HirngespinsteAustausch zwischen Literatur und Kunst |
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Zitat von LX.C
Aber was ist "zentralseröse Chorioretinopathi"?
„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
Au retour, il avisa sur un musée une affiche illisible pour moi.
- Voulez-vous visiter cette exposition? me demanda-t-il.
Avais-je envie de voir une exposition dont j'ignorais tout? Oui.
- Je viendrai vous chercher demain après-midi, dit-il.
J'aimais l'idée de ne pas savoir si j'allais voir de la peinture, de la sculpture ou une rétrospective de divers bidules. Il faudrait toujours se rendre dans les expositions ainsi, par hasard, en toute ignorance. Quelqu'un veut nous montrer quelque chose: cela seul compte.
Übersetzung:
Auf dem Rückweg deutete er an einem Museum auf ein Plakat, dessen Text ich nicht entziffern konnte.
" Möchten Sie in diese Ausstellung gehen?" wollte er wissen.
Hatte ich Lust darauf, eine Ausstellung zu besuchen, über die ich rein gar nichts wusste? Ja.
"Ich hole Sie morgen nachmittag ab, " sagte er.
Ich mochte die Vorstellung, nicht zu wissen, ob ich Gemälde, Skulpturen oder eine Retrospektive von irgendwelchem seltsamen Krempel ansehen würde. So müsste man immer in Ausstellungen gehen: rein zufällig, völlig unwissend. Jemand möchte uns etwas zeigen: nur das zählt.
(Amélie Nothomb in: "Ni d'Eve, ni d'Adam") - Herrlich!
Heinrich sah den Pastor furchtsam an, ob er vielleicht den Rohrstab aufheben möchte, um ihn zu schlagen; denn das war so seine Gewohnheit, wenn er die Kinder spielen sah; doch er tat’s jetzt nicht, er sagte nur: „Geh herunter und stell dich da hin, wirf den närrischen Mantel von dir!“ Heinrich gehorchte gern; Stollbein fuhr fort: „Ich glaub’, du hast wohl den Pastor im Kopf?“
„Ich hab’ kein Geld zu studieren.“
„Du sollst nicht Pastor, sondern Schulmeister werden!“
„Das will ich gern, Herr Pastor! Aber wenn unser Herrgott nun haben wollte, daß ich Pastor oder ein anderer gelehrter Mann werden sollte, muß ich dann sagen: ‚Nein, lieber Gott! Ich will Schulmeister bleiben, der Herr Pastor will’s nicht haben?’“
„Halt’s Maul, du Esel! Weißt du nicht, wen du vor dir hast?“
Jung, Johann Heinrich: Heinrich Stillings Jugend, Vorländer, Siegen 1982, S. 104.
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[i]Poka![/i]
Wenn man den tschechowschen Intelligenzlern auf ihr stets banges Fragen nach der Welt – wie sie in zwanzig, dreißig, vierzig Jahren wohl aussieht – geantwortet hätte, daß in Russland die peinliche Befragung eingeführt sein würde, die da war: den Schädel mit einem Eisenring zusamenzupressen, den Angeklagten in ein Säurebad tauchen, ihn nackt und gefesselt den Ameisen oder Wanzen aussetzen, ihm eine glühende Stahlrute in den After treiben („Geheimstempel“), langsam mit dem Stiefel seine Geschlechtsteile zertreten und, als leichtester Grad, ihn tagelang mit Schlaflosigkeit und Durst matern, ihn zu einem blutigen Klumpen schlagen – dann wäre kein Tschechow-Stück zu Ende gegangen, dies hätte alle Helden ins Irrenhaus gebracht. […] Was zu Zar Alexej Michailowitsch noch paßte, was unter Peter I. bereits als barbarisch empfunden wurde, was unter Biron an zehn bis zwanzig Personen angewandt werden konnte und seit der großen Katharina völlig unmöglich war, das wurde in der Blütezeit des brillanten 20. Jahrhunderts, in einer Gesellschaft, die nach sozialistischen Grundsätzen geplant war […] vollzogen […] von Zehntausend darauf gedrillten Menschenbestien an wehrlosen Millionen von Opfern.
Solschenizyn, Alexander: Der Archipel Gulag, Fischer, Frankfurt/M. 2008, S. 52.
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[i]Poka![/i]
Wie wirkt das Buch auf dich, LX.C?
Ich meine jetzt, viele Tage diese, für uns, doch eigentlich unfassbaren Grausamkeiten zu lesen.
Was bleibt, in dir, durch diese Lektüre?
(Interessiert mich, weil, ich habe durch dieses Buch, und das bis auf den heutigen Tag, so gewisse "Sinnfrüchte" geerntet.
Bleibende und damit einwohnende Abscheu vor so Allerlei. Sozusagen.)
Na ja, hab ja schon einiges zu dem Thema gelesen. Zwar noch nie so konzentriert, aber wirklich überraschen tut es mich also nicht. Bin auch noch nicht weit. Wie nachhaltig die Lektüre selbst wirken wird, kann ich noch nicht sagen. Sich dem Thema immer wieder zu widmen, sich damit auseinanderzusetzen und sich zu vergegenwärtigen, zu was Menschen fähig sind, ist mir jedoch sehr wichtig.
Wirklich überrascht hat mich Solschenizyns These oder Behauptung, dass Stalin kurz vor seinem Tod einen erneuten systematischen Holocaust geplant hatte. Ein Wahnsinn alles.
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[i]Poka![/i]
Vielleicht ist das Buch dann lohnend.
Ein Staat gegen sein Volk - Das Schwarzbuch des Kommunismus / Sowjetunion
von Nicolas Werth
Dass Stalin nicht Charlie Chaplins Onkel gewesen ist, war mir klar. Während ich jedoch dieses Buch gelesen habe, blieb mir mehrmals der Mund offen stehen. Parallelen zu dem Wahnsinn der Nazis gibt es reichlich. Gegen Stalin war Hitler ja noch berechenbar. Bloß gut dass alle Menchen sterben müssen. Sehr aufregendes Teil. Chronologisch belegt treibt ein Fakt den anderen. Mit Namensregister, ein paar Karten und Belegung durch 384 Quellen.
Um dem Thread gerecht zu werden:
"Es geht den Autoren nicht um Apologie, sondern um Aufklärung." Heinrich A. Winkler Die Zeit
www.dostojewski.eu
Offenbar kommt jeder von uns als Lehrer des anderen auf die Welt, um den Wirrwarr des Lebens möglichst zu komplizieren. Ich habe noch keinen Menschen gesehen, der ganz frei gewesen wäre von dem hässlichen Drange, seine Mitmenschen zu belehren. Und obwohl man mir gesagt hat, dieses Laster sei im Interesse der sozialen Evolution dringend notwendig, bleibe ich doch bei der Überzeugung, dass die soziale Evolution an Tempo und Menschlichkeit bedeutend gewinnen würde und die Menschen sehr viel origineller sein könnten, wenn sie weniger andere belehren und statt dessen lieber selbst mehr lernen wollten.
(Gefunden im Essay von Maxim Gorki über Sofja Andrejewna Tolstoja)
Art & Vibration
"Man sieht schon, diese Aufzeichnungen handeln fast gar nicht von den Nazis, über die ich wenig aussagen kann, sondern von den schwierigen, neurotischen Menschen, auf die sie stießen, Familien, die ebenso wenig wie ihre christlichen Nachbarn ein ideales Leben geführt hatten. Wenn ich den Leuten erzähle, meine Mutter sei auf meinen Vater eifersüchtig gewesen, als dieser in Frankreich war, und daß sich die beiden in den letzten gemeinsamen Jahren gestritten hätten, daß meine Mutter und ihre Schwester einander in meinem Beisein buchstäblich an den Haaren gerissen hätten, so daß sich meine Großtante beschwörend zwischen ihre Nichten warf, und daß ich meine Mutter, ohne mit der Wimper zu zucken, die verschiedensten kleinen und kleinlichen Bosheiten und Grausamkeiten vorwerfen und nachweisen kann, so tun die Leute erstaunt und sagen, unter solchen Umständen wie denen, welche ihr in der Hitlerzeit auszustehen hattet, hätten die Verfolgten sich doch näher kommen sollen. Besonders die jungen Leute hätten das tun sollen (so die Alten). Das ist rührseliger Unsinn und beruht auf fatalen Vorstellungen von Läuterung durch Leid.
Im stillen Kämmerlein und für die eigene Person weiß so ziemlich jeder, wie es wirklich zugeht: Wo es mehr auszuhalten gibt, wird auch die immer prekärere Duldsamkeit für den Nächsten fadenscheiniger, und die Familienbande werden rissiger. Während eines Erdbebens zerbricht erfahrungsgemäß mehr Porzellan als sonst."
Klüger, Ruth: Weiter leben. Eine Jugend. DTV, München 1994 (16. Auflage 2009), S. 56.
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[i]Poka![/i]
Niemand weiß, an welchem Tage die Augen dieses Mannes zum ersten Mal weiß wurden, und niemand kennt die Stunde, da aus seinem Herzen jede Hoffnung schwand und dieses Herz zu einem Knäuel verkrampfter Muskeln wurde, das die furchterfüllte Zeit maß. Niemand wusste es, nicht einmal er. Aber alle wussten, dass dieser Mann sich fürchtete, dass die Angst sein Leben prägte, dass sein eigener Schatten, der ihm voranschritt oder folgte, ihm stets eine Stadt ins Gedächtnis rief, wo auf einer Brücke der Schatten eines Mannes zurückgeblieben war, dessen Namen wir nie erfahren werden, selbst wenn jeder von uns tausend glückliche Jahre auf dieser Erde verbringen sollte.
(…)
Ich weiß nicht, ob ich die Geschichte dieses Mannes erzählen darf, denn ich bin nicht sein Freund gewesen: Man kann schwer mit etwas Freundschaft halten, das Augen, Herz und Seele verloren hat und von dem nur ein Häufchen Angst übrig ist.
(…)
(Der blinde Mann sagt zu ihm:) Sie denken, es wird Ihnen gelingen, etwas zu schreiben, jemanden aufzurütteln? Armer Irrer. Heutzutage hat menschliches Fühlen kein Format.
(…) Heute ist die ganze Welt ein Totenhaus. Ein gewaltiges Konzentrationslager, so groß, dass gar kein Stacheldraht gebraucht wird, weil es ohnehin kein Entkommen gibt. Die Kontemplation der Vernichtung allein bleibt übrig.
(…)
Ich verlor ihn aus den Augen, wir sahen uns monatelang nicht. In seiner Gegenwart musste ich mich immer verstellen, ich brachte nicht die Kraft auf, mit ihm zu diskutieren. Zu gut erinnerte ich mich an das Ghetto, den Aufstand, den September, und sobald ich nur daran dachte, kehrte jene Zeit zurück, und mein Hirn gefror vor Entsetzen. Ich mied diesen Menschen: Er roch nach den Ruinen des September, er hatte die Augen der erschossenen Juden, er roch wie die Menschen im August vierundvierzig, die wochenlang dalagen und mit leeren Augenhöhlen in den brennenden Himmel starrten – niemand war da, um sie zu begraben. (…)
Das Leben zwingt einen manchmal zu der großen Grausamkeit, einem anderen aus dem Weg zu gehen; wenn unsere lebendigen Nächte uns keine Schreckensbilder bringen sollen, begraben wir in Gedanken sogar diejenigen, die heute unter uns leben.
(Marek Hlasko „Finis perfectus“ (1955) – aus dem Erzählband „Hafen der Sehnsucht“)
Art & Vibration
Aus dem beeindruckenden Werk "Die Insel des zweiten Gesichts" von Vigoleis Thelen. Protagonist (Vigoleis) und seine Angebetete Beatrice befinden sich soeben in einer furchtbaren Phase des Hungers, leben in einer Art Stall mit offenem Dach, der sich als Bordell und dann als die Tarnung eines Bordells herausstellt, hinter welcher noch ganz andere Ungereimtheiten stattfinden. Kein Wunder, dass Vigoleis hier auf derartige Gedanken kommt:
Jeder Mensch hat das Recht, mit seinem Leben anzufangen, was ihm beliebt; macht er Schluss damit, so ist das seine Sache. Eine andere ist es indessen, ob das seinen Mitmenschen behagt. Die meisten erblicken darin einen Eingriff in die Natur, und wenn das jeder täte - da liegt der Haken. Aus Egoismus will der Mensch, dass auch der andere am Leben bleibe, oder von des Nächsten Hand falle, wenn er zuviel wird. "Die Ethik der pessimistischen Religion", sagt Nietzsche, "besteht in Ausflüchten vor dem Selbstmorde."
(...)
Auch ich halte den Selbstmord für eine religiöse Spielart des paradiesischen va banque, freilich nicht jeden, wo sich einer an den Kragen geht, weil das Leben zu drosselnd wird, weil der Griff in die Portokasse Fingerabdrücke hinterlassen hat, der Bankkrach nicht aufzuhalten war, das eigene Weib mit dem Schornsteinfeger schläft, was noch ganz andere Abdrücke hinterlässt, und man kann nicht dagegen an und knüpft sich den Strick. Das hat mit Selbstmord nichts zu tun, ich meine mit der edlen, metaphysischen Gattung, es sind kleinbürgerliche Verkehrsunfälle, wie sie im Urwald nicht vorkommen.
(Albert Vigoleis Thelen "Die Insel des zweiten Gesichts", S. 231/232)
Art & Vibration
"Was also muss der Mensch wissen? ‚Du mußt nur sehen, wie sich in einer neu entstandenen Ansammlung vieler Menschen sehr bald die immer gleichen Strukturen sozialer Ungleichheit und ihrer Konflikte bilden. Es geht stets um die Interessen einiger weniger, die vielen auszubeuten und zu kontrollieren. Sie haben die Zauberformel der Menschenbeherrschung entdeckt und nützen sie rücksichtslos aus. Und es geht immer um die Privilegien einer Elite, der Günstlinge der Macht, ohne die sich Macht nicht entfalten kann. Um eine Ideologie, welche die Unwissenden von der Notwendigkeit der Macht überzeugen – und ihnen Angst einpflanzen soll!'"
Wander, Fred: Das gute Leben oder Von der Fröhlichkeit im Schrecken, dtv 2009, S. 68.
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[i]Poka![/i]
Zitat
Die Menschen Dostojewskijs sind keine typischen Verallgemeinerungen wie die Menschen Tolstoijs, sondern einmalige Inkarnationen von philosophischen Ideen.
Stepun Fedor, Tolstoij und Dostojewskij
www.dostojewski.eu