HirngespinsteAustausch zwischen Literatur und Kunst |
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RE: Iwan Turgenjew
in Die schöne Welt der Bücher 04.12.2010 21:45von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Ja, das muss ich allerdings auch sagen. Und nicht unbedingt im positiven Sinne.
In klein:
Also, lieber Jatman, bei allem Respekt. Das ist nun wahrlich keine schöne Leserunde, wenn du hier stichpunktartig deine Anmerkungen hinwirfst.
Warum dann nicht noch kürzer?
Vielleicht so, wie Tolstoi (angeblich) Sofja Tolstoja gestanden hat, dass er sie liebt? Lediglich in Anfangsbuchstaben?
L. s. I. w. u. f. s. e. z. i. h. – Übersetzung: Litwinow sieht Irina wieder und fühlt sich erneut zu ihr hingezogen.
Dazu noch einen Kommentar: Finde ich gut, dass sie sich begegnen.
Nein, das bringt nichts.
Darauf kann ich auch kaum eingehen, da du ja immer neue Stichpunkte entwirfst. Warum nicht die Gedanken einfach mal ordnen und zusammenfassen?
Und überhaupt:
Wo bleibt denn dabei das Vergnügen? Die Ruhe an der Literatur? Das Gespräch? Auch Mitleser verstehen durch knapp Hingeworfenes, aus dem Bezug gerissen Kommentiertes wohl kaum, was eigentlich im Roman vorkommt, was schade ist und wenigstens für Interessierte als Einblick möglich sein sollte.
Auch geht es (mit Verlaub) nicht so sehr darum, ob dich der Stil oder bestimmte Szenen nun langweilen oder nicht, sondern doch wohl eher darum, den Inhalt näher zu betrachten?
Entschuldige, dass ich dich hier so anpöble, allerdings bleibt mir unter diesen Umständen nur, meine eigenen Gedanken zusammenzufassen. Das ist dann irgendwie, als würden zwei Leute ein Selbstgespräch führen.
Finde ich irgendwie schade.
Zitat von Jatman1
Nebenher: Wie bekomme ich den Namen nach das Wort Zitat?
(Den Namen bekommst du in das Zitat, indem du in die erste Klammer [ quote ] einfach ein Gleichheitszeichen einfügst und dann in Anführungszeichen den Namen schreibst. Sieht dann so aus (ich schreibe den Code auseinander, damit du ihn lesen kannst, er muss natürlich ohne Leerzeichen dastehen.) Bsp. [ quote = " Turgenjew " ] Ich hoffe, es wird so nachvollziehbar.)
Zurück zum Buch, das mir außerordentlich gut gefällt. Ich mache es mal ausführlicher, vielleicht kann ja dann irgendwie doch noch ein Gespräch zustande kommen. Wenn nicht, ist ja auch nicht schlimm.
Kapitel 1 bis 14 als kleine Zusammenfassung:
Litwinow ist mit Tanja zusammen, liebte aber in sehr jungen Jahren Irina, die auch an ihm Gefallen fand. Sie wuchs in einer Familie auf, die ehemals adlig, dann verarmt war und keinen Zugang zu diesen prunkvollen Kreisen hatte. Besonders der Mutter Irinas behagt dieser Zustand überhaupt nicht, warum sie sich, wie auch ihr Mann, durch Irina neue Möglichkeiten erhofft. Als Litwinow durch Irinas Eltern aufgefordert wird, Irina zu überreden, einer unverhofften Einladung auf einen Ball zu folgen, bedeutet Irina ihm mehrfach unterschwellig, sich seine Argumente gut zu überlegen und Einspruch dagegen zu erheben. Er versteht sie jedoch nicht und möchte, dass sie frei ist und ihren Spaß hat, während es darum nicht geht. Dahinter lauert ein Kuhhandel, zwischen den Eltern und einem reichen Fürsten. Irina fasst sein Beharren, sie solle gehen, als Beweis dafür auf, dass er nicht für ihre Liebe kämpft und verlässt ihn daraufhin, um nach St. Petersburg zu ziehen. Litwinow, enttäuscht und traurig, bricht daraufhin sein Studium ab und zieht zu seinem Vater.
Nun, in Baden-Baden, trifft er wieder unverhofft auf diese einstige große Liebe, die er fast geheiratet hätte. Sie ist selbst verheiratet (mit dem schmucken General Ratmirow) und bittet ihn, sie zu besuchen, während sie inmitten einer Runde an Adel und Militär sitzt, von Generälen und Frauen umgeben, die „selbst in einem leeren Raum geziert taten“. Litwinow ist überrascht über diese Begegnung und spürt bald Unbehagen.
Die völlige Entfremdung der Kreise, denen Irina, die ja betont, sie wäre immer noch die Gleiche, beigetreten ist, in die sie aufgrund der Gier nach Reichtum eingeheiratet hat, um Litwinow, den sie liebte und der sie liebte, sitzen zu lassen, sind Litwinow schnell verhasst:
Zitat von Turgenjew
Was hatte er, der Sohn eines kleinen Beamten, mit diesen matrialischen Petersburger Aristokraten gemein? Alles, was sie hassten, liebte er, und alles, was sie liebten, war ihm verhasst (…)
Das oberflächliche Geschwätz an Nichtigkeiten, die versuchen, sich in fragwürdigen Überzeugungen aufzublähen und gegen den Fortschritt wettern und ihn gleichzeitig verteidigen, scheint aber, neben Litwinow, auch Irina nicht zu teilen, warum sie sich wohl auch nach ihm sehnt. In der Meute der Dekadenz, die, trotz ihres allgemeinen Desinteresses an allem, enorm viel "wasserfallredet" und darüber diskutiert, fühlt sie sich genauso unwohl wie Litwinow. Trotzdem fühlt er sich gekränkt, als diese Menschen, die er doch verachtet, hinter seinem Rücken laut auflachen, was nicht ihm gilt, sondern einem längst ersehnten weiteren Bekannten dieser Runde. Litwinow bezieht das Lachen auf sich und beurteilt auch Irina nach diesen Kreisen, in denen sie verkehrt.
In Kap. 11 tritt dann wohl der auf, der Dostojewskij verkörpern soll – Bindassow. (Wundert mich, dass dir das nicht aufgefallen ist, Jatman.) Da heißt es:
Zitat von Turgenjew
Nachdem Pistschalkin gegangen war, erschien Bindassow und ersuchte Litwinow, ohne Umschweife und mit der größten Dreistigkeit, ihm hundert Gulden zu borgen, was dieser auch tat, obwohl Bindassow ihn nicht nur nicht interessierte, sondern ihm sogar zuwider war und er mit Bestimmtheit wusste, dass er sein Geld nie wiedersehen würde; außerdem brauchte er es eigentlich selbst nötig. Weshalb gab er es ihm denn dann? wird der Leser fragen. Der Teufel mag wissen, weshalb! Auch hierin sind die Russen unübertrefflich. Hand aufs Herz, lieber Leser, wie oft haben Sie in Ihrem Leben schon etwas getan oder unterlassen, ohne einen triftigen Grund dafür angeben zu können! Bindassow bedankte sich nicht einmal bei Litwinow; er verlangte ein Glas Affenthaler (ein badischer Rotwein) und ging dann, ohne sich den Mund abgewischt zu haben und unbekümmert mit den Stiefeln aufstampfend. Wie ärgerte sich da Litwinow über sich selbst, als er den roten Nacken des Habgierigen sich entfernen sah!
Später (Kap. 13) tritt Bindassow nochmals auf, gewinnt das Vierfache der geliehenen Summe, denkt aber nicht daran, es Litwinow zurückzuzahlen, blickt ihn, ganz im Gegenteil, sogar noch böse und drohend an, als wäre ein Gewinn schon die Rechtfertigung für Litwinow, sein Geld zurückzuverlangen, obwohl dieser noch gar nichts dazu gesagt hat. Der Gierschlund und Spielertyp verschwindet lieber zwischen den Leuten an den Spieltischen.
Die Geschichten, die sich die bei Litwinow unerwünscht eintreffenden Herren (...und wenn sie schon einmal da waren, dann konnte man seelenruhig auch dort kleben bleiben) erzählen (Kap. 11), erinnern stark an die satirischen Situationen und Figuren in „Die toten Seelen“. Insbesondere der Gutsbesitzer, der zum Frühstück drei Gänse und einen Stör zu verspeisen pflegt. So einer kam bei Gogol auch vor; ich kann mir denken, dass Turgenjew hier absichtliche Verbindungen schafft, da Gogols Roman für genau jenes Russland steht, dass diese Leute verkörpern, vulgär, altmodisch, fettleibig und schnaufend, auf sich selbst bezogen. Gogol selbst war in Russland hochgelobt, die russischen Schriftsteller wurden an ihm gemessen, während Turgenjew nie in diese Riga hineinfand, vielleicht auch gar nicht das Bedürfnis danach verspürte. Nachdem sein Roman „Vater und Söhne“ so schlimm kritisiert wurde, und natürlich mit diesem Roman auch er selbst, hat er das Land verlassen und seiner Enttäuschung darüber freien Lauf gelassen. Turgenjew tritt immer in der Figur Potugins auf. So sagt er in Kapitel 5 zum Beispiel:
Zitat von Turgenjew
Jawohl, ich bin ein Westler, bin Europa zugetan; das heißt, exakter ausgedrückt, ich bejahe seine Bildung, eben jene Bildung, über die man sich jetzt mit Vorliebe bei uns so mokiert, die Zivilisation – jawohl, dieses Wort ist nicht besser -, ich liebe sie von ganzem Herzen, ich glaube an sie, und einen Glauben habe ich nicht und werde ich auch nie haben.
Bald stellt sich heraus, dass Potugin mit Irina Pawlowa befreundet ist, was Litwinow, der Potugin hoch schätzt, erstaunt.
Ich hätte mir gewünscht (nur als Leserin, nicht als Kritikerin), dass Litwinow sich, als Potugin ihn hitzköpfig nennt, weil er der Einladung nicht folgen will (er kennt ja schließlich auch nicht die schwierigen Hintergründe), noch ein bisschen geweigert und Irina zappeln gelassen hätte.
Doch er entschließt sich, da seine Verlobte Tanja auf sich warten lässt und in Baden-Baden nicht so schnell eintrifft, dann doch zu Irina zu fahren. Für mich wirkt Irina zu diesem Zeitpunkt noch so, als ob sie sich in diesen Kreisen langweilt und sich nach Abwechslung und alten Gesprächen sehnt. Aber da sich „ungeheuchelte Freude“ in ihrem Gesicht malt, was der Stilist Turgenjew so herrlich versteht, unverkennbar ins Bild zu setzen, ist man schnell besänftigt. Sie bittet ihn um Verzeihung für ihr Verhalten, obwohl es ihr Schicksal gewesen sein soll. Vielleicht meint sie hier den Wunsch ihrer Eltern, den sie erfüllen wollte. Dafür spricht auch ihr Verhalten, denn Irina hat ihre Eltern nicht noch einmal besucht (Wissen Sie, seit jener Zeit bin ich nie wieder nach Moskau gekommen!) und erwähnt auch, dass sie ihre Geschwister alle gut versorgt hat.
Als sie Litwinow bittet, von sich zu erzählen, immerhin sind zehn Jahre vergangen, sieht sie in seinem Bericht nicht sein Leben vor Augen, sondern ein Leben, das sie hätte mit ihm leben können.
Als ihr Mann eintritt, gewährt uns Turgenjew einen Blick auf seine Familiengeschichte, bei der ich die gleichen Vorwürfe gegen das Militär heraushöre, die auch in Tolstois „Auferstehung“ vorkommen. Erfolg und glänzende Karrieren durch stramme militärische Haltung, gute Manieren, Geschicklichkeit beim Tanzen, einem „federleichten Liberalismus“, der Ratmirow jedoch nicht hindert, „in einem aufrührerischen belorussischen Dorf (…) fünfzig Bauern halbtot prügeln zu lassen“. Er ist ein Mann, der immer sein eigenes Wohl im Auge hat, und dem Leser wird bald sichtbar, warum Irina sich so sehr nach Litwinow sehnt und ihrem Mann mit kühlem Ton begegnet.
Eine wunderbare Szene ist die, als Litwinow (Kap. 13) endlich Tacheles redet, Irina fragt, warum sie eine Annäherung wünscht, wo doch ihre Wege mittlerweile so weit auseinanderführen. Endlich, denke ich da als Leserin, lässt er seinen Gefühlen freien Lauf und verbirgt sie nicht hinter zögerlichen Höflichkeiten. Das war Leidenschaft, das war das, was man Zwischenmenschliches nennt. Er explodiert förmlich, während Irina sich diesem Ausbruch stellt. Sie erzählt ihm, dass sie nicht Salonlöwin, sondern Bettlerin ist, wieviel Glanz und Adel und Reichtum sie auch umgeben mag, dass sie ihn mit ihrer Annäherung lediglich um ein Almosen bittet. Sie sucht einen Freund, der lebendig ist, da sie nur von toten Puppen umgeben ist.
Turgenjew wirft hier ein leidenschaftliches Szenarium hin, voller Emotionen und Verwirrungen. Litwinow ist in seinen Gefühlen hin und hergerissen.
Dazu, als zweiter Handlungsstrang, folgt die Unterhaltung mit Potugin, der Litwinow warnt: (Kap. 14)
„Wenn Sie sich mit mir unterhalten wollen, dürfen Sie mir nichts übel nehmen – ich bin nämlich in einer höchst misanthropischen Stimmung, und da erscheinen mir alle Dinge in einem übertrieben schlechten Licht.“
Mir scheint, dass Turgenjew in Potugin seine ganze Wut und Ansicht über unterschiedlichste Umstände und Ansichten legt, von der Geschichte Potugins einmal abgesehen (dazu später). Potugin ist die Figur, durch die er spricht und sich äußert.
Zum Beispiel über die sich selbst so bezeichnenden Naturtalente und ihre überhöhten Begabungen.
Zitat von Turgenjew
Doch was ist denn diese Begabtheit (…)? Ein schlaftrunkenes Lallen und im übrigen eine halb tierische Schläue. Instinkt! Darauf können wir auch gerade stolz sein! Nehmen Sie doch einmal eine Waldameise und bringen Sie sie eine Werst von ihrem Haufen fort – die findet den Weg zurück; der Mensch aber kann nichts dergleichen. Wie denn? Steht er etwa auf niedrigerer Stufe als die Ameise? Der Instinkt, und mag er auch noch so genial sein, ist dem Menschen unwürdig.
Die Ansichten über die Kunst und die Überschätzung Russlands in Bezug auf seine Künstler, sind natürlich sehr kritisch, wenn hier trotz allem durchschimmert, worauf Turgenjew hinaus will. Russland packt sich seine Künstler und stellt sie auf erhabene und mächtige Podeste, auf dass sie nur für das Land zu sein haben. Häufig darunter dann auch etliche überschätzte Figuren, die eher Nachahmungen produzieren, statt wahrhaftes Genie in sich zu bergen. Doch was nach Kunst riecht, wird gegriffen und auf die Leine der russischen Überlegenheit zum Trocknen aufgehängt. Es geht um das Wetteifern mit allen Mitteln, die zur Verfügung stehen, was nichts anderes bedeutet, als dass die Qualität durch die Quantität ersetzt wird. Gleiches gilt für die russischen Wissenschaften.
Zitat von Turgenjew
Ganz schlaue Burschen haben sogar eine russische Wissenschaft entdeckt: Bei uns, so sagen sie, ist zweimal zwei zwar auch vier, aber es kommt irgendwie geschwinder heraus.
Schön ins Wort gefasst.
Morgen dann weiter im Text.
Ich hoffe, du bist mir nicht böse, Jatman.
Aber nichts finde ich schlimmer, als eine durchgehechelte, gehetzte Leserunde.
Liebe Grüße
Taxine
Art & Vibration
Nunja. Da ist das dann wohl ein gescheiterter Versuch. Mir war nicht bewußt, dass Nichtleser nachvollziehen können sollen. Mir war nicht bewusst, dass es eine synchrone Dokumentation sein soll. Ich hatte Spaß, Eindrücke unmittelbar kundzutun. Wie ich nun weiß, war das nicht die Idee.
Zu tiefergehenden Erörterungen fehlen mir Kraft und/oder Fähigkeit. Ich bin wohl eher der hedonistische Leser. Ich will Freude und wenn ich dann noch etwas begreife; umso besser.
Sorry, dass ich hier so rumgemüllt habe. Sauer bin ich beileibe nicht. Ich hatte es halt nicht begriffen. Und wenn ich nicht begreife, dass ich nicht begreife, was es zu begreifen gilt, dann macht man mir es halt begreiflich. Alles im grünen Bereich.
Tut mir leid, die verehrte Leserschaft enttäuscht zu haben.
Achja das Buch.
Bis auf den wieder allzu plakativen Schluss, ein Buch, das nicht langweilig wurde. Auch erstaunlich welche Welten zwischen seinem Jägerzeug und Rauch liegen. Danke für die Leseanregung Taxine.
Zitat
In Kap. 11 tritt dann wohl der auf, der Dostojewskij verkörpern soll – Bindassow. (Wundert mich, dass dir das nicht aufgefallen ist, Jatman.)
Auf die Idee bin ich zu keinem Zeitpunkt gekommen, da Bindassow immer großspurig, rücksichtslos, forsch und fordernd auftrat. Nicht als wehleidiger Bettelknabe, dem persönlicher Kontakt unbehaglich ist.
www.dostojewski.eu
RE: Iwan Turgenjew
in Die schöne Welt der Bücher 04.12.2010 22:26von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Fein, fein. War dann eben eine Blitzleserunde ohne Leserunde.
Nichts gegen hingeworfenes Gedankengut. Es wäre aber hilfreich gewesen, wenn du dich etwas geduldet hättest, nicht mit dem Lesen, bin auch schon fast am Ende, sondern mit deinen Anmerkungen, damit ich wenigstens die Möglichkeit gehabt hätte, dazwischen springen zu können.
Zitat von Jatman
Auf die Idee bin ich zu keinem Zeitpunkt gekommen, da Bindassow immer großspurig, rücksichtslos, forsch und fordernd auftrat. Nicht als wehleidiger Bettelknabe, dem persönlicher Kontakt unbehaglich ist.
Vielleicht hat Turgenjew so ein Bild von Dostojewskij gehabt? Mir war zumindest die Geldleih-Situation doch verdächtig.
Liebe Grüße
Taxine
Art & Vibration
Buchstaben offenbaren mir bekannte Schwächen: Ungeduld und Oberflächlichkeit.
Taxine - Sorry nochmal.
www.dostojewski.eu
RE: Iwan Turgenjew
in Die schöne Welt der Bücher 04.12.2010 22:34von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
RE: Iwan Turgenjew
in Die schöne Welt der Bücher 05.12.2010 15:56von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Na dann noch die letzten Gedanken zu den Kapiteln 14 bis 28...
Potugin stellt sich als unglücklicher und einsamer Mensch heraus, der das Leid der Liebe gut zu kennen scheint.
Zuerst begreift man nicht mehr, wie man überhaupt lieben kann, und dann, wie man überhaupt leben kann.
Noch kann man nur ahnen, was er erlebt hat. Seine Reden sind gleichzeitig von seinem inneren Frust erfüllt, obwohl das, was er ausspricht, so schön ins Schwarze trifft.
Durch Potugin erkennt Litwinow schnell, dass er, der Irina Launenhaftigkeit unterstellt hat, falsch lag, dass es sich bei ihr um den gleichen Stolz handelt, der bereits in ihrer Jugend ihr ganzes Wesen ausgemacht hat, warum sie ihm die Entscheidung auch unter strenger Bedingung überlassen hat, sie von diesem unheilvollen Ball abzuhalten, und danach gleichfalls so konsequent gehandelt hat. Immer deutlicher erkennt Litwinow, dass sie ihm schon wieder nicht mehr aus dem Kopf geht, während darin doch warm das Abbild seiner Braut Tanja flackern müsste, die eine herzensgute, liebenswerte Person ist, vor der er große Achtung empfindet.
Irina bittet ihn immer häufiger darum, sie aufzusuchen, und er nimmt die Einladungen, trotz seiner Zweifel, umso begieriger an. Da ist z. B. der Abend, an dem sie Gäste empfängt, die ihn von oben herab behandeln, während er nur den schlanken Hals seiner Angebeteten bewundert.
Turgenjew nimmt den russischen Adel ordentlich auf die Schippe. Alle sind blass, ja farblos, mit tierisch-grausamem Gesichtsausdruck, und interessieren sich für Spiritismus. Ein bekannter und beliebter Spiritist macht ständig auf der Grundlage der Apokalypse und des Talmuds Prophezeiungen über die erstaunlichsten Ereignisse, die alle nicht eintreffen, was ihn jedoch keinesfalls stört oder von weiteren Vorhersagen abhält. Am Klavier sitzt eines der - zuvor durch Potugin - beschimpften „Naturtalente“, welches immer wieder den gleichen Walzer spielt, und neben der schönen, stolzen Irina sitzt eine der klügsten Frauen ganz Russlands, die „aber schon längst zu einer erbärmlichen Vogelscheuche geworden war und nach Fastenöl und unwirksam gewordenem Gift roch“.
Einem anderen, angesehenen Herrn mit "starrem Gesicht und starrem Kragen" sagt man nach, „dieses Gesicht und diese Kragen hätten bereits Spritzer von den Niagarafällen und den nubischen Nilkatarakten benetzt; er selbst vermochte sich indessen an keinerlei Einzelheiten dieser Reisen zu erinnern und interessierte sich ausschließlich für russische Kalauer“, ansonsten sind noch Fürstinnen (denen bei zu heftiger Bewegung ein Stück Schminke von der Stirn bröckelt) und Generäle anwesend, die sich durch Humorlosigkeit, Taubheit, „Charmant! Charmant!“-Ausrufen und durch die (von Jatman bereits zitierte) russische Angewohnheit hervortun, über ihre eigenen Witze als erste zu lachen. Gespräche werden ohne Leidenschaft oder gegenseitige Aufmerksamkeit geführt, sind inhaltslos und verworren.
Irina scheut sich nicht, sich über diese ganze makabre Gesellschaft lustig zu machen. Sie zeigt es sowohl Litwinow als auch der Gesellschaft selbst…“Nicht mehr als sonst!“ hätte sie sich lustig gemacht, erklärt sie hinterher ihrem Mann, der sie daraufhin zur Rede stellt und beeindruckt von ihrer Schönheit und Selbstsicherheit ist. Er weiß, dass sie etwas für Litwinow übrig hat, und als sie ihn stehen lässt, ist „jeder Anflug von Eleganz aus seinem Gesicht verschwunden“. So musste er ausgesehen haben, als er die belorussischen Bauern auspeitschen ließ. – heißt es da in der Beschreibung.
Auch Litwinow, der nach dem adligen Gelage, ein Bild seiner Braut Tanja betrachtet, muss erschütternd feststellen, dass er sich erneut wahnsinnig in die schöne Irina verliebt hat, dass er „überhaupt nie aufgehört hatte sie zu lieben“. Er sieht seine „fast schon erkämpfte“ Zukunft nach und nach schwinden und sich erneut in ein Dunkel hüllen.
Er ist weiterhin zerrissen zwischen seinen Gefühlen zu Irina und seinen Pflichten und dem Versprechen, das er Tanja gegeben hat, die er ebenso geliebt hat und der er, aus eben jener Achtung, nichts vormachen will.
Als ihm Irina dann ihre Liebe gesteht, nachdem auch er ihr die Liebe gestanden hat, werden die Entscheidungen schwieriger. Tanja kommt mit ihrer Tante, Litwinow muss ihr beichten, dass die Verlobung gelöst werden muss, er eine andere Frau liebt.
Die Szene ist herrlich geschrieben, voller weiblicher Größe, die Tanja verkörpert, in ihrer Reaktion wie auch in ihrer Handlung. Besonders bewegend die alte Tante, die zwischen Tanja und Litwinow vermitteln will.
Nun scheint der Weg für Litwinow frei, Irina liebt ihn, hat ihm versprochen, ihren Mann und diese ihr so verhassten Kreise zu verlassen. Doch wäre alles einfach, so wäre kein fesselnder Roman daraus geworden, die Dinge nehmen ihren Lauf.
Natürlich verfolgt man als Leser dabei dann auch die Reaktionen Irinas, kann sich denken, was geschehen wird, jedoch nicht profan oder in gelangweilter Entwicklung und Bestätigung, sondern viel eher, wie es sich für einen guten Roman gehört, voll ängstlichem Bangen und der leisen Hoffnung, sich vielleicht doch getäuscht zu haben. Neugierde treibt einen voran, Zeile um Zeile zu verschlingen. Turgenjew versteht es, die Szenarien so wundervoll und spannend zu gestalten, die Zerrissenheit Litwinows ins Wort zu setzen, die Erscheinung Irinas, die ihres Mannes oder die Tanjas so lebendig zu machen, dass es eine wahre Lesefreude ist.
Der erste größere Verdacht über den wahren Charakter Irinas festigt sich, als Potugin seine Geschichte erzählt, dass er unsterblich in Irina verliebt ist und es nicht schafft, von ihrer Seite zu weichen, dass er ihr zum Gefallen sogar ein in Verlegenheit geratenes Mädchen geheiratet hat, dass sich vergiftet, während er das Kind eines anderen großzieht. Er bittet Litwinow darum, Tanja nicht zu verlassen und spricht auch davon, dass er nicht aus Eifersucht zu ihm gekommen ist.
Potugin, der zuvor so erhaben wirkte, schrumpft zu einem Opfer seiner Begierden zusammen, seiner Abhängigkeit zu dieser schönen, machtvollen Frau, die auch eine lange Zeit den Leser gefangen nimmt. Man wägt hier ständig ab, was in ihrer Seele verborgen liegen mag, wie sich ihre Entscheidungen gestalten und auswirken. Potugin ist ihr hörig, und jeden Schritt, den er auf Litwinow zugeht, macht er aus Liebe zu dieser Frau, die sich dann in ihrem ganzen Wesen zeigt.
Litwinow wirkte am Anfang dieser Geschichte eher unsympathisch, in sich gekehrt und mürrisch (ich nahm sogar zunächst an, dass er ein eher negativer Charakter ist), doch durch seine Erlebnisse, Vergangenheit und Gegenwart, gewinnt er immer mehr an Profil und Sympathie. Ja wirklich, man leidet und zittert mit ihm mit, sitzt oder steht ihm zur Seite und hofft für ihn, dass sich seine Sehnsüchte erfüllen.
Eine schöne, kraftvolle Szene ist die, als er in den Zug steigt, einsteigt und sich nicht umdreht, trotz des Klotzes an seinem Bein, der sich ungekämmt und unter einem Umschlagstuch eines Stubenmädchens verbirgt und auf der Bank, als ein freundlicher Herr zur Hilfe eilt, dann ganz und gar den wahren Charakter offenbart. Das fand ich herrlich und erleichternd, dass er nicht schwach wird, dass sich dort auf der Bank die Reaktion nackt und deutlich zeigt, wie auch die schönen Gedanken, die Litwinow dann im Zug vor Augen hat (die für mich durchaus nicht weit hergeholt erschienen, da der Bezug und die Gespräche zwischen Litwinow und Potugin nun einmal genau das verkörperten):
Zitat von Turgenjew
„Rauch, Rauch“, sprach er mehrmals vor sich hin; und plötzlich dünkte ihn alles Rauch, alles, das eigene Leben, das Leben Russlands – alles Menschliche, insbesondere auch alles Russische. Alles ist Rauch und Dampf, dachte er; alles scheint ich unaufhörlich zu verändern, überall neue Formen, eine Erscheinung jagt die andere, doch im Grunde genommen bleibt es immer ein und dasselbe. Alles hastet und eilt irgendwohin – und alles verschwindet spurlos, ohne je etwas zu erreichen. Dann weht ein anderer Wind, und alles wirft sich auf die gegenüberliegende Seite, und dort beginnt das unermüdliche, hektische und doch so unnütze Spiel von neuem. An vieles erinnerte er sich, das sich in den letzten Jahren mit Donner und Getöse vor seinen Augen abgespielt hatte. „Rauch“, flüsterte er, „nichts als Rauch.“
Für mich hat sich Turgenjew auch in diesem Roman erneut von seiner besten Seite gezeigt. Er bleibt ein Könner, ein Szenen- und Satzerbauer, ein Mensch, der sowohl die Liebe als auch die etlichen, mit ihr einhergehenden Begleiterscheinungen kennt, und der sich nicht scheut, das auszusprechen, was er denkt, Kritik zu üben, wo er die Nach- und Auswirkungen nur allzu gut kennt. Der Roman ist nicht tiefgründig, sondern betrachtet Russland, insbesondere die russische Aristokratie kritisch. Da sich diese Kreise nun einmal um Irina Pawlowa bilden, ist es auch nicht verwunderlich, dass die Geschichte ihrer Liebe mitten in dieser Kritik ihren Lauf nimmt, sicherlich nicht unabhängig davon steht.
Nächster Roman von ihm wird dann wohl „Neuland“ sein.
Art & Vibration
Ja, ich traue mich noch auf die Bühne ;-)
Zitat von Turgenjew
Zu alldem ist - unlängst - mein Herz gestorben. Ich teile ihnen diese Tatsache mit, und weiß nicht wie ich sie nennen soll. Sie verstehen, was ich sagen will. Das Vergangene hat sich endgültig von mir gelöst, doch als ich mich davon trennte, wurde ich gewahr, daß mir nichts geblieben ist, daß sich mit dem Vergangenen mein ganzes Leben von mir gelöst hatte. - Mir ward schwer zumute - doch bald wurde ich eine Stein; und jetzt fühle ich, so kann man noch leben. Würde auch nur die kleinste Hoffnung auf Wiederkehr aufflackern, sie würde mich bis ins Mark erschüttern. Ich habe dieses Eis der Fühllosigkeit, unter dem stummes Leiden verborgen ist, schon früher erlebt . . .
Warum zitiere ich nochmals Litwinow?
Ich lese auch derzeit Turgenjews Briefe. Und das ist ein Zitat aus einem Brief von ihm an eine(n) Lambert 1860 aus Paris.
Das ist doch schon mehr wie Ähnlichkeit! Man darf annehmen, das Turgenjew in Rauch eigenes konkretes Erleben verpackt hat und eben nicht nur in politischer Hinsicht. Leider kenne ich Turgenjews Lebenslauf nicht. Diese Überschneidung jedoch macht neugierig.
Mir blieb beim Lesen dieser Stelle vor Erstaunen der Mund offen stehen. Für einen Zufall halte ich das nicht.
Vielleicht trage ich hier auch Eulen nach Athen.
www.dostojewski.eu
Weiß jemand von einer Biographie Turgenjews? Seine Briefe machen neugierig.
Sehr interessant der Fakt, dass er wohl mit Bakunin ca. ein Jahr zusammen gewohnt hat und sich mit Herzen entzweit hat und . . .
Für einen Biographiehinweis in Sachen A. Herzen wäre ich auch zu begeistern. Inzwischen ist mir Turgenjew durchaus sympatischer als Tolstoi.
www.dostojewski.eu
RE: Iwan Turgenjew
in Die schöne Welt der Bücher 01.01.2011 18:50von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Die einzige Biographie, die ich kenne, ist von Juan Eduardo Zúñiga "Iwan S. Turgenjew".
Turgenjews Leben ist spannend. Er lebte ja auch eine Weile bei der Frau, die er sein Leben lang geliebt hat, und ihrem Ehemann.
Der Briefwechsel zwischen ihm und Flaubert gibt ebenfalls viel Aufschluss über ihn und seinen Charakter.
Art & Vibration
Danke für den Tipp. Werde ich mir besorgen.
Es ist vermutlich mal wieder die "falsche Reihenfolge". Ich lese die Briefe und weiß oft garnicht, vor welchem Hintergrund er was schreibt. Aber genau das macht neugierig. Das mit der Frau UND ihrem Eheman ist ja ein Ding. Kommt mir so bekannt vor ;-)
Für Rauch hat er scheinbar damals Schelte ohne Ende von allen Seiten bekommen. Aber scheinbar nicht den Schwanz eingezogen und dazu gestanden.
www.dostojewski.eu
RE: Iwan Turgenjew
in Die schöne Welt der Bücher 07.01.2011 15:48von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Nicht nur für "Rauch", auch für "Neuland" musste Turgenjew sich schlimme und absurde Kritik gefallen lassen, warum er auch dazu stand, dass ihm der Westen in seinen freieren Ansichten besser gefiel, als das verstockte und patriotische Russland.
Zwei weitere Biographien habe ich über Turgenjew noch gefunden. Das ist einmal Alja Rachmanowa "Die Liebe eines Lebens" (Rachmanowa hat auch über Sonja Tolstoja und über die Tolstois selbst geschrieben). Die Biographie befasst sich wohl mit Turgenjew und seiner lebenslangen Liebe zu der verheirateten Pauline Viadot. Eine andere Biographie ist von Ernst Borkowsky "Turgenjew".
Turgenjew steht Dostojewskij und Tolstoi in Verkorkstheit übrigens in nichts nach (und wenn, dann nur gering). Zum Beispiel hat seine Mutter bei ihrem Tod dafür gesorgt, dass ihr ganzer Besitz verteilt wurde, damit ihre Söhne nichts bekommen. Das hat ihn neben der Nicht-Liebe wohl schwer belastet. (In den Briefen schrieb er darüber und tat es dann mit so traurig schöner Geste ab...)
Deine Deutung, Jatman, dass Turgenjew auch in "Rauch" eigene Abgründe verarbeitet hat, ist völlig richtig. In der Biographie von Juan Eduardo Zúñiga (übrigens ein Spanier) heißt es ebenfalls:
Zitat von Zúñiga
... In dessen Verlauf und den vierzig Jahren seines literarischen Schaffens lässt sich verfolgen, wie er beharrlich daran arbeitete, seine Vergangenheit neu zu erschaffen bzw. sie offenzulegen, wie sie war. Aus diesem Grund ist Turgenjew ein Pionier in der Gestaltung des literarischen Schaffens mit tiefen Sedimenten des eigenen Lebens, und selbst der unbedeutendere Teil seiner Werke ist durchwirkt von Tönungen dieser Herkunft, die als Spiegel seiner selbst auch ein Spiegel seiner Zeitgenossen waren. Vielleicht war ihm nie bewusst, dass er eine regelrechte Krankengeschichte seiner Epoche und ihrer Menschen verfasste; in seinen Romanen, Novellen und Erzählungen schilderte er nicht nur alltägliche, allerdings hochinteressante Charaktere, sondern ebenso psychische Prozesse und zwanghafte Sequenzen, anhand deren ein in allen Epochen verbreiteter Geistestypus exemplifiziert wird.
Turgenjew ist wie Tolstoi ebenfalls nie so weit wie Dostojewskij gegangen, der tiefer in die Abgründe kroch. Allerdings muss ich auch sagen, dass Rosanow nicht Recht hatte, als er behauptete, Tolstoi hätte diese psychologischen Grenzen niemals überschritten. Das beste Beispiel ist und bleibt "Die Kreuzersonate", die an Wahn Dostojewskijs Kellerloch in nichts nachsteht, außer dass Dostojewskij atemloser und genialer geschrieben hat. Bei Turgenjew gibt es also auch noch Etliches zu entdecken.
Art & Vibration
"Aufzeichnungen eines Jägers" (Erzählungen)
Ich weiß nicht, ob es wahr ist oder eine Legende. Zar Alexander I., nachdem er die „Aufzeichnungen eines Jägers“ gelesen hatte, schaffte er die Leibeigenschaft ab. Das war im Jahre 1861. In Deutschland war sie schon längst abgeschafft, als Turgenjev an den Aufzeichnungen schrieb. Turgenjev muss wohl gespürt haben, dass die Tage der Leibeigenschaft gezählt waren. Man lebte in einer Umbruchszeit.
Zitat von Turgenjev
Das Alte ist ausgestorben, und das Neue will nicht kommen.
Der Jäger geht auf Birkhuhnjagd, manchmal begleitet von seinem Freund Jermolai, der in den Geschichten gelegentlich am Rande auftaucht, oder auch allein. Er streift er durch die Wälder begegnet Gutsbesitzern, Bauern, einfachen Menschen vom Lande, lauscht den Menschen zu. Oft begegnen wir dem Schema Naturbeschreibung, Begegnung, Beschreibung der Charaktere, dann eine Handlung. Nicht alle Geschichten glänzen. In „Der Einhöfer Owsjanikow“ werden Menschn vorgestellt, die die ältere Zeit repräsentieren: Gutsbesitzer, Magnaten usw. Ein wenig langweilig drögt diese Erzählung schon, denn es spinnt sich keine Handlung daraus. Der Blick auf die Menschen soll dem Leser ein Bild damaliger Zeit geben, doch langweilt mich diese Geschichte, weil viel Hintergrundwissen des alten Russland von Nöten ist. So gibt es einige Geschichten, die wohl auch deswegen nicht ankommen. Bei Tolstoi ist das anders. Er erzählt so wunderbar, dass jeder es versteht. So gibt es in diesem Band der „Aufzeichnungen eines Jägers“, Geschichten, die mich unbeeindruckt lassen, andere Geschichten bringen mich zum Schwärmen. Angesichts dieser Perlen, in denen Turgenjev sich herrlichen Naturbeschreibungen hingibt, in denen Turgenjev sich auf die Seite der Unterdrückten stellt, in denen Turgenjev in das Herz der russischen Seele schaut, in denen Turgenjev das Ende der Leibeigenschaft visioniert, sinde viele der Geschichten sehr lesenswert.
Anhand der fiktiven Gutsbesitzer „Tschertopchanow und Nedopjuskin“ erzählt Turgenjev den Niedergang der Gutsbesitzer in Russland. Die erste Geschichte beschäftigt sich mit der Herkunft der Herren, die ihren Niedergang schon andeutet, in der zweiten Geschichte, in deren das Ende dieser Herren erzählt wird konzentriert sich Turgenjev insbesondere auf das Elend Tschertopchanows : Seine innere Unruhe, Rastlosigkeit, Getriebenheit, seine schlechten Finanzen, die Misere eines Lebens, ein klägliches Ende,welches an sich erbärmlich zu nennen ist. Turgenjev, kostet das Leid dieses Herren literarisch aus, ohne dabei kitschig zu werden. Eine tragische Geschichte aus dem alten Russland. Diese getriebene Unruhe des Armseligen deutet sich schon in der Begegnung mit dem Jäger in der ersten Geschichte an, sein Niedergang schon in seiner Herkunft: schon sein Vater " hatte das Gut in einem arg ruinierten Zustand geerbt." Nedopjuskis Voraussetzungen waren auch keine guten. Sein Vater wurde vom Unglück verfolgt - "das Schicksal hatte ihn wie einen Hasen auf der Treibjagd totgehetzt."
Die Geschichte um den Nachbarn, des verarmten Gutsbesitzers Radilow hat mir sehr gefallen, weil Turgenjev mit Andeutungen arbeitet. Radilow war todtraurig, seit seine Frau gestorben war. Als Radilow dieses dem Jäger erzählt zuckt Olga, die Schwägerin, aus Eifersucht,zusammen. Das sie aus Eifersucht zusammenzuckt, erfahren wir erst ganz am Schluss, toll wie Turgenjev diese Spannung hält. Das was ich erahne, worüber Turgenjev nicht schreibt, ist dies:
Olga war andauerend in Radilow verliebt, schon damals, als seine Frau noch lebte. Olga wollte, nachdem seine Frau gestorben, Radilow heiraten, doch er zögerte und war in seiner Trauer gefesselt. Darum konnte er für andere Dinge des Lebens keine Leidenschaft entfalten. Erst im Gespräch mit dem Jäger ist er zufällig ganz spontan darauf gekommen, dass er sich aus der schlimmen Lage befreien kann. Und so entstand sein Entschluss, mit Olga ein neues Leben zu beginnen. Die russische Melancholie, der Niedergang der Reichen, ist in der Figur des geigespielenden Fjodor enthalten, ein ehemaliger Gutsbesitzer, der Pleite geggangen ist, nun sehr zurückgezogen lebt, etwas seltsam geworden, nur hier und dort mal auf seiner elenden Geige kratzt, ein Wortlaut Turgenjews, welches die Lethargie dieses Menschen ausdrückt.
Die durchaus in einem humorvollen Unterton geschriebene Erzählung „Lgow“, zeigt deutlich, wie fremdbestimmt Leibeigene waren. Der alte Herr Sutchok hat unter vielen Herrschaften gedient. Wenn es die Herrschaft befahl, er ist ein Koch, dann war er einer, wenn eine andere Herrschaft befahl, er ist ein Kutscher, dann war einer usw. So konnte ein Leibeigener unter Umständen wie unser alter Herr Sutchok eine sehr farbige Berufskarriere hinlegen. Es hat auf niederwürfige Leibeigene gegebene, die ihren Herrn geachtet haben.
„Das Stelldichein“ gehört zu den schönsten Geschichten des Bandes, eingeleitet mit wunderbarster Naturbeschreibung führt die Erzählung tief in die Seelen der armen russischen Bevölkerung, wie die Menschen unter dämlich arroganten Reichheinis gelitten haben. Der Jäger lauscht in einem Wald einem Zwiegespräch zwischen einem seelenkranken Reichheini, der mit einem einfachen Mädchen, welches er für dumm hält, weil sie arm ist, Schluss machen will, weil sein Herr nach Moskau geht und er im Schlepptau. Viktor Alexandrytsch, der seelenkranke Arroganzler wird einem Mädchen gegenübergestellt, welches aufrichtig liebt, ihre Gefühle aber zertreten werden. Literaturtechnisch ist die Erzählung außerordentlich bewegend, weil es Turgenjev hier offenbar erstmals versucht hat, den Charakter der Personen allein durch ihre Worte und ihr Handeln aufscheinen zu lassen. Das ist ihm hervorragend gelungen.
Turgenjev dringt sehr tief in die russische Seele ein, bis hin zum Volksglauben an Waldgeistern, Nixen, Flüchen und anderen Schauergeschihten – umrahmt von russischer Landschaft. Turgenjev hat der russischen Seele ein Denkmal verschafft, Leibeigenschaft dort nur als unseliger Femdkörper erscheinen muss.
Liebe Grüße
mArtinus
„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
Nach den ersten Seiten seiner Biographie: Vermutlich ein zu bemitleidendes Wesen gewesen. Kam im Leben wohl nie so recht zum Zuge. So mutmaße ich schon mal nach 20 Seiten. Man kann sich garnicht vorstellen, dass er mal ein Jahr mit Bakunin zusammengewohnt hat.
Turgenjew ist vermutlich zu Dostojewskis Besessenheit des Gedankens, dass Geld die Glückseligkeit verheißt, ein entsprechendes Pendant. Hat es Dostojewski doch So dicht vor Augen gehabt, dass seine Mystifierung von Geld nicht tragen konnte.
www.dostojewski.eu
RE: Iwan Turgenjew
in Die schöne Welt der Bücher 02.05.2011 21:16von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Zitat von Jatman1
Nach den ersten Seiten seiner Biographie: Vermutlich ein zu bemitleidendes Wesen gewesen. Kam im Leben wohl nie so recht zum Zuge.
Hm... ich finde, du pauschalisierst die Dinge immer zu leicht. (Erinnere dich doch z. B. an seinen Humor und an seine Briefe.) Man kann einen Menschen nicht einfach aufgrund seiner Kindheitserfahrungen in eine einzige (festsitzende) Kategorie (= Schublade) einordnen (und wie kommst du nun wieder auf "bemitleidenswertes Wesen?). Turgenjew wusste durchaus, was er wollte, aber natürlich musste auch er sich erst entwickeln, abgrenzen, sich selbst finden.
In jener Biographie erfährt man übrigens auch, dass die "Aufzeichnungen eines Jägers" eher dazu dienten, etwas Geld zu verdienen, weil Turgenjews Mutter sich in ihrem herrischen Wesen weigerte, ihm weiteres Geld zu überweisen. Hier machte Turgenjew eine ähnliche Phase durch wie Dostojewski. (… wobei ich natürlich lediglich den Anlass des Schreibens meine. Aber - und das sage ich natürlich als Bewunderin Dostojewkis - wie anders drückt sich die Literatur aus!) Turgenjews beste Sachen sind immer noch die stillen Momente, in denen er tief in sich gehen und nach dem richtigen Wort, der besseren Beschreibung suchen konnte.
Art & Vibration