HirngespinsteAustausch zwischen Literatur und Kunst |
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Übrigens... der Gorki-Text "Vom russischen Bauer" ist wirklich ein Klein-Tschewengur, warum man auch gut erkennen kann, wie wenig utopisch Platonows Roman ist. Die bäuerliche Einfalt, der Hass auf die Stadt an "Schlaubergern", die Widersprüche in den Überzeugungen und der Wechsel mal zu den einen wie auch wieder zu den anderen...
Platonow hatte nach seiner Absage beim Verlag das Werk an Gorki weitergereicht, damit dieser es nach seinem Ermessen beurteile. Vielleicht liegt darin sogar ein Zusammenhang...
Zitat von Gorki S. 124
Ich habe viele Gespräche geführt, über die verschiedensten Fragen, und sie haben in mir einen niederdrückenden Gesamteindruck hinterlassen: diese Menschen sehen viel, aber sie verstsehen verzweifelt wenig. Im besonderen haben mir die Unterhaltungen über die Reliquien bewiesen, dass die Enthüllungen des kirchlichen Truges den Argwohn und das Mißtrauen des Dorfes gegen die Stadt noch vergrößert hat. Nicht gegen die Geistlichkeit, nicht gegen die Staatsgewalt, sondern eben gegen die Stadt als gegen eine komplizierte Organisation von Schlauköpfen, die von der Arbeit und dem Getreidebesitz des Dorfes leben, die eine Menge Dinge treiben, die für den Bauern nutzlos sind, die ihn auf jede Weise zu betrügen suchen und ihn auch mit gutem Erfolg wirklich übers Ohr hauen.
Quelle: Gorki, Maxim: Vom russischen Bauern, in: Russen in Berlin, Hrg. Fritz Mierau, Reclam, Leipzig 1991, S. 124.
Art & Vibration
Toll, dass du unangesprochen meinen Eindruck bestätigst :) Musste nämlich an deine Rezension denken. Insbesondere auch bei den Worten:
Zitat von Gorki
Das Milieu [...], in dem sich die Tragödie der Russischen Revolution abgespielt hat und noch abspielt. Es ist ein Milieu von Halbwilden. Die grausamen Formen, welche die russische Revolution angenommen hat, erkläre ich aus der beispiellosen Grausamkeit des russischen Volkes.
Quelle: Gorki, Maxim: Vom russischen Bauern, in: Russen in Berlin, Hrg. Fritz Mierau, Reclam, Leipzig 1991, S. 129.
Die Problematik der Bauern hat Gorki ja auch vielfach beschäftigt. Angefangen von seinen autobiographischen Romanen, insbesondere "Meine Kindheit", aber auch in Romanen wie "Ein Sommer" und andere. Hier ist noch ein wunderbar bezeichnendes Zitat:
Zitat von Gorki
Man könnte von ihm [dem Bauern] sagen, daß er, in bestimmtem Sinne, nicht nachtragend ist: nämlich er erinnert sich nicht an das Böse, das er selber begangen hat, und nicht an das Gute, das andere für ihn getan haben.
Quelle: Gorki, Maxim: Vom russischen Bauern, in: Russen in Berlin, Hrg. Fritz Mierau, Reclam, Leipzig 1991, S. 126.
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[i]Poka![/i]
"Das Leben ist ein Geschenk der Götter; es steht uns nicht zu, seinen Wert zu bemessen. Sie schenken das Leben und nehmen es zurück, wie es ihnen beliebt; jeder ist mit seinem zufrieden; und ich preise die Götter dafür, daß sie mir gestatten zu leben, um Gutes zu tun."
Marcel Schwob (1867-1905), aus "Der Domra" (aus der Erzählsammlung "Das gespaltene Herz")
„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
aus Alabama Song von Bertolt Brecht
Oh, show us the way to the next whisky-bar
Oh, don’t ask why, oh, don’t ask why
For we must find the next whisky-bar
For if we don’t find the next whisky-bar
I tell you we must die! I tell you we must die!
Oh! Moon of Alabama
We now must say good-bye
We’ve lost our good old mamma
And must have whisky
Oh! You know why.
Und ein Mensch, glaubst du, der bleibt heil? Der geht auch kaputt. Er bleibt nicht stehen, fällt nicht um, aber er wird immer schwächer, bringt nichts mehr zustande. Seine wichtigste Beschäftigung wird die Kontrolle über sich selbst, das Verleugnen seiner Mentalität, seiner Gefühle. Er reibt sich auf in dem Kampf gegen sich selbst, stutzt seine Gedanken, ehe er sie denkt, verwirft die Worte, bevor er sie gesprochen hat, misstraut seinen eignen Urteilen, schämt sich seiner Besonderheiten, verbietet sich seine Gefühle; und wenn sie sich nicht verbieten lassen, verschweigt er sie. Schlimmer noch: Allmählich beginnt er unter der künstlichen Armut seiner Persönlichkeit zu leiden und erfindet sich neue Eigenschaften, die ihm Lob und Anerkennung einbringen. Er wird vernünftig, bedächtig, ordentlich, geschäftig. Anfangs zuckt sein misshandelter Charakter noch unter den Zwängen, aber langsam stirbt er ab, wagt sich nur noch in den Träumen hervor. Aber am Tag trägt unser armer gebremster Mensch einen Einheitscharakter, ein schönes, gemäßigtes, einsichtiges Wesen, bis er eines Tages seine ursprüngliche Art vergessen hat oder schreit vor Schmerz oder stirbt.
(Monika Maron "Flugasche")
Wie gerade gesehen, gab's auch in diesem Buch herrliche Wort-Szenen.
Art & Vibration
Gab’s? Gibt es. Tolles Buch. Na dann dazu passend.
"Verrückte Menschen erschienen mir freier als normale. Sie entzogen sich der lästigen Bewertung durch die Mitmenschen, die es bald aufgaben, die Verrückten verstehen zu wollen."
(Maron: Flugasche, Springer, Berlin 2009, S. 11)
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[i]Poka![/i]
Journalistische Praxis in der DDR, vom Feinsten.
"Morgen fahre ich nach B[itterfeld]. Ich habe diese Stadt noch nie gesehen, weiß nur, daß es als Schicksalsschlag gilt, in B. geboren zu sein.
In der Planung steht: Reportage über B. Eine sympathische Formulierung. Hieße es statt dessen: Porträt über den Arbeiter Soundso, dahinter in Klammern: wurde am 7. Oktober mit dem >Banner der Arbeit< ausgezeichnet, brauchte ich nicht nach B. zu fahren. Ich könnte einen ähnlichen Beitrag der letzten Jahre heraussuchen, telefonisch Alter, Haar- und Augenfarbe des Kollegen Soundso erkunden, eventuell auch einige auffällige Wesenszüge, und könnte beginnen: Der Kollege Soundso aus B. ist ein bescheidener (bzw. lebhafter) Mann um Vierzig (bzw. Dreißig oder Fünfzig), der mich, während er über seine Arbeit spricht, aus seinen blauen (bzw. braunen) Augen ernst (bzw. heiter) ansieht. Undsoweiter, undsofort."
(Maron: Flugasche, Springer, Berlin 2009, S. 15)
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[i]Poka![/i]
"Das neue Jahrtausend war noch ganz frisch, minderjährig und unerfahren, als es zu hören bekam, daß es, sosehr es sich strecken und recken würde, nimmer voll beschäftigt werde. Die Arbeit, hieß es, lange nicht mehr hin, die friedliche jedenfalls, und es müsse sich anders die Zeit vertreiben. Das war in die Wiege gesagt; der rosige Bastard lächelte schläfrig und saugte noch die Milch der Illusionen. Die Mutter hatte ihn vorzeitig geworfen – während der Karneval in den Fernsehsendern und Parlamenten begann, und er tobte gleich mit in seinem kotigen Kostüm: und Spaß war wohl das Wort, das er zuerst buchstabierte. Die dunkle Prognose mußte dem Neugeborenen eine helle Aussicht dünken, sosehr die alten Männer sie verdüsterten. Sie hatten gerade Grund, die Zukunft zu beklagen, nachdem die Vergangenheit vertan worden war. Das Große Umsonst hieß das Stück, das seit sie denken konnten gespielt wurde, Krieg und Unzucht! Krieg und Unzucht! wie in Shakespeares Tagen. Umsonst, mußte es scheinen, war nicht nur der Tod, auch das Leben; jetzt sollte es auch die Arbeit sein, wenn man daran riechen durfte: unbezahlbar, unentlohnt."
(Braun, Volker: Machwerk oder Das Schichtbuch des Flick von Lauchhammer, Suhrkamp, Frankfurt/M 2008, S. 11.)
Ich sag's ja: "Braun bleibt gesellschaftskritisch, bis heute."
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[i]Poka![/i]
Zitat
Wo man den Egoismus vermutete, um ihn in flüchtigen Bösesprechungs-Verfahren zu verdammen, findet man bei genauerem Hinsehen die Matrix der herausragendsten Tugenden. Ist dies offengelegt, sind die Demütigen an der Reihe, zu erklären, wie sie es mit dem Hervorragenden halten.
Peter Sloterdijk: Du musst dein Leben ändern. S. 378.
Zitat von LX.C
Bereitest du dich auf die Vorsätze fürs neue Jahr vor?
Eher nicht; hab ich irgendwann wegen Zwecklosigkeit bleiben lassen, das mit den Vorsätzen. Kommt ja eh alles anders, als man vorsatzt, meist total anders, so schwarzschwanig ungeahnt, aus Seitengassen in Trenchcoats mit Halloweenmasken, das olle Schicksal. Allein das Kapitel über Ego etc. in Sloterdijks ansonsten viel zu verschwurbelt geschriebenem Werk ist ausnahmsweise mal ganz gut. Ansonsten halte ich nicht so viel von dem (Buch). Meiner Meinung nach sollten Erkenntnisse/Essenzen lesbar (einfach) sein, ohne dass man bei jedem Satz ein Fremdwörterbuch neben sich liegen haben muss. Das ist bei diesem Buch nicht gegeben. Ich selbst bin außerdem eher der In-Demut-vor-dem-Schicksal-verneig-Typ, der seine Päckchen brav trägt (wenn auch oft widerwillig), was nicht heißt, dass ich mir in meinen, zurzeit relativ engen, Freiräumen nicht auch meine Ziele setze. Allerdings stimmt es wohl auch, dass man mit zunehmendem Alter (ich gehe immerhin schwer auf die 50 zu ) irgendwie andere Prioritäten setzt. Bin für mich inzwischen so genügsam geworden, dass ich froh bin, morgens aufstehen zu können, ohne dass mir die Gräten schmerzen, dass ich noch ohne Brille gucken kann, dass ich keine Zahnschmerzen habe, dass die Kinder gesund sind, dass ich im Schwimmbad noch 100 Bahnen packe, dass (wenn) ne Trulla an mir rummacht, und dass andere Wahnsinnige ab und zu meine Texte abdrucken, und dass ich immer noch nicht (ganz) insolvent bin. Und dass ich mich halbwegs verständlich artikulieren kann. Jo, mittelalterliches Männergesülze eben.
Amen.
"Über die Ursachen dieser in der einschlägigen Literatur als zentralseröse Chorioretinopathie beschriebenen Störung herrsche weitgehend Unklarheit, sagte Zdenek Gregor. Man wisse eigentlich nur, daß sie fast ausschließlich auftrete bei Männern mittleren Alters, die zuviel mit Schreiben und Lesen beschäftigt seien."
W.G. Sebald: Austerlitz
„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
"Das Wahrzeichen der Intelligenz ist das Fühlhorn der Schnecke 'mit dem tastenden Gesicht', mit dem sie, wenn man Mephistopheles glauben darf, auch riecht. Das Fühlhorn wird vor dem Hindernis sogleich in die schützende Haut des Körpers zurückgezogen, es wird mit dem ganzen wieder eins und wagt als Selbständiges erst zaghaft wieder sich hervor. Wenn die Gefahr noch da ist, verschwindet es aufs neue, und der Abstand bis zur Wiederholung des Versuchs vergrößert sich. Das geistige Leben ist in den Anfängen unendlich zart. Der Sinn der Schnecke ist auf den Muskel angewiesen, und Muskeln werden schlaff mit der Beeinträchtigung ihres Spiels. Den Körper lähmt die physische Verletzung, den Geist der Schrecken. Beides ist im Ursprung gar nicht zu trennen."
(Horkheimer/Adorno: Dialektik der Aufklärung, Fischer, Frankfurt/M. 2008, S. 274.)
Finde ich einfach nur stark.
Aber was ist "zentralseröse Chorioretinopathi"?
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[i]Poka![/i]