HirngespinsteAustausch zwischen Literatur und Kunst |
|
Zitat von aus Peter Handke - Der kurze Brief zum langen Abschied
Ich zog den Vorhang wieder weg und schaute hinaus, ohne eine Einzelheit wahrzunehmen. Ein gleichmäßiger Rhythmus vor dem Fenster schläferte mich ein und ließ mich doch aufmerksam werden. Auf einem kleinen Hügel stand in einiger Entfernung eine Zypresse. Ihre Zweige sahen in der Dämmerung noch fast kahl aus. Sie schwankte leicht hin und her, in einer Bewegung, die dem eigenen Atem glich. Ich vergaß sie wieder, aber während ich dann auch mich selber vergaß und nur noch hinausstarrte, rückte die Zypresse sanft schwankend mit jedem Atemzug näher und drang mir schließlich bis in die Brust hinein. Ich stand regungslos, die Ader im Kopf hörte auf zu schlagen, das Herz setzte aus. Ich atmete nicht mehr, die Haut starb ab, und mit einem willenlosen Wohlgefühl spürte ich, wie die Bewegung der Zypresse die Funktion des Atemzentrums übernahm, mich in sich mitschwanken ließ, sich von mir befreite, wie ich aufhörte, ein Widerstand zu sein, und endlich als Überzähliger aus ihrem sanften Spiel ausschied.
Wären wir Geister, so wohnten wir in der Sphäre jener Idee, über der unsere Seele schwebt, wenn sie sie erraten will. – Wir sind aber erdgeborene Menschen und müssen die Idee erraten, können sie jedoch nicht von allen Seiten zugleich erfassen. Der Leiter des Gedankens durch die vergängliche Hülle ins Innere der Seele heißt Verstand. Der Verstand ist eine materielle Fähigkeit; doch die Seele oder der Geist leben von den Gedanken, die ihnen das Herz zuflüstert. Der Gedanke wird in der Seele geboren. – Der Verstand ist ein Werkzeug, eine Maschine, die vom seelischen Feuer angetrieben wird. Wenn der Verstand des Menschen (…) in das Gebiet des Wesens eindringt, so wirkt er unabhängig vom Gefühl und folglich auch vom Herzen. Wenn aber das Ziel der Erkenntnis die Liebe oder die Natur ist, so beginnt hier das ureigenste Gebiet des Herzens …
(Dostojewski "Briefe")
und
Mein Gott, es gibt so viele hässliche, gemeine unbeschränkte graubärtige Philosophen, Lebenskünstler und Pharisäer, die auf ihre Lebenserfahrung, das heißt Unpersönlichkeit (denn sie sind alle nach der gleichen Schablone gearbeitet) stolz sind, zu nichts taugen, die immerwährend Zufriedenheit mit dem Schicksal, einem Glauben an irgend etwas, Beschränkung im Leben und Zufriedenheit mit seiner Lage predigen und dabei gar nicht an den Sinn dieser Worte denken; denn ihre Zufriedenheit gleicht der klösterlichen Selbstkasteiung; sie verurteilen mit unendlich kleinlicher Gehässigkeit die starke, glühende Seele eines jeden, der sich ihrem abgeschmackten Tagesprogramm und Lebenskalender nicht fügen will. Wie gemein sind doch diese Prediger des falschen irdischen Glückes!
(na wo wohl, natürlich: e.d.)
Art & Vibration
Zitat von TaxineDie Geburt des Persönlichkeitsabspaltungsmerkmals Zypresserich erfolgte Mitte letzten Jahres, die Lektüre des zitierten Textes zeitnah zum Posten. Und: Im Anfang war die Namenlosigkeit.
Ist der Name "Zypresserich" vor oder nach dem Lesen dieser Passage entstanden?
............
Wenn wir in Betracht ziehen, wieviel Zeit vergangen ist, seit Joyce, Woolf, Stein und andere geniale Schriftsteller der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts die Erzählkunst veränderten, dann ist es erstaunlich, daß der zeitgenössische Roman so wenig davon beeinflußt ist."
aus Erica Jong, Der Teufel in Person, Seite 293
„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
Zitat von aus Thomas Pynchon - Die Enden der Parabel
«Es ist ein Arrangement», erklärt sie ihm. «Hier draußen ist alles so unorganisiert. Man muß sich einfach arrangieren. Du wirst schon sehen.» Natürlich wird er – Tausende von Malen wird er sehen, wie man sich arrangiert für Wärme, Liebe, Essen, fürs Vorwärtskommen über Straßen, Schienen und Kanäle. Selbst die G 5, die ihre Phantasie auslebt, im Augenblick die einzige Regierung Deutschlands zu sein, ist nur ein Arrangement mit der Tatsache des Sieges, sonst nichts. Weder mehr noch weniger real als all die anderen Übereinkünfte, die so privat und unauffällig sind, so verloren an die Geschichte.
Zitat von aus DF Wallace – Unendlicher Spaß
Sie hat die Fähigkeit verloren, sich vorzumachen, sie könne die Droge aufgeben oder auch nur weiterhin genießen. Sie steckt nicht mehr ihre Grenzen ab und füllt das Loch. Sie steckt nicht mehr die Grenzen des Lochs ab. ... Eines Nachts war sie von der letzten U-Bahn nach Hause gesaust und hatte endlich nicht mehr die Augen vor der Situation verschlossen, vor der Zwickmühle, dass sie es nicht mehr mochte, sondern hasste und aufhören wollte, aber nicht aufhören oder sich auch nur vorstellen konnte, aufzuhören oder ohne zu leben.
Zitat von LX.C
Zieht sie Konsequenzen?
An der Stelle, an der ich gerade bin, versucht sie sich drogisch auszulöschen (Joelle van Dyne heißt die Dame). Dass sie dann aber doch nicht tot ist und in einer Heilanstalt landet (vermutlich 1000 Seiten hinter dem Punkt, an dem ich gerade bin, S. 346), hab ich mir noch nicht angelesen, sondern im Netz recherchiert, weil's die Stelle zu diesem Zeitpunkt ziemlich im Unklaren lässt.
Zitat von Zwetajewa
"Ja, natürlich, das Mädchen muß. Das Mädchen, muß, muß, muß."
Überzeugt, daß ich keine Antwort bekomme, nun dringlicher: "Sie muß mal auf ein gewisses Örtchen."
"A-a-ach! Das haben wir nicht. Ein Örtchen haben wir nicht, aber einen Ort so groß, wies beliebt, der ganze Platz, den Sie vor dem Fenster sehen. Im Schoß der Natur, überall, überall, überall! Das nennt sich nun – WESTEN" (wie eine Schlange zischend) "Zivilisation."
[…]
Und nun schon wie ein legalisierender Refrain: "Das Mädchen, muß, muß, muß."
"Alja, daß du dich nicht schämst! Direkt vor dem Fenster!" – "Erstens habt ihr viel zu lange miteinander geredet, zweitens – sieht er sowieso nichts." – "Wieso sieht er nichts? meinst du, er ist blind?" – "Nicht blind, aber verrückt. Er ist ein sehr ruhiger, sehr höflicher, aber doch r i c h t i g e r Verrückter. Sehen Sie nicht, dass er fortwährend auf einen unsichtbaren Feind blickt?"
Quelle: Zwetajewa, Marina: Die Begegnung, in: Russen in Berlin, Hrg. Fritz Mierau, Reclam, Leipzig 1991, S. 33-34
Großartig die Erzählung über Belyj. :))
--------------
[i]Poka![/i]
Zitat von LX.C
Großartig die Erzählung über Belyj. :))
Ja... nich? Man gewinnt ihn richtig lieb, diesen am Stück poetisierenden Verrückten.
Oder die Stelle:
Zitat von Zwetajewa über Belyj
"Darum ist es so entsetzlich, vor einem Menschen zu schlafen. Ich kann in Anwesenheit eines anderen überhaupt nicht schlafen. In Rußland" (er wendet den Kopf in Richtung Rußland) "habe ich darunter manchmal entsetzlich gelitten, bin mitten in der Nacht aufgestanden und weggegangen. Du schläfst ein, der andere erwacht - und sieht zu. Er mustert dich mit äußerst aufmerksamen Blicken - und du wirst behext. Nicht einmal vom bösen Blick, ganz einfach - von den Augen. Am meisten fürchtete ich, als ich aus Rußland wegfuhr, dass ich unter fremden Blicken aus dem Schlaf erwache. Ich fürchtete mich einfach zu schlafen, bemühte mich, nicht zu schlafen, stand im Gang und blickte auf die Sterne." (An einen der Verleger gewandt:) "Sprechen Sie im Schlaf? Ich - schreie."
Art & Vibration
Zitat von Belyj
Na schön! Wissen Sie, ich habe doch Angst vor Kindern. […] W-a-h-n-sinnige Angst habe ich vor ihnen. Oh, schon von Kindheit an! […] Sie haben mir alles kaputt gemacht. Wenn sie kamen, war das ein richtiger Truppeneinmarsch […] Die und Engel? […] Und sagen sie nicht etwa, ohne Absicht, kaum – ohne Absicht, immer – mutwillig, alles mutwillig, boshaft, hinterhältig, heimtückisch – i s t es so oder nicht? Oh wie die wilden Tiere sind sie, dulden nichts Fremdes und wittern das Schwache.
Quelle: Zwetajewa, Marina: Die Begegnung, in: Russen in Berlin, Hrg. Fritz Mierau, Reclam, Leipzig 1991, S. 32-33
Herzzerreißend auch, wie er sein verlorenes Manuskript sucht.
--------------
[i]Poka![/i]
Zitat von LX.C
Man gewinnt ihn lieb ja, aber irgendwie entwickelt man auch Mitleid. So lustig vieles ist, birgt es doch so eine tiefe und traurige Verlorenheit.
Ja, unbedingt. Seine Exaltation vibriert in jeder Äußerung. Man spürt richtig die Anspannung seiner Nerven. (Und die wunderbare Marina hat's toll ins Wort gemeißelt.) Es ist beim Lesen eine Art Liebgewinnen mit blutigem Herzen. Wenn man dann aber Belyjs Gedanken zu Berlin liest, wird einem wieder etwas freudiger ums Herz.
Ich wüsste gerne mehr über seine Zweifel zu Steiner und diese Verdächtigung, dass Steiner ihm nicht das ganze Wissen von den geistigen Möglichkeiten des Menschen anvertraut hat. Weißt du darüber genaueres? Es gibt ja seine "Geheimen Aufzeichnungen" und "Verwandeln des Lebens" - Erinnerungen an Rudolf Steiner, nur weiß ich natürlich nicht, ob sich darin etwas zu diesem Thema finden lässt.
Die Erschütterung durch die Trennung und Nichtrückgewinnung seiner Frau ist auch nachvollziehbar. Darum auch diese Stelle hier zitiert, wo er zu Zwetajewa sagt:
Zitat von Zwetajewa Seite 31
Ich denke - ich bin kein Dichter. Ich kann - jahrelang keine Verse schreiben. Also bin ich kein Dichter. Und nun, nach Ihrer "Trennung", - da kam es geströmt. Ich kann nicht aufhören. Ich schreibe Sie - weiter.
Art & Vibration
Interessant auch die unterschiedliche Sicht auf Berlin.
Zitat von Belyj
Berlin ist ein organisierter, systematisch realisierter Alptraum, dargeboten in der unschuldigen Form des normalen, gesunden (bourgeoisen) Menschenverstandes: Sinn und Widersinn.
Es gibt keine Widersinnigkeit, die den Durchschnittsdeutschen von heute überraschen könnte; auf dem Kurfürstendamm habe ich mich später oft gefragt: "Was müßte ich tun, um zu überraschen?" Und ich muß mir eingestehen – der Berliner ist durch nichts zu überraschen.
Quelle: Bely, Andrej: Wie schön es in Berlin ist, in: Russen in Berlin, Hrg. Fritz Mierau, Reclam, Leipzig 1991, S. 66-67.
Zitat von Remisow
Aber wissen Sie, ich habe es hier jetzt im Ausland erfahren, daß es für einen russischen Schriftsteller hier vielleicht noch schwerer ist, es ist ihm nicht nur unmöglich zu schreiben, sondern es gibt für ihn einfach nichts zu schreiben: denn nur in Rußland geschieht ja etwas, hier ist für einen Russen die "Wüste".
Quelle: Remisow, Alexej: Aus dem flammenden Russland zu den Sternen, in: Russen in Berlin, Hrg. Fritz Mierau, Reclam, Leipzig 1991, S. 83.
--------------
[i]Poka![/i]