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Stendhal: Die Kartause von Parma
Hallo Taxine,
da ich übers Wochenende ausgepflogen bin, beginne ich mit kleinen Schnipseln aus dem Nachwort und mit den ersten drei Kapiteln. Übrigens lese ich in der Übersetzung von Elisabeth Edl, dtv Taschenbuch. Der komplette Anhang, einschließlich des Nachwortes, beträgt 298 Seiten, das ist fast Seitenlänge der Romanhälfte. Ob ich all das mal lesen werde? Dieser Roman gilt als Stendhals bedeutendster, er verfasste ihn im Jahre 1939 innerhalb nur 53 Tagen. Allein das schon ist Wahnsinn. Stendhal lebte fast ein Drittel seines Lebens in Italien, dieses Land spielt in seinem schriftstellerischen Werk immer eine große Rolle. Und natürlich wie auch in diesem Roman die Liebe. Er wollte gerne in den höheren Staatsdienst, wurde aber nur Konsul in Civitavecchia, nicht weit von Rom, dort auch dieser Roman entstand.
Im Nachwort können wir Nachlesen, dass Lew Tolstoi bekannte, Stendhal sei von dem, was er, Tolstoi, vom Kriege wusste, sein erster Lehrer gewesen.
„Ich bin Stendhal wie kaum irgendwem verpflichtet: ich verdanke ihm die Kenntnis des Krieges.“
Und nun zum Roman:
Die ersten Kapitel handeln von Napoleonischen Kriegen, einmal vom Einmarsch der Franzosen in Mailand (1796), zu dieser Zeit der Protagonist unseres Romans, Fabricio del Dongo, noch ein sehr kleines Kind war, und zweitens Napoleons letzte Schlacht bei Waterloo, an deren Fabricio freiwillig nicht mal 20 jährig teilnahm. Dieses Waterloo hat Stendhal literarisch gut gestaltet. Besonders im ersten Kapitel hatte ich doch den Eindruck, historische Begebenheiten werden dem Leser einfach so vor die Nase gesetzt, weiterhin verwirrten mich die vielen Namen. Erst mit dem aktiven Auftreten Fabricios gewinnt der Roman an Fahrt.
Sein Vater, der Marchese del Dongo gehört zu denen, die sich mit der neuen Welt nicht mehr auseinandersetzen wollen. Der Marchese ist gegen die Aufklärung, den Franzosen abgeneigt. Und was er über das Denken sagt ist fatal. Er behaupet, das Denken habe Italien ins Verderben gebracht. Bildungssscheu war er auch noch, allerdings Fabricio von Jesuiten erziehen lässt. Aber, dieser Bildungsgegner schickt Fabricio auch zum Pfarrer Don Blanes, damit der Junge dort Latein lernt, allerdings nicht das Klassische Latein, denn der beliebte Pfarrer kann nur das Kirchenlatein, was er in Gebeten und Ḿessbüchern findet und das ist doch recht mager. Von Bildung kann man hier wirklich nicht sprechen, Erzählt wird auch noch, der Pfarrer beschäftige sich sehr ernsthaft mit Astrologie, wovon Fabricio auch zehrt. Bloß, ich jedenfalls erlaube mir zu behaupten, Astrologie zählt nicht mal zur Allgemeinbildung.
Fabricios Jugend wird nur angerissen. und als er sich entscheidet, mit Napoleon in den Krieg zu ziehen, braucht Stendhal nur ungefähr zwei Sätze, bis er in Paris ist. Der Autor wohl im Hinterkopf hat, möglichst schnell ins Eingemachte zu kommen. Fabricio im Gegensatz zu seinem Vater ist auf der Seite der Franzosen.
Es fällt auf, Fabricio verpasst drei mal Napoleon. Das muss Absicht sein. 1796 in Mailand war Fabricio zu klein, dann war er einfach zu naiv zu glauben, er könne Napoleon in Paris sehen, als ob er zu ihm einfach hinspazieren könnte, dass dritte Mal verpasst er seinen verehrten Kaiser in der Schlacht bei Waterloo, weil er gerade zufällig betrunken ist. Vielleicht bekommen wir noch heraus, was das zu bedeuten hat.
Natürlich habe ich mich gefragt, warum will sich ein Siebzehnjähriger überhaupt in den Krieg stürzen.
Zitat von Stendhal
„Ah!, Endlich bin ich im Feuer! Sagte er sich. Ich habe das Feuer gesehen! Wiederholte er mehrmals zufrieden. Jetzt bin ich ein richtiger Soldat.“
Kurz davor, bevor er dieses sagt, sterben neben ihm zwei Husaren, ein Pferd wälzte sich blutüberströmt auf der Erde und verfing sich mit den Hufen in den eigenen Eingeweiden.
Vielleicht wacht der Junge irgendwann mal auf? Wird er wohl. Zu Beginn des Romans wird schon auf den Größenwahn Napoleons hingewiesen, er sei der Nachfolger von Cäsar und Alexander dem Großen.
Liebe Grüße
mArtinus
„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
Fabricio befindet sich noch auf dem Schlachtfeld, da haben wir Zeit, ganz allgemein über die Hintergründe des Romans zu sprechen. In „Rot und Schwarz“ stoßen wir auf Stendhals berühmte Romandefinition:
Zitat von Stendhal
Ach, Monsieur, der Roman ist ein Spiegel, der eine Landstraße entlangspaziert. Mal spiegelt er das Blau des Himmels wieder, und den Schlam der Drecklöcher auf der Straße. Under der Mann, der den Spiegel auf seinem Rücken trägt, wird von Ihnen der Unmoral beschuldigt.! Sein Spiegel zeigt den Schlamm, und sie beschuldigen den Spiegel! Beschuldigen Sie lieber die Landstraße mit ihren Drecklöchern oder noch besser den Beamten von der Straßenaufsicht, der zuläßt, daß das Wasser faulig wird und ein Dreckloch entsteht.
(„Rot und Schwarz“, Zweiter Teil, Kap. 19)
Auf „Rot und Schwarz“ trifft diese Definition zu, ist doch der Roman in der historischen und sozialen Realität der Restauration verankert. Die Kartause ist anders gelagert. Dort können wie von drei historischen Hintergründen sprechen:
1.)die Napoleonischen Kriege 1796 Mailand, 1815 Waterloo
2.)das zeitgenössische Italien, die ersten drei Jahrzehnte im 19. Jahrhundert
3.)die Epoche der Renaissance, 16. und 17. Jahrhundert, das über best. Dokumente in den Roman Eingang gefunden hat, die Stendhal in Rom gefunden hat.
Zu1) Stendhal selbst hat kriegerische Erfahrungen auf dem Schlachtfeld. Nicht bei Waterloo, sondern er zog 1812 mit Napoleon gen Moskau. Das hat mich doch erstaunt. Hat er also wirklich diese Niederlage Napoleons direkt erlebt? Ja, hat er. In einem Brief vom 04. Oktober 1812 an Pauline (seine Frau?), hat er das brennende Moskau beschrieben. Er war auch dabei, als Napoleon im Jahre 1813 über die verbündeten Russen und Preußen am 20.-21. Mai in Bautzen besiegte., infolgedessen er am 06. Juni Intendant in Schlesien wird. Schon 1809 war er beim blutigen Vormarsch französischer Truppen auf Wien dabei.
Zu2) Italien war am Ende des 18. Jahrhunderts in etwa ein Dutzend absolutistischer Kleinstaaten zersplittert. Es gab Bestrebungen, Italien zu einem Einheitsstaat zu machen. In diesen Bestrebungen entwickelte Napoleon die Idee der „Zinsalpinischen Republik“(1897), 1802 gab es eine kurzlebige „Republica Italiana“ und 1805-1814 das „Königreich Italien“, Staatsoberhaupt war Napoleon. 1814/15 gab es wieder einen Rückfall in die Kleinstaaterei. Der hauptsächliche Teil der Kartause, die Kap. 5-28, in der Zeit von 1815-1830. Der Wiener Kongreß (1814/15) beendete nicht den Flickenteppich Italiens, reduzierte ihn nur ein wenig, so schlossen sich z.B. Lombardei und Venedig zu einem Königreich zusammen, das direkt von Wien aus regiert wurde.
Zu3) Stendhal schafft Figuren, als kämen sie direkt aus der Renaissance: Schönheit, Leidenschaft, Charaktere. Fabricio träumt auf dem Schlachtfeld von Waaterloo Heldengeschichten (Ariost, Tasso).
Zitat von Stendhal
Was Fabrizio zum Bleiben bewog, war die Feundlichkeit, mit der ihm die Husaren, seine neuen Kameraden, begegneten; er fing an sich für einen engen Freund all der Soldaten zu halten, mit denen er seit ein paar Stunden umhergaloppierte. Zwischen ihnen und sich sah er dieselbe edle Freundschaft wie bei den Helden Tassos und Ariosts. Kap.3
Allerdings, nachdem ihm eigene Kameraden sein Pferd gestohlen hatten, schwenkte seine Begeisterung um:
Zitat von Stendhal
Nacheinander zerflückte er all seine schönen Träume von ritterlicher und erhabener Freundschaft, wie die Helden des Befreiten Jerusalems sie kannten. Kap. 3
Clelia hat ein Gesicht wie von Guido Reni (1575-1642) gemalt, die junge Marchesa del Dongo gleicht der Herodias con Leonardo da Vinci.
Antonio da Correggio (1489-s1534) ist oft präsent, er selbst hatte auch eine Verbindung zu Parma. So schreibt Stendhal in einem Briefentwurf vom 17.-28. Oktober 1839:
Zitat von Stendhal
Zum Beispiel ist die ganze Figur der Sanseverina nach Corregio gemalt...
mArtinus im Nachwort gestöbert
„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
So, nun folgt endlich mein erster Eindruck (hat ja lange genug gedauert). Ich würde sagen, wir geben Kapitel an, wenn wir zitieren, da wir ja unterschiedliche Ausgaben lesen. Ich muss aber doch bereits feststellen, dass mir deine Übersetzung besser gefällt.
Das Chaos, das du beschreibst, die von Stendhal so hastig zusammengefasste Familiengeschichte von Fabrizio, ist mir auch aufgefallen, und ebenfalls fand ich erst Ruhe beim Lesen, als Fabrizio in den Krieg zieht.
Da Ariès "Geschichte des Todes" mir noch so deutlich im Kopf herumschwirrt, musste ich an dieser Stelle lachen, als Stendhal über das (auch von dir erwähnte) Denken schreibt:
Zitat von Stendhal Kap. 1
Die anhaltende missgünstige Despotie Karls V. und Philipps II. hatte tiefste Finsternis verbreitet; jetzt stürzten ihre Standbilder, und man fühlte sich plötzlich von Licht überflutet. Seit etwa fünfzig Jahren, und je mehr Aufsehen die Enzyklopädie und Voltaire in Frankreich erregten, schrien die Mönche den guten Mailändern immer heftiger zu, dass lesen oder sonst etwas auf der Welt lernen sehr unnütze Mühe sei und dass man so ziemlich sicher sein könnte, einen guten Platz im Paradies zu erlangen, wenn man nur seinem Pfarrer sehr pünktlich den Zehnten zahle und ihm getreulich auch die kleinsten Sünden beichte.
Das scheint in vielen Zeiten vom Klerus in dieser Form so ausgelegt worden zu sein. Denkt nicht, lernt nicht, aber zahlt pünklich in unsere Kassen, damit ihr euch nicht versündigt...
Warum es den jungen Fabrizio nun so eilig in den Krieg zieht, erklärt sich mitunter auch am Anfang des Romans, denn sein Vater fordert, dass sein Sohn das Latein aus einer alten Familienschrift eines einstigen Erzbischofs lernen soll, wobei das Buch etliche Schlachten enthält, durch die der junge Mensch stark beeinflusst wird. Hier entwickelt sich eine Liebe zur Schlacht und zum Sieg, kurz: zum Heldentum.
Napoleon gilt in seinen Augen als Befreier und Held, er bewundert ihn aus ganzer Seele, weshalb er ihm unbedingt begegnen, an seiner Seite kämpfen will. Als er jedoch mitten in die Schlacht gerät, der Kaiser ihm sogar über den Weg läuft (bzw. reitet), wirkt alles auf ihn schnell ernüchternd. Er sieht das Leid, das Blut, den Tod, stellt fest, dass die Kameradschaft unter den Soldaten nicht seinem Idealbild entspricht.
Zitat von Stendhal Kap. 3
So war also der Krieg nicht mehr jener gemeinsame edle Aufschwung ruhmbegeisterter Seelen, wie er ihn sich nach den Aufrufen Napoleons vorgestellt hatte!
Im Gegenteil. Nicht der Feind plündert, sondern die eigenen Leute. Ihm wird das Pferd gestohlen, die Kugeln zischen ihm um die Ohren und die Husaren lachen ihn aus. So, ohne Heldentum, hat er sich den Krieg wohl kaum ausgemalt.
Fabrizio ist naiv, gutgläubig und eitel, entstammt einer adligen und regierungstreuen Familie (insbesondere sein Vater hält (wie du ja auch schon erwähnt hast) an der alten Regierung fest und lehnt die neuen Entwicklungen ab), so ist es kein Wunder, dass sich seine Überheblichkeit, die er an den Tag legt, nicht mit den tatsächlichen Ereignissen deckt. Er wirkt nicht wie ein Held, und wenn Stendhal oder der Erzähler ihn "unseren jungen Helden" nennt, dann hört man deutlich den ironischen Ton heraus, den diese Bezeichnung mit sich bringt. Während nämlich Fabrizio an den Ruhm und die Ehre denkt, ein fiktives Bild von der Schlacht im Kopf hat, landet er (vielleicht nicht schnell genug, aber doch recht bald) mitten im Dreck des Krieges.
Trotzdem bleibt er eine Weile weiterhin blind und stolz, nimmt sein Handeln aber nicht in diesem Sinne wahr. - Ich stolz! Ich, Fabrizio Valserra, Marchesino del Dongo, der ich mich herablasse, den Namen Vasi, den Namen eines Barometerhändlers, zu tragen! - Da er das Französische sehr schlecht spricht und sich kaum ausdrücken kann, wirkt er auf die Soldaten nicht als Gleichgesinnter, weshalb sie ihn auch ablehnen, während er für sie tiefe Freundschaft empfindet. So sehr sehnt er sich danach, zu kämpfen, dass er darüber hin und wieder völlig kopflos handelt.
Schließlich muss er sich an einer Brücke bewähren und wird leicht verwundet. Hier wird der junge Held endlich wach.
Zitat von Stendhal Kap. 5
Der starke Blutverlust hatte ihn von der ganzen Romantik seines Wesens befreit.
Liebe Grüße,
und ich freue mich auf diese wunderbare Leserunde.
tAxine
Art & Vibration
Hallo Taxine,
Ich lese in einer modernen Übersetzung, ließt sich so ziemlich zeitgenössisch. Finde ich aber gut.
Ich fand es doch ein wenig merkwürdig, dass Fabrizio aufgrund seines Blutverlustes und anschließender Schwäche gleich die französische Sprache vergessen hat. Nach dem Krieg findet Fabrizio keine Ruhe, denn er wird von seinem Bruder denunziert,
Zitat von Stendhal
weil er Napoleon Vorschläge einer weitverzweigten, im ehemaligen Königreich Italien organisierten Verschwörung hinterbracht habe.
(Kap.5).
Natürlich stimmt das nicht. Er flieht aber in den Piemont. Die Gräfin Signora Pietranera erbittet beim Domherrn Broda und beim Baron Binder in Mailand für ihren geliebten Neffen Fabrizio.
Historisch interessant ist, dass Baron Binder in dieser Sache nicht eigenmächtig handeln durfte. Er müsste die Befehle aus Wien abwarten.
Fabrizio und die Gräfin, seine Tante. Sie hatten immer ein gutes Verhältnis, und es brauch nicht verschwiegen werden, die Dame träumte gelegentlich von einem Liebesverhältnis mit dem Jungen. Im fünften Kapitel beginnen also die Liebeleien, von denen es einige im Roman gibt. Die Tante war gelangweilt, weil Fabrizio für Napoleon kämpfte, und angelte sich gleich den nächsten. Die Damen brauchten also damals einen Liebhaber, wenn sie gelangweilt waren.
Zitat von Stendhal
„Seit Fabrizio weg war, erhoffte sie wenig von der Zukunft, ihr Herz brauchte Trost und etwas Neues.“
(6. Kap.)
An dieser Stelle hat der Roman durchaus etwas Triviales.
Ein Graf Mosca, Kriegs-Polizei-und Finanzminister in Parma versprach, verliebte sich in diese Dame. Ihr schien das in ihrer Situation ganz recht. Interessant ist das Milieu ihrer Begegnung: Die Mailänder Scala. Der Graf unterstand dem Fürsten Ernesto IV. Es folgt nun eine köstliche Marotte über den Grafen Mosca: Es heißt wie folgt:
Zitat von Stendhal
...er hätte noch gut ausgesehen, wäre er nicht durch eine Schrulle seines Fürsten gezwungen gewesen, sich die Haare zu pudern, als Beweis aufrechter politischer Gesinnung.“
(Kap.6).
Durch ein unmoralisches Angebot bringt der Graf die Signora an den Hof zu Parma, wo sie Herzogin wird.
Zitat von Stendhal
Es ist das bequeme an der absoluten Macht, daß sie in den Augen der Völker alles heiligt.
Stendhal macht sich über den Fürsten Ernesto lustig. Er hat eine Mätresse von 25 Jahren, die aus gewisser Entfernung als schön beschrieben wird, kommt man näher ran, sieht man unzählig viele Fältchen, „die aus der Marchesa eine junge Alte machen.“ An sich ist das vom Erzähler ziemlich gemein beschrieben. Ernesto verglich sich gerne mit dem Sonnenkönig, im großen Kabinett hing ein lebensgroßes Bild von Ludwig XIV.
Zitat von Stenfhal
Die Herzogin fand, daß beim Fürsten die Nachahmung Ludwigs XIV. In manchen Augenblicken etwas zu auffällig war; zum Beispiel, wenn er gütig lächelte und dabei den Kopf zurückwarf.
(Kap.6)
Liebe Grüße
mArtinus
„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
Hallo Martinus,
hast du eigentlich mittlerweie schon "Rot und Schwarz" gelesen? Bin jetzt in der Kartause 150 Seiten weit, komme also gut voran.
Noch ein paar weitere Gedanken.
Fabrizio soll bei seiner Rückkehr aus dem Krieg verhaftet werden. Verraten wurde er durch seinen eigenen Bruder, der ihn als Spitzel anschwärzt, Napoleons Vertrauen genossen und diesem einiges vom Feind mitgeteilt zu haben, was, wie der Leser weiß, nicht zutrifft, da Fabrizio Napoleon nicht näher kennenlernt. Ich finde, der Konflikt zwischen Vater und Sohn und Bruder und Bruder ist von Stendhal sehr schlecht ausgearbeitet worden (nebst einigen anderen Dingen, die mir auch zu sehr als ein Durcheinander erscheinen). Man kann nur ahnen oder voraussetzen.
Fabrizio kommt also aus dem Krieg zurück und wird rechtzeitig von seiner Mutter und seiner Tante gewarnt, so dass er die Flucht ergreift und sich auf ein Landgut zurückzieht. Dort verlässt ihn der Leser und der Erzähler richtet sein Augenmerk auf ein anderes Familienmitglied, auf die Fürstin Pietranera, seine Tante. Dass ausgerechnet diese sich in ihn verliebt, ist überraschend. Sie ist zwar erst 31 Jahre alt (Stendhal verbesserte ihr Alter später in 27 Jahre), fühlt sich aber schon bejaht und uralt. Da Fabrizio für sie unerreichbar ist, da er in ihr die Tante sieht, so ihre Ansicht, geht sie ein Verhältnis mit einem Grafen ein, der noch verheiratet ist, der ihr rät, sich ebenfalls zu verheiraten, damit sie ihre Liebe ungestört genießen können, und zwar, mit all seinem Reichtum. Sie hätte auch von den Zinsen seines Geldes mit ihm leben können, dies jedoch nicht in Parma, wo der Graf Mosca angesehen ist und dem Fürsten dient. Hier hat er alle Freiheiten, bietet seiner Angebeteten an, auf all das zu verzichten. Sie entscheidet sich für das unmoralische Angebot, das, wie der Graf der Gräfin Pietranera versichert, am Hof von Parma gang und gäbe war. Trotzdem rechtfertigt sich der Erzähler:
Zitat von Stendhal Kap. 6
Welche Schuld an diesem Geschehen sollte den Geschichtsschreiber treffen, der den geringsten Einzelheiten des vernommenen Berichts getreulich folgt? Ist es sein Fehler, wenn die Personen, verführt durch Leidenschaften, die er durchaus nicht teilt, leider in höchst unmoralische Handlungen verfallen? Es stimmt, solche Dinge geschehen nicht mehr in einem Lande, in dem sich die Eitelkeit nur noch in einer einzigen, alle anderen überlebenden Leidenschaft ausprägt, in der Sucht nach Geld.
Überhaupt erfährt man einige Dinge über die damaligen Sitten. So sind gepuderte Perücken und Haare nicht nur „das Symbol alles Langweiligen und Traurigen“ (wie es im 6. Kap. heißt), sondern ein Zeichen einer loyalen, das heißt, einer reaktionären Gesinnung.
Am Hofe ist es Frauen, die nicht Herzogin, Prinzessin oder Gemahlin spanischer Granden sind, nicht gestattet, sich unaufgefordert zu setzen, bis sie nicht durch Fürst oder Fürstin dazu aufgefordert werden. Um „den Rangunterschied zu betonen, achteten die höchsten Herrschaften stets peinlich darauf, ein wenig Zeit verstreichen zu lassen, bevor sie die Damen, die nicht Herzoginnen waren, zum Sitzen einluden.“
Hier ahmt der Fürst Ernesto IV. Ludwig XIV. nach. An dessen Hof bekamen z. B. Frauen, die er interessant fand, einen Schemel zugeteilt, wenn sie sich in seine Gunst gesichert hatten, die auch sehr wechselhaft war. Es war als große Ehre angesehen, wenn der König Frauen zum Sitzen einlud.
Sag mal, Martinus, hast du als Anmerkungen auch die Verbesserungen im Buch, die Stendhal später gemacht hat?
Liebe Grüße
Taxine
Art & Vibration
Ups... jetzt haben wir gleichzeitig gepostet. Da überschneidet sich einiges, aber... was soll's.
Zitat von Martinus
An dieser Stelle hat der Roman durchaus etwas Triviales.
Allerdings. Und nicht nur an dieser Stelle.
Zitat von Martinus
Die Damen brauchten also damals einen Liebhaber, wenn sie gelangweilt waren.
Ich wette, dass ist bei manchen Damen auch heute noch so.
Ich fand es schon leicht merkwüdig, dass ausgerechnet Fabrizios Tante von ihm schwärmt. Sie ist zwar nicht wirklich "uralt", aber doch etliche Jahre älter. Er, gerade einmal siebzehn Jahre, müsste in ihren Augen mehr als Kind wirken, als als Mann, zumal auch sein Charakter sehr kindlich ist. Stattdessen sorgt sie sich, dass ausgerechnet das Alter Fabrizios dazu neigt, ihre schärferen Züge zu erkennen, wie sie ein gereifter Mann nicht so schnell sieht. Das schien damals wohl auch eine Normalität zu sein, dass die Tante den Neffen liebt und ihn, würde er wollen, jederzeit nehmen würde und dass ältere Frauen sich jüngere Geliebte nahmen.
Art & Vibration
Hallo Taxine,
"Rot und Schwarz" habe ich nicht gelesen. Dieser Roman spielt in der Zeit der Restauration (Balzac-Zeit)
Zitat von Taxine
Ich finde, der Konflikt zwischen Vater und Sohn und Bruder und Bruder ist von Stendhal sehr schlecht ausgearbeitet worden (nebst einigen anderen Dingen, die mir auch zu sehr als ein Durcheinander erscheinen). Man kann nur ahnen oder voraussetzen.
Ja genau. Der Konflikt besteht warscheinlich darin, Fabrizio ist pro Frankreich, sein Vater und sein Bruder sind contra Frankreich. Das große Problem des Romans ist der all zu häufige Szenenwechsel, da geht manches verloren. Ich werde später noch auf eine Stelle hinweisen, bei der mir das nicht zum Vorteil des Romans besonders aufgefallen ist. Natürlich könnte man herumagumentieren, durch häufigen Szenenwechsel wird der Roman unruhiger, und das spiegelt die Rastlosigkeit Fabrizios. Allerdings fände ich so eine Sichtweise zuweit hergeholt. Schnitzer findet man einige im Roman wohl eher deshalb, weil Stendhal diesen Roman sehr schnell heruntergeschrieben hat.
Zitat von Taxine
Sag mal, Martinus, hast du als Anmerkungen auch die Verbesserungen im Buch, die Stendhal später gemacht hat?
Ja, einige Textpassagen sind angegeben: Fabrizios Ankunft in Paris; Vorspiel, erzählt von Biraghi im Kreis der Madame Le Baron in Amiens, sechs Wochen nach Waterloo; Episode Warney, Rassi usw.; der Wald zwischen Lugano und Grianta; Graf Zorafi, Zeitung des Fürsten von Parma;
mArtinus
„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
Ich hole ein wenig aus:
Im Frühjahr 1835 entdeckte Stendhal alte Handschriften aus dem 16. und 17. Jahrhundert, geschichten von <liebe, Tod, Ehebruch, Inzest, Rache, Leidenschaft. Stendhal ließ sie kopieren. Aus diesem Fundus plant er diverse Erzählungen zu gestalten. Eine Geschichte ist darunter, die von der Jugend des Papstes Paul III. (Alessandro Farnese) handelt. Eine Geschichte handelt vom „Ursprung der Größe der Familie Farnese“, die diverse moralische Verfehlungen auflistet: krumme Wege auf dem Weg zum Reichtum und zur Macht usw. In dieser Geschichte finden sich viele Elemente, die der Leser in der Karthause von Parma, allerdings stark verfremdet, wiederfindet.
Wir erinnern uns an Kap. 6, Beschreibung der Zitadelle nahe von Parma:
Zitat von Stendhal
Dieser Turm, von den Farnese, den Enkeln Pauls III., nach dem Vorbild des Hadrian-Grabmals in Rom zu Beginn des 16. Jahrhunderts errichtet...,
Kap. 6 der sogenannte Farnese_Turm.
In Neapel soll Fabrizio Theologie studieren. Graf Mosca hatte geplant, dass Fabrizio zum Erzbischof von Parma aufsteigen soll, damit er allen Verfolgungen wegen Spionageverdacht entzogen werde. In Neapel findet Fabrizio, der sich auch der Archäologie widmet, eine Tiberius-Büste. Hier hat nun Stendhal seine Vorliebe für die Archäologie in den Roman eingebaut. 1832 kaufte er in Misenum eine Büste des Tiberius.
Das Kapitel 7 eröffnet uns die Liebesúnfähigkeit Fabrizios, der von einer Frau zur anderen geht. In einem späteren Kapitel wird er als Libertin bezeichnet, darum es sich hier um einen Liebestragödienroman über eine Vereinsamten handelt, der ausschweifend lebt, aber zu tiefempfundener Liebe nicht fähig ist. Dazu ich mir natürlich überlege, wann macht er denn sein Keuschheitsgelübde?
Stendhal lässt einiges erzählerisches aus: das Theologiestudium, auch wenn es vier Jahre dauert. Die genauen Umstände, das Ringen Fabrizios, ein Theologiestudium hinzulegen oder nicht, wird auch nur gestreift. In unserem Karthauseroman passiert so viel Action, dass der Autor einiges an Action sogar weglassen muss, damit der Roman nicht zu lang wird (den genauen Grund des Autors kenne ich natürlich nicht, aber dieser Roman hätte auch den Umfang von Tolstois „Krieg und frieden“ sprengen können). Trotz leichtfüßiger Kritik, ein sehr unterhaltsamer Schinken, den ich sehr gerne inhaliere.
Liebe Grüße
mArtinus
„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
Der Hintergrund zu Stendhals Kartause ist sehr interessant, daher vielen Dank, werter Martinus, für die kleine Übersicht. Ich hatte mich schon gewundert, dass ausgerechnet der Held des Romans sich in religiöser Richtung entwickelt und als Charakter dort irgendwo festsetzt, mit all dem Betrug, der unter den Klerikern vorherrschte, denen es nicht so sehr um Glauben, sondern um Macht und Ansehen ging.
Stendhal hat manchmal überhaupt schöne Beschreibungen, die sowohl die Gesellschaftsschicht (hier den Hof des Fürsten Ernesto IV.) als auch andere Bereiche dieser Zeit herrlich charakterisiert und ironisch darstellt. So heißt es über eine ehemals schöne Frau, die zu viel lächelte:
… dieses ewige Lächeln, hinter dem sie innerlich gähnte…
Ja, die nun verheiratete Tante und neue Herzogin lässt, durch den Ratschlag ihres Geliebten angeregt, Fabrizio , wie schon von dir erwähnt, Theologie studieren, damit er, wie einige seiner Vorfahren, Erzbischof werden kann (natürlich mit der Hilfe des Grafen Mosca, der noch in der Gunst des Fürsten steht). Hier wird auch deutlich, dass es auf Keuschheit, Gelübte oder Ehrlichkeit gar nicht ankommt, zumindest nicht in diesem Bereich. Ihre Ratschläge sind aufschlussreich, so rät sie ihm, nichts in Frage zu stellen, schon gar nicht über Voltaire, Diderot und co zu sprechen. Man wird dir eine kleine Liebschaft, wenn du dich dabei geschickt verhältst, verzeihen, niemals aber einen Zweifel. (Kap. 6)
Sie erklärt ihm, dass er nicht gläubig oder überzeugt davon sein muss, was er lernt. Worauf es ankäme, sei sein bekundetes Einvernehmen mit den Dingen. Er soll also lieber scheinheilig sein, als ehrlich seine Ansichten vertreten, um sich in diesem Bereich hervortun zu können. Auch seine Interessen- und Leidenschaftlosigkeit sind dabei von Vorteil.
Auch diesen Satz fand ich sehr schön (Kap. 6):
… Torheiten, bei denen Blut fließt, sind nicht wiedergutzumachen.
Fabrizio, mittlerweile 23 Jahre alt, der nicht lieben kann, bemerkt trotz allem seine Zuneigung zu seiner Tante und macht, um sich abzulenken, seine Tante nicht zu verletzen und den eifersüchtigen Graf Mosca nicht zu sehr zur Last zu fallen, einer jungen Schauspielerin den Hof, wodurch er die Eifersucht ihres Gefährten erregt, der ihn umbringen will. Zunächst kehrt Fabrizio noch einmal an den Ort seiner Kindheit zurück, besucht den Abbate Blanes, seinen alten Lehrer, durch den er an Vorhersehung, Sterndeutung und die Macht der Träume zu glauben gelernt hat. Der Alte prophezeit ihm zwei verschiedene Wege und rät ihm, niemals jemanden zu töten. Als er wieder aus der Stadt will, die er nicht betreten darf, da er ansonsten verhaftet werden könnte, kann er sich gerade so retten und stellt fest, … dass meine Seele Gefallen im Betrachten von Dingen fände, die sich in zehn Jahren ereignen können, und dabei vergesse sie, auf das zu achten, was augenblicklich neben mir geschieht. (Kap. 9)
Das trifft seinen Charakter sehr gut, wie ich finde. Er ist ein Träumer, der alles so hinnimmt, wie es kommt, ohne darüber in große Gefühlsregungen auszubrechen.
Du hast oben ja schon erwähnt, dass er sich zur Liebe nicht fähig glaubt, Martinus, und genau das ist vielleicht auch der Grund für seine trockenen Handlungen und saftlosen Gedanken und Überlegungen. Er kennt noch nicht das Feuer, das die Seele verbrennt, selbst als er von dem eifersüchtigen Mann der Schauspieltruppe angegriffen wird, den er tötet, fehlt ihm die Leidenschaft. Er wehrt sich, ohne für das Mädchen tatsächlich etwas zu empfinden. Der Tod des Komödianten ist daher umso unnötiger.
Nur die Gefahr seiner Flucht lässt so etwas wie Angst und Gefühl erahnen. Fabrizio flieht erneut, wird nun auf der einen Seite als Mörder, auf der anderen Seite immer noch als Spitzel gesucht. Durch einen ehemaligen Kutscher findet er Hilfe.
Es ist sehr bezeichnend, wie Stendhal immer wieder versucht, die Unterschiede zwischen Franzosen und Italienern in Kultur und Charaktereigenschaften herauszukristallisieren, damit bestimmte Leidenschaften richtig aufgefasst werden. Zum Beispiel berichtet er am Anfang, dass die Armut in Italien nicht als Schande betrachtet wird, ganz im Gegenteil zu der französischen Vorstellung der damaligen Zeit. Das wird deutlich, wenn Fabrizio z. B. mit den Bauern von Mann zu Mann verkehrt, was ein französischer Adliger vielleicht nicht wagen würde, ohne sich zu schämen. Auch in der Religion spielt Stendhal auf die Heuchelei an, die in Italien eher als in Frankreich zur jesuitischen Erziehung gehört. So wie Fabrizios Tante ihm rät, seine Zweifel nicht bekannt zu geben, sollten sie denn auftreten, so hat er aus seinem Studium dennoch einiges gelernt, zum Beispiel halbwegs zu erkennen, wann er sündigt. Dass er trotz der Regeln seinen Glauben behalten hat, ist schon ein kleiner Erfolg, wo die Religionsauffassung den Mut nimmt, über ungewöhnliche Dinge nachzudenken, und die größte Sünde darin besteht, eigene Überlegungen oder Ansichten zu hegen. Das heißt aber nicht, fatal blind zu glauben, sondern sich einfach den Regeln des Klerus anzupassen. Und die Regeln sind:
Zitat von Stendhal Kap. 12
Um zu erfahren, wodurch man sich schuldig gemacht habe, müsse man seinen Seelsorger befragen oder das Sündenregister lesen, das man in den „Vorbereitung zum Bußsakrament“ benannten Büchern findet.
Fabrizio, der jenen Mann aus Notwehr getötet hat, gesteht sich seine Sünden ein, sieht aber nicht, dass die ungerechtfertigte Ernennung zum Erzbischof ebenfalls eine Sünde ist. Dies hält er für selbstverständlich, kein Wunder bei jener theologischen Erziehung.
Zitat von Stendhal e.d.
Es ist der Triumph der jesuitischen Erziehung, sich gewohnheitsmäßig über Dinge, die sonnenklar sind, einfach hinwegzusetzen.
Was Fabrizio Aufrichtigkeit im Gebet nennt, hätte, so Stendhal, ein Franzose oder ein anderer Mensch ganz einfach als Heuchelei bezeichnet.
Auch am Hofe von Parma herrscht die gleiche "Stimmung" vor. So nimmt man Fabrizio nicht das Töten krumm, sondern dass er sich herabgelassen hat, selbst zu töten, statt einen Auftragsmörder zu beschäftigen. Erzbischof Landriani, der den Adel liebt, warum er Fabrizio als Untergebenen auch für sich gewinnen will, schreibt ihm so schön:
Zitat von Stendhal Kap. 12
Nicht die furchtbare Sünde des Mordes wirft Ihnen die öffentliche Meinung vor, sondern einzig Ihre Ungeschicklichkeit oder eigentlich Ihre Unverfrorenheit, das Ganze nicht einem bulo, einem gedungenen Mörder, übertragen zu haben.
Dass Stendhal auf die unterschiedlichen Leidenschaften von Italienern und Franzosen verweist, ist auch darum lustig, da sein Protagonist irgendwie weder dem einen noch dem anderen Bild entspricht, eine ganz und gar eigene Schöpfung Stendhals ist. Seine Entwicklung wird dann wohl aus den alten Handschriften, die du erwähnt hast, geboren sein, was die Kaltblütigkeit und andere, dort benannte Eigenschaften betrifft. Fabrizio aber ist ein wirkliches Unikat. Man folgt ihm, ohne genau ausmachen zu können, ob man ihn nun sympathisch oder unsympathisch findet.
Liebe Grüße
tAxine
Art & Vibration
Hallo Taxine
Zitat von Stendhal
Er fiel auf die Knie und dankte Gott überschwenglich für den Schutz, der ihm so offenkundig zuteil wurde, seit er zu seinem Unglück Giletti getötet hatte.
Kap. 12
Das ist ein schönes Beispiel dafür, das religiöser Glaube manchmal so hingemauschelt wird, wie man ihn haben möchte. Tatsache ist, Christen sollen nicht töten. Außerdem wird er später dann doch verurteilt, obwohl die Herzogin sich für seine Unschuld vor dem Fürsten eingesetzt hat. Übrigens ist das bisher der einzige starke Auftritt der Herzogin, die bisher doch recht blass fast nur im Techtlmechtl mit Fabrizio aufgetaucht ist. Übrigens wird mir schon schwindelig, wie Fabrizio von Frau zu Frau tingelt. Marietta bildet sich ein, sie sei Fabrizios große Liebe, schon stellt er der Sängerin, der Fausta nach, die von ihrem Grafen M... eifersüchtig bewacht wird. Und dann wird in einem Satz fast nebenbei erwähnt, Fabrizio sei in die Kammerzofe bettina verliebt. Da hat sich Fabrizio mit der fausta so viel Mühe gegeben, dass sie auf ihn aufmerksam wird und dann lässt sein Interesse schnell nach. Dieses ganze 13. Kapitel ist herrlich gestaltet, wie Fabrizio verkleidet der Fausta nachstellt, sogar bis in die Kirche, und der eifersüchtige Graf M... sie streng beobachtet, weil er den Nebenbuhler stellen will, der so glaubt er, sich auch in der Kirche befindet. Und dann stellt sich heraus, Fabrizio war ganz in der Nähe des Eifernden. Ein herrliches Kapitel.
Zitat von Taxine
Nur die Gefahr seiner Flucht lässt so etwas wie Angst und Gefühl erahnen.
Ist dir aufgefallen, dass Fabrizio eigentlich andauernd fliehen muss, sich verstecken muss, auch hetzt von Frau zu Frau. Schon eine tragische Figur. Und im Gefängnis wird er keine Ruhe finden.
Liebe Grüße
mArtinus
„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
Ja, dass Fabrizio von einer Frau zur nächsten tingelt, verdeutlicht wohl seine Kaltblütigkeit und vorerst vorhandene Unfähigkeit zur Liebe. Er glaubt daran, dass diese Leidenschaft ihn nie überwältigen wird, dass ihm da etwas fehlt. Die Frau zu erobern, ist für ihn ein Spiel, ein rein erotischer Akt, ohne Herz und, wie wir ja als Leser auch deutlich erkennen können, oftmals ohne Verstand, begibt er sich dafür, dass er nichts fühlt, auch noch laufend in Schwierigkeiten.
Zitat von Maritnus
Ist dir aufgefallen, dass Fabrizio eigentlich andauernd fliehen muss, sich verstecken muss, auch hetzt von Frau zu Frau. Schon eine tragische Figur. Und im Gefängnis wird er keine Ruhe finden.
Ja, er ist ein ständig Verfolgter, immer gesucht, aus den verschiedensten Gründen, bringt sich selbst in Gefahr und landet dann auch noch tatsächlich im Gefängnis. Diese ganze Intrige durch den Fürsten, die hat mir allerdings sehr gefallen, weil die Herzogin alle Karten ausgespielt hat und der Fürst so wider Erwarten anders darauf reagierte. Das war wunderbar spannend.
Du sagtest in einem deiner Beiträge:
Zitat von Martinus
Ich werde später noch auf eine Stelle hinweisen, bei der mir das nicht zum Vorteil des Romans besonders aufgefallen ist.
Mir ist da z. B. auch eine Stelle aufgefallen, die ganz schlimm und verkürzt auf mich gewirkt hat. Während in Kapitel 6 der Graf Mosca noch mit seiner Eifersucht kämpft, wechselt die Szene auf einmal schlagartig in die Gedanken Fabrizios, der überlegt, wie er seiner Tante ihre Liebe erwidern soll. Woher aber nun weiß Fabrizio von ihren intensiven Gefühlen? Das lässt Stendhal völlig aus, kommt erst im Verlauf seiner Überlegungen darauf zu sprechen. Klar, seine Tante ist für den Leser durchschaubar, aber wieso auch für Fabrizio? Diesem jungen "Helden", der sich nicht zur Liebe fähig glaubt? Wie erkennt er nun die Liebe, die seine Tante für ihn empfindet? Und Stendhal lässt sie ihn ja nicht einmal nach und nach erkennen, stattdessen sagt er schlagartig, wie er nun handeln muss, um seine Tante, die so gut zu ihm war, nicht mit seiner Liebeslosigkeit zu verletzen. Das war schon sehr verknappt dargestellt.
Ab der Intrige durch den Fürsten und die Feinde der Herzogin, ab Fabrizios Verhaftung aber, ja, da hat Stendhal gute Arbeit geleistet. Und ausgerechnet die Frau, der er einst als Zwölfjährige in seine Kutsche helfen wollte, ändert sein ganzes Wesen, lässt ihn fühlen, was die Liebe ist. Herrlich!
Liebe Grüße
Taxine
Art & Vibration
Hallo werte Taxine,
Zitat von Taxine
Du sagtest in einem deiner Beiträge:Zitat von Martinus
Ich werde später noch auf eine Stelle hinweisen, bei der mir das nicht zum Vorteil des Romans besonders aufgefallen ist.
damals habe ich an die Stelle gedacht, als Gileti plötzlich völlig unerwartet auftaucht und gegen Fabrizio kämpft.
Zitat von Taxine
Ab der Intrige durch den Fürsten und die Feinde der Herzogin, ab Fabrizios Verhaftung aber, ja, da hat Stendhal gute Arbeit geleistet.
Genau. Stendhal ist nicht mehr so sprunghaft. Eine Szene entspricht ein Kapitel. Eine Wohltat ist das. Clelia Conti, die Tochter des Kerkermeisters, im 14, Kapitel wird ihr Haupt mit Abbildungen aus Gemälden von Guido Reni verglichen. Es scheint so, dass Clelia in ihrer Schönheit die etwas alternde Herzogin ablöst ( na, ja, damals war 36 Jahre schon alt und die Gefangennahme Fabrizios hat die Herzogin noch einmal mehr altern lassen. Was mir an den beiden ersten Kapiteln des Zweiten Teils besonders gefällt ist, wir lesen ausführlich in den Gedanken der Hauptdarsteller, hier Clelia und die Herzogin, es ist schon fast wie ein Bewusstseinsstrom. Clelia wird umwerfend beeindruckend umschrieben, hat schon mehrere Männer abgewiesen. Sie wird, du sagst es schon, dem Fabrizio in die Hände fallen. Die Gefangenahme Fabrizios treibt die Herzogin in Verzeiflung. Sie ist hin-und hergerissen:
Zitat von Stendhal
Großer Gott! wenn ich nur sterben könnte! sagte sie sich...Was für eine Feigheit! ich will Fabrizio im Unglück allein lassen! Ich bin ja von Sinnen...Nein, nein, ich muß in die Wirklichkeit zurückkehren; ich muß der scheußlichen Lage, in die ich mich aus Mutwillen gebracht habe, kaltblütig ins Auge schauen. Fataler Leichtsinn! an den Hof eines absolutistischen Fürsten zu ziehen! eines Tyrannen, der alle seine Opfer kennt!
(Kapitel 16.)
Ganz allgemein möchte ich noch sagen, es ist herrlich, wie Stendhal eifersüchtige Männer beschreibt, auch realistisch und schön leidend gezeilt, wenn Männer einen Liebesentzug zu erwarten haben. Die herogin will sich nämlich von dem Grafen Mosta trennen:
Zitat von Stendhal
Der Graf begriff nicht; sie mußte es mehrere Male wiederholen. Er wurde totenbleich, warf sich vor ihrem Bett auf die Knie und sagte alles, was maßlose Überraschung und dann wilde Verzweiflung einem geistreichen und leidenschaftlich verliebten Mann eingeben können.
Bloß den Schluss des Satzes finde ich merkwürdig. Muss es nicht heißen was..einem verliebten Mann eingegeben werden kann, in dem Sinne, was ihm einfällt, in dem Sinn kommt?
Ich bin bis Ende 17. Kapitel angekommen. Sui sind weiter, nich?
Liebe Grüße
von Martinus,
der heute noch weiterliest
„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
Hallo werter Martinus,
ja, ich bin weiter, bin sogar schon durch, wenn ich dennoch gerne und gemächlich rekapituliere. Derer Sätze oder Satzformulierungen, wie du sie da ansprichst, mit dem Grafen Mosca, gab es einige in diesem Werk, und zu jener Zeit war die Sprache wohl in diesem Sinne ausgeformt. Klingt für uns heute wie ein Ausdrucksfehler.
Was mich eigenartig fasziniert, ist mein Hin- und Hergerissensein mit der Kartause, denn im Grunde ist dieses Werk durchaus lediglich Unterhaltung, wenn auch eine gute (wesentlich besser als z. B. Dickens). Die Hauptthemen sind die Liebe und die Intrigen, die Verballhornung dieser Hofgesellschaft, die ihrem jeweiligen Fürsten die Füße küsst und je nach Lust und Laune die Ansichten mit denen des Fürsten wechselt und übereinstimmt. Die sogenannte öffentliche Meinung, die nicht nach Wahrheit, sondern nach genügend Klatsch sucht, der überhebliche Klerus und schließlich der Rückzug in die Kartause von Parma, aus Kummer, was dem Lärm am Hofe eine neue Wendung gibt und dann erneut wechselt (dazu später), das sind schon interessante Entwicklungen.
Was mich zunächst noch verwundert hat, dass ausgerechnet Stendhal über solche Themen schreibt, wo es mit dem Krieg und dem Schlachtfeld losging, eine Entwicklung, die ich so gar nicht kommen gesehen habe, ist mir jetzt eher verständlich, da ich bereits in einer anderen Schrift Stendhals dahintreibe, seine eigenen Aufzeichnungen, "Das Leben des Henri Brulard", die wunderbar, ja wirklich wunderbar geschrieben sind, wesentlich besser als die Kartause. Schon der olle Léautaud lobte und vergötterte Stendhal gerade wegen seiner autobiographischen Schriften, und ich muss sagen, ich kann ihm da nur zustimmen.
Da heißt es gleich zu Anfang:
Das ist etwas Neues für mich, zu Leuten zu sprechen, von deren geistigen Haltung, Erziehungsart, Vorurteilen und Religion man ganz und gar keine Vorstellung hat. (Hier spricht er von denen, die seine Schriften in etlichen Jahren lesen könnten, falls sich jemand erbarmt, diese autobiographischen Gedanken zu veröffentlichen. Stendhal hat sich nichts vorzuwerfen...) Welche Aufmunterung, wahr, ganz einfach wahr zu sein! Nur das bleibt.
Hier meint er wohl nicht so sehr seine eigentlichen Angaben, als die Bekenntnisse, über sich selbst zu schreiben, so zu schreiben, wie es ihm aus der Feder fließt, ohne Verschnörkelung oder Suche nach Stil.
Stendhal, der über sich selbst reflektiert, über sein Bewusstwerden z. B., dass er auf die Fünfzig zugeht, über seine Eroberungen, über "das Ich" als Erzähler und sein Leben an sich, das ist schon herrlich. Daher also wird auch verständlicher, warum sich Stendhal mit den Leidenschaften und der Liebe so stark beschäftigt hat, wurde er selbst häufig abgewiesen und war alles andere als ein Eroberer der Frauen. Er nahm sich mit einem Lächeln den Ratschlag eines Freundes zu Herzen, der da sagte: Wenn man eine Frau liebt, fragt man sich: was will ich mit ihr anfangen?
Das, was du über die Eifersucht des Mannes sagst, werter Martinus, das in der Kartause gut zur Geltung kommt, das mag Stendhal selbst sehr stark belastet haben. Über eine seiner Geliebten, die starb, sagte er, er hatte sie lieber tot als untreu.
(Kurz gesagt: Dieses "Leben des Henri Brulard" musst du dir unbedingt zulegen, gerade auch darum, um mehr über Stendhal und sein Denken zu erfahren!)
Aber zurückgekehrt zur Kartause von Parma, vorerst sind wir noch in der Zitadelle und sehen Fabrizio für Clelia schwärmen, nein, sich für sie an keinen anderen Ort wünschen wollend, zu ihr in aller Liebe entbrannt. Das ist schon großartig, wie Stendhal Fabrizios durcheinander gebrachte Gefühlswelt beschreibt, der behauptet:
Zitat von Stendhal Kap. 18
Bin ich ein Held, ohne es zu ahnen? Ich, der ich soviel Furcht vor dem Gefängnis hatte, sitze im Gefängnis, und es kommt mir nicht in den Sinn, traurig zu sein. Man kann also wohl sagen, die Furcht ist hundertmal ärger als das Übel selbst.
Wenn er nun, im Angesicht der wahren Liebe an seine Tante denkt, dann bemerkt er, wie seine eigenen, wankenden Emotionen erkaltet sind.
Zitat von Stendhal e.d.
Eines Nachts versuchte Fabrizio ernstlich an seine Tante zu denken, und war erstaunt, dass es ihm schwer wurde, sich ihr Antlitz vorzustellen. Die Erinnerung, die er von ihr bewahrte, hatte sich gänzlich geändert. Jetzt war sie für ihn fünfzig Jahre alt.
Trotzdessen und zunächst noch nichts ahnend, versucht die Herzogin Mittel und Wege zu finden, um Fabrizio zu befreien und den Hof um den Fürsten Ernesto IV. zu meiden, diese Gesellschaft an "Mördern voller Höflichkeit". Sie ist eine Kämpferin und mir, trotz ihrer eigenartigen Liebe und Kälte zum Grafen, sympathisch, wie auch der Graf Mosca selbst. Fabrizio, nun Gefangener der Zitadelle, einer Art erste Kartause, die ihn reifen lässt, hat ebenfalls meine ganzen Sympathien, gleichfalls die junge Clelia, wenn sie auch sehr schüchtern und gläubig ist, dennoch alles versucht, um Fabrizio zu helfen. Ausgerechnet sie ist die Tochter des Gefängnisaufsehers und handelt damit gegen ihren Vater, glaubt an Sünde und Bestrafung, wenn sie Fabrizio hilft, kann aber nicht gegen ihre Gefühle an und vor allen gegen ihr Mitgefühl für den schwärmenden Gefangenen. Beide erfinden ein schönes System, um miteinander zu kommunizieren, nutzen Alphabetkarten.
Fabrizio stellt über den Ort seiner Gefangenschaft fest:
Zitat von Stendhal Kap. 18
Ich begreife, dass sich Clelia in dieser luftigen Einsamkeit wohl fühlt. Man ist hier hundert Meilen von den Kleinlichkeiten und Bosheiten entfernt, mit denen wir uns dort unten befassen.
Hier bemerkt er auch, wie laut und nichtig sein Leben zuvor gewesen ist, wie es sich jetzt zu einem glücklichen wendet, während er doch eigentlich unglücklich sein müsste. Aber ihn beflügelt eben die Liebe, und kein Ort der Welt, kein Ort der Freiheit könnte schöner sein, als dieser, wo er einmal pro Tag durch das selbst gesägte Loch einer Sichtblende die Augen seiner Angebeteten entdeckt.
Liebe Grüße
tAxine
Art & Vibration
Werte Taxine
Zitat von Taxine
ja, ich bin weiter, bin sogar schon durch,
Köstlich. Dachte ich mir fast. In wenigen Tagen bin ich auch durch. Ich bin auch froh, dass endlich ein Klassiker mir wohlgefällig ist, nachdem ich die "Nana" sehr schnell beiseite gelegt habe, der Dickens mir zu ausgedehnt und weniger spannend war. Ja, die Hofgeschichten...kennt jemand einen guten Roman, der am Hofe Louis XIV, des Sonnenkönigs, spielt? Molière war schon sehr nahe dran, schrieb aber keine Romane. Ich frage mich nämlich, warum diie Männer bei Stendhal ihre Haare gepudert haben. Nur um ihre grauen Haare zu vertuschen? Zur zt. Zeit des Sonnenkönigs trugen sie noch Perücken. (Es gibt allerdings ein Sachbuch, da müsste sowas drinstehen: Der Sonnenkönig, Ludwig XIV. und sein Hof von Nancy Mitford).
Zitat von Taxine
"Das Leben des Henri Brulard", die wunderbar, ja wirklich wunderbar geschrieben sind, wesentlich besser als die Kartause.
Das Buch habe ich mir geordert, Herzlichen Dank. Stendhals Leben ist doch interessant, Italien....und sein Interesse für die Archäologie spiegelt sich im Roman. Angefangen hat das wohl mit der Geschichte der Kunst des Altertums von Johann Joachim Winckelman und Napoleons Expedition in Ägypten (hier). Flaubert reiste dann auch an den Nil. Das war schon eine tolle Zeit damals.
Liebe Grüße
mArtinus
„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
Hallo werter Martinus.
Zitat von Martinus
Ich frage mich nämlich, warum diie Männer bei Stendhal ihre Haare gepudert haben.
Die Etikette verlangte, dass man das Haar gepudert trug, um seine loyale und reaktionäre Gesinnung zu repräsentieren.
Irgendwo weist Stendhal im Roman auch noch einmal darauf hin, in Bezug auf Graf Mosca, der sein Haar gepudert trägt und der Tante Fabrizios daher zunächst komisch oder lächerlich erscheint. Er ist ein Anhänger und Untergebener des Fürsten und ändert sein Verhalten erst mit der Trennung von der Herzogin, für die er wider den alten und neuen Fürsten handelt.
Zitat von Martinus
Ja, die Hofgeschichten...kennt jemand einen guten Roman, der am Hofe Louis XIV, des Sonnenkönigs, spielt?
Es gibt ein Tagebuch von Tallemant des Réaux mit dem Titel "Die Histörchen", wo er über den Hof von Ludwig XIV. ganz andere Sachen berichtet, als die Historiker annahmen, warum sie ihm böswillige Verzerrung vorwarfen. Hinterher hat sich allerdings herausgestellt, dass Tallemant des Réaux die reine Wahrheit berichtet hat. Das liest sich schon köstlich, ist allerdings in diesem Sinne kein richtiger Roman.
Über Ludwig XV. und XVI. gibt es wiederum "Die Charaktere" von La Bruyère, der auch einiges der damaligen Sitten zu berichten weiß. Auch Diderots Werke sind für diese Zeit interessant, natürlich auch ganz allgemein.
Liebe Grüße
Taxine
Art & Vibration