Seite 864, 865
Manchmal fragte sie sich, was er aus dem amerikanischen Licht gemacht hätte. Sie hatte, eingehüllt in Schlaflosigkeit, stundenlang dagesessen und die Felder von erleuchteten und dunklen Fenstern betrachtet, die Tausende von sensitiven Flammen und Glühfäden, die wogten wie von Meereswellen getragen, die gebrochenen, dahinrollenden Oberflächen der großen Städte, und hatte sich die Vorstellung gestattet, sie würde dorthin gehören, und sich beinahe darein gefügt, niemals dorthin zu gehören – seit ihrer Kindheit, als sie mit Merle an diesen kleinen, vollkommenen Städtchen vorbeigefahren war, sich nach den Lichtern an Bachufern gesehnt hatte, nach den Lichtern, die die Umrisse von über große Flüsse geschlagenen Brücken nachgezeichnet hatten, die durch Kirchenfenster oder sommerliche Bäume geschimmert hatten, den Lichtern, die leuchtende Parabeln auf fahle Backsteinmauern gemalt hatten oder von einem Heiligenschein aus schwirrenden Insekten umgeben waren, nach Laternen auf bäuerlichen Fuhrwerken, nach Kerzen hinter Fenstern, und jeder Lichtschein hatte zu einem Leben gehört, das es schon vorher gegeben hatte und das nachher fortgesetzt werden würde, wenn sie und Merle und der Wagen längst weitergefahren waren, wenn das stumme Land sich wieder erhoben und die kurze Erscheinung ausgelöscht hatte, dieses nie ganz eindeutig gemachte Angebot, dieses nie ganz ausgeteilte Kartenblatt ...
zuletzt bearbeitet 20.07.2008 17:50 | nach oben springen

#10

RE: Textpassagen

in Zitate 23.07.2008 17:24
von Zypresserich (gelöscht)
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Zitat von Boris Vian - Die Ameisen
Ich stehe immer noch auf der Mine. Heute morgen sind wir auf Patrouille gegangen, und wie immer ging ich als letzter, sie sind alle daran vorbeigelaufen, aber ich habe das Klicken unter meinem Fuß gehört und bin sofort stehengeblieben. Die Dinger gehen erst los, wenn man seinen Fuß wegnimmt. Ich habe den anderen zugeworfen, was ich einstecken hatte und habe ihnen gesagt, sie sollen weggehen. Ich bin ganz allein. Ich soll warten, bis sie wiederkommen, aber ich habe ihnen gesagt, sie sollen nicht wiederkommen, und ich könnte versuchen, mich flach auf den Bauch zu werfen, aber ich habe Angst, dann vielleicht ohne Beine leben zu müssen. Ich habe nur mein Notizbuch und den Bleistift behalten. Ich werde sie wegwerfen, bevor ich mich auf das andere Bein stelle, und das muß ich, weil ich den Krieg satt habe und weil mir die Ameisen kommen.

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#11

RE: Textpassagen

in Zitate 17.08.2008 17:10
von Martinus • 3.195 Beiträge

Wahrhaft schön kann nur sein, was keinem Zweck zu dienen vermag; alles Nützliche ist häßlich, denn es ist der Ausdruck bestimmter Bedürfnisse; und die des Menschen sind widerwärtig und abscheulich wie seine armselige und gebrechliche Natur. Das nützlichste Zimmer in einem Haus ist das Klosett.

Théophile Gautier, aus dem Vorwort zu "Mademoiselle de Maupin"




„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
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#12

RE: Textpassagen

in Zitate 23.11.2008 22:56
von Zypresserich (gelöscht)
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Zitat von wolfig thomasig
Jeder von uns stellt alle Summen dar, die er nicht zusammengezählt hat. Versetze uns in Nacht und Nacktheit zurück, und du wirst erkennen, dass die Liebe, die gestern in Texas endete, vor viertausend Jahren auf Kreta begann.
Der Same unseres Verfalls wird in der Wüste blühen, am Fels wächst das Heilkraut, und unser Leben wird von einer Hure aus Georgia heimgesucht, weil ein Londoner Taschendieb ungehenkt blieb. Jeder Augenblick ist die Frucht von vierzigtausend Jahren. Die minutenerntenden Tage summen wie Fliegen heimwärts, dem Tod entgegen, und jeder Augenblick ist ein Fenster, das auf die Zeit hinausweist.


aus Thomas Wolfe - Schau heimwärts, Engel!

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#13

RE: Textpassagen

in Zitate 27.11.2008 22:12
von Zypresserich (gelöscht)
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Zitat von was Millers Henry so schrieb
Ich bin August Angst, der sich einen melancholischen Bart wachsen lässt. Ich bin eine Drohne, deren einzige Funktion es ist, Samenfäden in den Spucknapf der Pein zu schießen. Ich bringe Orgasmen mit zygomatischem Fanatismus zuwege. Ich beiße in den Bart, der ihren Mund wie Moos bedeckt. Ich kaue dicke Stücke aus meiner eigenen Melancholie und spucke sie aus wie Kakerlaken.

aus Henry Miller – Sexus.

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#14

RE: Textpassagen

in Zitate 30.11.2008 16:47
von Martinus • 3.195 Beiträge

"Wir erreichen nur, worauf wir hundertprozentig konzentriert sind und zwar auch im sogenannten Unterbewußtsein, wenn wir die längste Zeit bis zu dem Zeitpunkt der Vollendung unseres Zieles auf nichts anderes als nur auf dieses Ziel hören."

Thomas Bernhard in "Korrektur"




„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
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#15

RE: Textpassagen

in Zitate 02.01.2009 11:40
von Martinus • 3.195 Beiträge
"Da waren die, die behaupteten, daß ihr Leben bereits festgelegt war, als sie sich noch blind im Leib von Mrs. Quest zusammenkauerte. Sie durchlief Fisch- und Eidechsen- und Affenphasen, schaukelte in den Wassern uralter Meere, die Ohren eingehüllt vom Rhythmus der Gezeiten. Doch diese Gezeiten, das pulsierende Blut von Mrs.Quest, sangen Martha keine ungewissen Botschaften, sondern Lieder von Haß, Liebe, Furcht oder Groll, die wie ein Verhängnis in das passive Hirn des Kindes sanken.

Dann gab es die, die behaupteten, die Geburt selbst sei es, die Martha auf eine vom Schicksal vorgezeichneten Weg gebracht habe. Es geschah während der langen Schreckensnacht, der Nacht der schwierigen Geburt, als der Leib von Mrs. Quest sich wand und mühte, seine Last durch die widerstrebenden Pforten der Knochen auszustoßen (denn Mrs. Quest war für eine Erstgebärende relativ alt), es geschah während dieser Geburt, aus der Martha geschockt und erschöpft auftauchte, das Gesicht fürs erste purpurrot verschrammt von der Zange, daß ihr Charakter und damit das Leben vorgezeichnet wurde."


aus Doris Lessing, Martha Quest, Seite 17/18, Stuttgart, 1981



„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
zuletzt bearbeitet 02.01.2009 11:43 | nach oben springen


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