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Hirngespinste

Austausch zwischen Literatur und Kunst


#16

RE: Stendhal

in Die schöne Welt der Bücher 21.07.2011 13:48
von Martinus • 3.195 Beiträge

Ha, Taxine, wo du das sagst, fällt mir das wieder ein:

Zitat von Stendhal

...er hätte noch gut ausgesehen, wäre er nicht durch eine Schrulle seines Fürsten gezwungen gewesen, sich die Haare zu pudern, als Beweis aufrechter politischer Gesinnung.“

(Kap.6).

Zitat von Taxine
Es gibt ein Tagebuch von Tallemant des Réaux mit dem Titel "Die Histörchen",



Oh, wie du dir das aus dem Ärmel geschüttelt hast. Wahnsinn. Genau so etwas habe ich gesucht!!!
Jetzt bin ich gut versorgt.

Über Ludwig XV. habe ich das Buch von Jacques Levron.

merci meilleures salutations
mArtinus




„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
zuletzt bearbeitet 21.07.2011 13:49 | nach oben springen

#17

RE: Stendhal

in Die schöne Welt der Bücher 22.07.2011 11:31
von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge

Übrigens, wie ich gerade nachlesen konnte, schließen Stendhals Tagebücher direkt von der Zeit her an das "Leben des Henri Brulard" an. Ich schätze, ich werde noch eine ganze Weile im Stendhalischen verweilen.

Die Autobiographie gefällt mir sehr viel besser, als das, was Stendhal in den Roman packt. Er hat eine wunderbar einfache (bewusst einfache) Art zu schreiben, eine Auflehnung gegen das verschnörkelt Schwulstige eines Chateaubriand oder Villemain. Und der Witz dazwischen... herrlich.
Ich bin übrigens sehr gespannt, wie dir das Ende von der Kartause gefällt oder wie es auf dich wirkt.

Stendhal begeisterte sich sehr für die Mathematik (übrigens behandelt das Leben Henri Brulards erst einmal nur Kindheit und Jugend, das Leben in Mailand kommt dann in den eigentlichen Tagebüchern zur Geltung.)

Zitat von Stendhal "Leben des Henri Brulard S. 317
Alles ist Irrtum oder vielmehr nichts ist falsch, nichts ist wahr, alles ist Konvention.



Über die Literatur und das Schreiben reflektiert er häufig, denn Stendhal sagt zwar, er wisse nicht, ob er Talent hätte, aber er setzt doch voraus, dass er schreiben kann, zumal er schreibt, weil es ihm Freude bereitet. Aber im Grunde genommen, lieber Leser, weiß ich nicht, ob ich gut oder schlecht, geistreich oder dumm bin. Was ich genau weiß, sind die Dinge, die mir Kummer oder Freude machen, die ich wünsche oder die ich hasse.

Zitat von Stendhal "Leben des Henri Brulard S. 341
Tasso, der Helvetius nicht gelesen hatte, erkannte nicht, dass die hundert Menschen, die von zehn Millionen imstande sind, das Schöne, das nicht Nachahmung oder Vervollkommnung des schon von der Menge begriffenen alltäglichen Schönen ist, zu empfinden, zwanzig oder dreißig Jahre brauchen, um die zwanzigtausend nächst ihnen empfänglichsten Seelen zu überzeugen, dass dieses neue Schöne in Wahrheit das Schöne ist.
(...)
Ich habe also nie den Gedanken gehabt, dass die Menschen ungerecht gegen mich wären. Ich finde das Unglück aller unserer sogenannten Dichter, die von diesem Gedanken zehren und die Zeitgenossen des Cervantes und Tasso tadeln, im höchsten Grade lächerlich.



Und im ewigen Selbsthumor:

Zitat von Stendhal "Leben des Henri Brulard S. 268
Welcher Leser wird nach der Lektüre von vier- oder fünfhundert Seiten, die von "Ichs" wimmeln, nicht den Wunsch haben, mir, wenn nicht ein Glas schmutziges Wasser über den Rock zu schütten, so doch mein Tintenfass an den Kopf zu werfen?



Liebe Grüße
tAxine




Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 22.07.2011 11:36 | nach oben springen

#18

RE: Stendhal

in Die schöne Welt der Bücher 22.07.2011 15:52
von Martinus • 3.195 Beiträge

Hallo Taxine,

Zitat von Taxine
Sympathien, gleichfalls die junge Clelia, wenn sie auch sehr schüchtern und gläubig ist, dennoch alles versucht, um Fabrizio zu helfen. Ausgerechnet sie ist die Tochter des Gefängnisaufsehers und handelt damit gegen ihren Vater, glaubt an Sünde und Bestrafung, wenn sie Fabrizio hilft, kann aber nicht gegen ihre Gefühle an und vor allen gegen ihr Mitgefühl für den schwärmenden Gefangenen. Beide erfinden ein schönes System, um miteinander zu kommunizieren, nutzen Alphabetkarten.



Ja, wunderbar diese ganze Szenerie um das Gefängnis, dass sich über mehrere Kapitel erstreckt. Hier nimmt sich Stendhal wirklich Zeit, in seine Figuren hineinzuschauen. Clelia, die auch von Zweifeln geplagt, da sie über Fabrizios freizüges Leben informiert ist, fragt sich, ob Fabrizio sie wirklich liebe, immerhin ist sie doch (nur?) die einzigste Frau, die er durch die Gitterstäbe erblicken kann. Im Übrigen erscheint mir die Geschichte um Clelia wie ein Märchen. Es gibt doch Märchen, in denen irgendeine Prinzessin diverse Verehrer abweist, und sich irgendwann für einen entscheidet. Clelia, die hier auch einen strengen Vater im Nacken hat, der sie ins Kloster schicken will, wenn sie den Marchese Crescenzi nicht heiratet. Fabrizio Angst hat, dass er vergiftet werde. Wie ein Prinzesschen- oder Rittermärchen.*) Diese literarische Gestaltung in den Gefängniskapiteln halte ich bisher für den Höhepunkt: Prädikat besondere literarische Leistung. In Clelia verliebt sich natürlich der geneigte Leser.

Taxine, also das ist so: Wenn alles klappt wie geplant, stecke ich ab morgen in einer "Stiller"-Leserunde, bin aber geneigt parallel Stendhals Autobiografie zu lesen, die sich schon auf dem Postweg befindet. Für August mache ich mir gerne Luft für "Rot und Schwarz"(evtl. gemeinsame Linsung). Stendhal betrachte ich schon jetzt als meine große literarische Entdeckung 2011, gleich wie Boualem Sansal - beide Autoren von mir selbstverständlich weiter verfolgt werden. Was für eine Freude. Ich werde einfach weiterschmökern....gleich bricht Fabrizio aus dem Gefängnis aus.

Liebe Grüße
mArtinus

EDIT: *)

Zitat von Stendahl, Kap. 22
...dann dachte er, wie ein Held aus der Ritterzeit, einen Augenblick an Clelia.




„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
zuletzt bearbeitet 22.07.2011 16:33 | nach oben springen

#19

RE: Stendhal

in Die schöne Welt der Bücher 23.07.2011 12:48
von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge

Ah... "Stiller", da wünsche ich dir viel Freude, das Werk hat mir damals sehr gut gefallen. "Rot und Schwarz" ist vorgemerkt, können wir gerne gemeinsam lesen. Ich bin bereits in Stendhals Tagebüchern, die allerdings sehr spezifisch sind, d. h., man muss für diesen Mann großes Interesse aufbringen, um diese skizzenhaften Aufzeichnungen über seine Erlebnisse und Gedanken zu lesen. Vieles dreht sich um seine Eindrücke, die er bei den Theatervorstellungen gewinnt.
Man kann auch noch zusammenfassen: Stendhal mochte Voltaire nicht. Sein Großvater verbrachte einst drei Tage bei diesem Mann, hatte sogar eine Büste von ihm, aber je tiefer Stendhal sich mit Voltaire auseinandersetzte, desto mehr fand er seine Werke "knabenhaft" geschrieben.

Für seine Schriften gilt:

Lieber will ich irgendein bedeutsames Ereignis auslassen, als in den abscheulichen Fehler des Schwulstes zu verfallen.
(S. 410 von "Leben des Henri Brulard")

Stendhal empfand eine starke Abneigung für die Heuchelei, sowohl in der Literatur als auch insbesondere in der Religion. Das lag einerseits an der Scheinheiligkeit und Heuchelei der eigenen Familie, die, wenn sie etwas lobte, bei ihm sofort die Gegenreaktion auslöste, während er früh seine geliebte Mutter verlor, für seinen Vater keine Liebe empfand, seine Tante, in die sich der Vater verliebt hatte, hasste und einzig seinen Großvater schätzte. Er traf daneben auf einige Kirchenmänner, die ihm die Neigung zur Religion ordentlich austrieben. Erst im Alter von 52 Jahren sah er einen gewissen Nutzen in der Religion ein.

Vieles aus der Kartause, das der Protagonist Fabrizio erlebt oder vielmehr seinen Charakter ausmacht, ist Stendhal selbst geschehen und gleichfalls ein eindeutiger Hinweis auf das eigene Charakterbild. So vergötterte er in rühen Jahren tatsächlich Napoleon und sein erster Einzug auf das Schlachtfeld geschieht auf einem dahingaloppierenden und unkontrollierten Pferd, das er nicht zu reiten versteht (im Gegensatz zu Fabrizio, der dafür aber ähnlich unbedarft in anderen Dingen ist) und das erst durch einen kräftigen Burschen des Kapitäns Burelviller gestoppt werden konnte, weil dieser ihn darauf hinwies, die Zügel anzuziehen. Diese Zeit zählt Stendhal zu einer seiner schönsten Erlebnisse, zumal er zuvor grausig enttäuscht von Paris war. Er sagt von sich selbst, dass auch er, wie Fabrizio, dahinträumte und von Schlachten fantasierte, während man ihn, den Unerfahrenen, gnädig bei der Hand nahm.

Zitat von Stendhal "Leben des Henri Brulard S. 411
Am anderen Morgen, als wir auf der Straße nach Villeneuve ritten, frage mich Herr Burelviller nach meiner Art zu fechten.
Er war baff, als ich ihm meine vollkommene Unkenntnis gestand. Als wir das nächstemal haltmachten, um unsere Pferde stallen zu lassen, ließ er mich überwachen.



Stendhal, hier ganz der Charakter von Fabrizio, wenn auch als Schriftsteller, sagt von sich:

Ich betrachtete mich als einen Schlachtenbummler, der sich zur Armee begibt, um etwas zu erleben, dessen Beruf es aber ist, Komödien zu dichten wie Molière. (…) Ich wünschte nur große Dinge zu erleben.

Und diese Gedanken kennen wir wohl nur zu gut aus der Kartause:

Zitat von Stendhal "Leben des Henri Brulard S. 416
Statt der Gefühle heroischer Freundschaft, die ich bei ihnen (den Soldaten) voraussetzte, nachdem ich sechs Jahre von Ferragus und Rinaldo (im Ariost) geträumte hatte, merkte ich, dass sie gereizte und boshafte Egoisten waren.
Oft stießen sie zornige Flüche gegen uns aus, weil sie uns zu Pferde sahen, während sie zu Fuß gehen mussten. Es fehlte nicht viel, so hätten sie uns die Pferde weggenommen.
Dieser Eindruck des Allzumenschlichen ärgerte mich, aber ich schüttelte ihn sofort ab, um mich an der Vorstellung zu ergötzen: ich bestehe also ein schwieriges Abenteuer!



Schließlich muss auch Stendhal einsehen, dass die Wirklichkeit nicht mit seinen Träumen übereinstimmt. Auch er fragt sich schließlich im Stillen: Ist das alles?

Stendhal lobt übrigens Saint-Simon als Schriftsteller. Dieser schrieb seine Erinnerungen, seine Memoiren und auch andere Werke, wobei, wer hätte das gedacht, alle ausschließlich von Ludwig XIV. und seinem Hof handeln. Ein weiterer Lesetipp.

Stendhal, philosophisch (zitiert aus den Tagebüchern):
Der Spott ist eine Art zu reden, die in feiner Weise unseren Geist irgendwelchen Widersinn enthüllt.

Und den Spott, den beherrscht er sehr gut, zumal er auch offen über die Werke seiner Zeitgenossen und die von jenen geschätzten reflektiert, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Seine Ansichten einzugestehen, das war zu der Zeit Stendhals wohl noch wesentlich schwieriger als heute.

Liebe Grüße
Taxine




Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 23.07.2011 12:52 | nach oben springen

#20

RE: Stendhal

in Die schöne Welt der Bücher 24.07.2011 12:23
von Martinus • 3.195 Beiträge

Werte Taxine,

Ich habe erfahren, Stendhals Biograf Johannes Willms bezieht sich auch auf Stendhals Autobiografie, dabei festgestellt wird, Stendhal sage über sich nicht immer die Wahrheit, er flunkert auch mal. Nun, dass tuen viele Autobiografen. Nach meiner Inhalation "Leben des Henri Brulard", möchte ich den Willms lesen, auf diese Weise unsere Rubrik "Blicke auf Menschen" gewürdigt werden wird.

Stendhal hat ja noch einiges an Action auf Lager. Märchenhaft, ja im wirklichen Sinne des Wortes, finde ich Fabricios freiwillige Rückkehr in den Turm, nur um Clelia zu sehen. Das ist wirklich große Liebe. Und Clelia, die dazu verdammt ist, diese Marchese zu heiraten, ihr Gelübde bricht,um wieder Blicke nach Fabricio zu erhaschen sucht ihn auf und rettet ihn vor einer Vergiftung.. Ein Gelübde zu brechen,um damit jemanden das Leben zu retten, finde ich absolut in Ordnung, zu mal auch diese Liebe selbstlos zu sein scheint, denn bis jetzt ist es für den Leser noch völlig unersichtlich, ob Clelia mit Fabricio eine Liebesbeziehung pflegen kann. Der Liebeshimmel sei ihnen trotzdem gnädig. Und dann, das finde ich grandios, dieser Heiratsantrag Ernesto V, der mit seinen 22 Jahren die alternde Herzogin anhimmelt. Da vierzig Jahre damals schon als alt gegolten hat, fragt man sich natürlich, was verspricht sich Ernesto V. davon. Aber die Liebe fällt eben irgendwo hin, nicht wahr? Ach, und jetzt, ich finde es so kühl und berechnend, wie die Herzogin auf den Antrag reagiert. Erst muss natürlich Fabricio gerettet werden und ein fairer Prozess, und dann wird er Erzbischof. Sie verspreche dann auch, sich dem Fürsten in Liebe hinzugeben (da bin ich gespannt, ob sie das dann auch machen wird). Ein großer Gegensatz, Clelia und Fabricio verkörpern ein hohes Ideal der Liebe, die Liebe von Ernesto V. wird nur an irdische Bedingungen geknüpft und ist nicht selbstlos. Dieser Kontrast ist herrlich herausgearbeitet. Nun, verratens mir nicht, wie das weiter geht...

Herzliche Grüße
mArtinus




„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
zuletzt bearbeitet 24.07.2011 17:41 | nach oben springen

#21

RE: Stendhal

in Die schöne Welt der Bücher 25.07.2011 11:44
von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge

Werter Martinus,

das kann ich mir gut vorstellen, dass man Stendhal nicht immer so trauen kann. "Leben des Henri Brulard" ist allerdings von einem gereiften Stendhal geschrieben, was sich in den Zeilen stark äußert, ganz im Gegenteil zu den Tagebüchern.

Stendhal als junger Mensch ist sehr geschwätzig und eitel. Man könnte hier La Bruyére aus seinen Charakteren zitieren: „In sich selbst vernarrt und fest davon überzeugt zu sein, dass man viel Geist besitze: das stößt fast nur dem zu, der gar keinen oder nur wenig hat.“

Zum Vergleich ein Zitat aus den Tagebüchern Stendhals, ein, wie ich finde, herrlicher Widerspruch seiner Eitelkeit in fast gleichem Absatz, der all das hervorragend untermalt.
Einmal: „Doch ich sehe mehr und mehr, dass meine Eitelkeit schwach ist…“
Zum anderen dann: „Alles, was ich auf diesen zwei Seiten geschrieben habe, riecht zu sehr nach Genie.“

Man fragt sich hier allen Ernstes, was er als Geniestreich bezeichnet, denn eigentlich dokumentiert Stendhal über ewig viele Seiten nur seine Fortschritte bei den Frauen seines Herzens (und den Wunsch, sie "gehabt haben zu dürfen") oder reflektiert über seine eigene Wirkung in der Gesellschaft. Der gereifte Stendhal ist wesentlich interessanter als dieser jugendlich auf sich selbst bezogene, protzige Mensch, der festlegt, er werde Dichter werden, ohne etwas geschrieben zu haben.
Dass man also diese Tagebücher nicht an einem Stück lesen kann, solange man nicht gerade Lust auf seichte Unterhaltung hat, weil es dem Stendhal’schen Tagebuch-Werk an Tiefe fehlt, die er sich selbst zuschreibt, indem er ... sie sich zuschreibt, war schon aus den Themen seiner Romane zu entnehmen. Mir fehlt in dieser Hinsicht die Tiefe, wenn ich auch gut unterhalten werde.

Ich sage es, wie ich es empfinde: Der junge Stendhal ist ein Gockel, geckenhaft und erhebt sich weit über die Menschen, mit denen er zusammentrifft. Auch hier lässt sich hervorragend La Bruyère zitieren (dessen "Charaktere" übrigens von Theophrast inspiriert sind, den er übersetzt hat, wobei er seine Zeit beschreibt und den Menschentypen griechische Namen gibt, die so schön verdeutlichen, wie wenig der Mensch sich in der Entwicklung der Zeit in seinen Eitelkeiten ändert und wie gleich der moralische Vorwurf bleibt.) Bei La Bruyère heißt es also:
Arsen betrachtet von der höchsten Höhe seines Geistes die Menschen, und bei der Entfernung, aus der er sie sieht, scheint er erschreckt über ihre Kleinheit.
So geht es vielen, die sich über andere erheben, weil sie sich für klüger, reifer halten, weil sie glauben, sie hätten mehr verstanden, als andere. Von ihrer einsamen Höhe herunter finden sie keinen Zugang mehr zur Welt und leben ein Konstrukt an Geist, das zur Illusion wird. Und dann nützt es nicht viel...
Stendhals Selbstbespiegelung jedenfalls ist auf Dauer ermüdend zu lesen, warum ich die Tagebücher erst einmal wieder zur Seite lege.

Clelias Festigkeit in ihren Überzeugungen, die war für mich fragwürdig, wenn sie auch tiefen Grundsätzen und ihrem Glauben entspringt. Sie kostete allerdings viel mehr, als hätte sie wider ihre Vorsätze gehandelt. Das zeigt einen verbohrten Charakter, der lieber in seinen Ängsten gegen seine Liebe handelt, als sich den Bedingungen neu zu stellen. Fabrizio dagegen, handelt schön und menschlich. Auch als er zum Prediger wird, durch dessen Züge seine tiefe Traurigkeit schimmert, hat er mir sehr gefallen.

Liebe Grüße
Taxine




Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 26.07.2011 21:50 | nach oben springen

#22

RE: Stendhal

in Die schöne Welt der Bücher 27.07.2011 04:33
von Martinus • 3.195 Beiträge

Zitat von Taxine


Clelias Festigkeit in ihren Überzeugungen, die war für mich fragwürdig, wenn sie auch tiefen Grundsätzen und ihrem Glauben entspringt.



Da muss ich dir zustimmen. Die Idee, Fabrizio nur im Dunkeln zu begegnen, weil sie ihn, wegen eines Gelübdes, dass sie vor der Madonna abgelegt hat, nie mehr anblicken darf, ist schon seltsam, geradezu unrealistisch. Was mag dem Stendhal hier geritten haben? In diesem Roman ist die Liebe doch so schwach, dass sie sich nicht durchsetzten kann. Ein düsterer Schluss. Wenn wir bedenken, wie zauberhaft diese Liebe erzählt wurde, als Fabrizio noch im Gefängnis war, ist es schon unverständlich, dass Stendhal sich so entschieden hat.




„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
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#23

RE: Stendhal

in Die schöne Welt der Bücher 27.07.2011 11:49
von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge

Zitat von Martinus
Die Idee, Fabrizio nur im Dunkeln zu begegnen, weil sie ihn, wegen eines Gelübdes, dass sie vor der Madonna abgelegt hat, nie mehr anblicken darf, ist schon seltsam, geradezu unrealistisch.


Ich finde, dieses Gelübte sogar scheinheilig, denn sie hält sich ja nicht daran, was sie sich und Gott versprochen hat, sondern umgeht das Gelübte mit einem fadenscheinigen Trick. Und dies auf Kosten der Liebe und natürlich der Ehrlichkeit gegenüber ihrem Mann, den sie ja trotzdem geheiratet hat, während sie ihn im Dunklen mit Fabrizio betrügt. Ich kann nur vermuten, dass Stendhal hier die extreme Gläubigkeit lächerlich machen will.

Das Ende fand ich richtig gemein und verkürzt. Gerade wird es wieder spannend, Fabrizio kommt zu dem sehr seltsamen Entschluss, sein Kind zu entführen, damit es bei ihm leben kann, Clelia ringt mit sich, weil sie glaubt, das Kind in den Augen ihres Ehemannes für tot zu erklären, würde eine Sünde sein und ihm den Tod bringen, und während diese Idee von Stendhal aufgebaut wird, man unbedingt wissen will, wie sie das anstellen werden, wie sich alles entwickelt, schaffen sie es, stirbt das Kind, dann Clelia, dann Fabrizio. Ende.
Na, so ein Mist.
Das wirkte auf mich, als ob Stendhal keine Lust mehr hatte.

Liebe Grüße
Taxine




Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 27.07.2011 11:50 | nach oben springen

#24

RE: Stendhal

in Die schöne Welt der Bücher 13.08.2011 09:35
von Martinus • 3.195 Beiträge

Da ich für mich die Kartause noch einmal zusammenfasse, auch begonnen habe, mich mit der Biografie (Johannes Willms) zu befassen, frage ich mich, ob Stendhal auch ein Libertin o.ä. gewesen war. Er scheint andauernd nur an Frauen zu denken, ein regelrechter Träumer, der im Tagebuch auch nicht ganz jugendfreie Stellen notiert. Das Problem, inwieweit Stendhal sich in Fabrizio spiegelt, wird noch gelöst.




„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
zuletzt bearbeitet 13.08.2011 09:36 | nach oben springen

#25

RE: Stendhal

in Die schöne Welt der Bücher 16.08.2011 01:31
von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge

Jawoll, ein Libertin mit allerdings nicht so häufigem Erfolg. In sehr jungen Jahren drehen sich bei ihm fast alle Gedanken um die Frauen. Fabrizio hat einige Charaktereigenschaften Stendhals.




Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 16.08.2011 01:32 | nach oben springen

#26

RE: Stendhal

in Die schöne Welt der Bücher 16.08.2011 02:06
von Martinus • 3.195 Beiträge

Gestern habe ich schon begonnen, über den ersten Teil der Biografie (von Johannes Willms) zu schreiben. Ich denke dass könnte ihr heute noch im Forum lesen. Das dauert bei mir immer so schön lange, bis ich so etwas zusammengeschrieben habe (etwa zwei Din A 4 Seiten).

EDIT: Siehe hier




„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
zuletzt bearbeitet 16.08.2011 13:47 | nach oben springen

#27

RE: Stendhal

in Die schöne Welt der Bücher 07.09.2011 14:24
von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge

Die ersten Seiten im gemächlichen Lesen sind geblättert, darum mache ich den Anfang an ersten Gedanken zu Stendhals "Rot und Schwarz".


Ich lese diesen Roman übrigens in der Ausgabe des dtv in der Übersetzung von Otto Flake. Die Übersetzung ist sehr gut, wie ich finde, und das erste, was mir auffällt, ist, dass sich auch Stendhals Stil besser lesen lässt. Er nimmt sich Zeit, gegenüber der Kartause, die er in zwei Monaten heruntergeschrieben hat, was man durchaus als Leser bemerkt, dagegen führt er uns in „Rot und Schwarz“ nahe und ausführlich an seine Figuren heran. „Rot und Schwarz“ ist 1829 (wo ihm in der Nacht Julien eingefallen ist…) begonnen und 1830 vollendet. Die Kartause dagegen schrieb Stendhal später, erst 1839.

Der blasse, feminine, schmächtige junge Julien Sorel, mit den schönen, schwarzen Augen, wird von der Familie Rênal als Hauslehrer engagiert, weil er Lateinisch kann. Sorel ist eigentlich von bäuerlicher Herkunft, kennt die harte Hand seines Vaters, und seine Ausbildung war alles andere als gründlich. Ein alter Regimentschirurg hat sie übernommen, der lediglich von den Feldzügen Bonapartes oder von der Chirurgie berichten konnte, und der Pfarrer Chélan brachte ihm das Latein bei, wobei Julien einzig auf die Bibel zurückgreifen kann, die er auswendig beherrscht. Sobald es an andere lateinische Schriften wie z. B. die Horaz' geht, ist er mit seinem Latein am Ende.

Sorel spürt früh, dass er Priester werden möchte. Wie früher unter Napoleon der Soldat gebraucht und gefördert wurde, ist nun das Amt des Priesters eine Möglichkeit des gesellschaftlichen Aufstiegs. Dieser Hintergedanke verrät viel über Juliens Charakter, der oft zornig wird, wenn man ihn unterschätzt oder als Leibeigenen behandelt (wobei er eigentlich vorerst nichts anderes ist, nur durch die gute Empfehlung des Pfarrers Chélan an diesen Posten des Hauslehrers geraten ist). Er verachtet alles um sich herum, findet durch die eigene Ablehnung kaum Zugang zu den Menschen, die ihm unterschiedliche Zuneigung oder Ablehnung entgegen bringen. Die Frauen himmeln ihn an, manche Männer haben Respekt vor ihm, während das Können, auf das dieser Respekt aufbaut, durchaus nur darum Bewunderung auslöst, weil die Menschen aufgrund von Selbstliebe den eigentlichen Charakter Juliens nicht durchschauen. Das sind dann Menschen wie Monsieur de Rênal, der viel Wert darauf legt, dass er durch Geld und Anlage geschätzt wird. Der Konkurrenzkampf ist groß, wer das meiste Geld, das schönste Haus, das beste Grundstück hat und damit die Achtung der Gesellschaft. Gerne gesehen wird das Schmeicheln bei Menschen mit Einfluss, wobei jede Klasse der höheren Klasse ihre Anerkennung zollt, sich zum Diener macht, wenn auch genügend Geld vorhanden ist, um selbst höher rücken zu dürfen. Die Gesellschaft samt ihrer Schichten bleibt ein Machtspiel der Interessen und des Ansehens.

Stendhals Figuren haben eines gemeinsam. Sie sind unnahbar, zunächst unfähig, zu lieben, und werden von den meisten entweder bewundert oder beneidet, während sie die Zuneigung nicht erwidern, stattdessen die Gesellschaft, in der sie sich bewegen, verabscheuen.
Hier sehe ich den jungen Stendhal (Tagebücher) vor mir, der nicht fassen kann, dass er in der Gesellschaft nicht die Beachtung findet, die er sich selbst erhofft und auch glaubt, sie verdient zu haben, hält er sich doch für gewitzt und unterhaltsam. Später ändert er seine Ansicht durch Selbsterkenntnis, aber lange Zeit hat er die ihm entgegengebrachte Interessenlosigkeit zum Anlass genommen, seinerseits abzulehnen und den Menschen arrogant und überheblich zu begegnen. Ein Selbstschutz, um die Erfolglosigkeit zu verkraften. Dieses Verhalten legt er auch in seine Protagonisten (Fabrizios, Julien…), die aber, im Gegensatz zu ihm, schön sind und häufig gerade in der Damenwelt Beachtung finden.

So, das ganz kurz, nur, damit schon einmal etwas dasteht.
Wir lassen uns Zeit.

Liebe Grüße
Taxine




Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 07.09.2011 14:55 | nach oben springen

#28

RE: Stendhal

in Die schöne Welt der Bücher 07.09.2011 17:00
von Krümel • 499 Beiträge

Meine Albatros Ausgabe ist von Walter Widmer übersetzt, ich finde die Sprache kompliziert, umständlich zu lesen, nein es macht keinen richtigen Spaß. Aber vielleicht liest man sich noch ein, denn ich habe erst 4 Kapitel gelesen. Sorel wird gerade erst davon unterrichtet, das schöne Buch fällt ins Wasser, dass er Lateinlehrer werden soll.

Edit: Ich habe mir soeben die Ausgabe von dtv bestellt, übersetzt von Elisabeth Edl, bei Amazon liest sich diese Übersetzung ganz anders! Und es ist wesentlich größer geschrieben

zuletzt bearbeitet 07.09.2011 17:09 | nach oben springen

#29

RE: Stendhal

in Die schöne Welt der Bücher 08.09.2011 00:27
von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge

Ja, ich habe eben auch einmal hineingelesen. Die Übersetzung von Edl ist sehr gut und fließend.




Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 08.09.2011 00:27 | nach oben springen

#30

Rot und Schwarz

in Die schöne Welt der Bücher 09.09.2011 12:12
von Krümel • 499 Beiträge

Ich habe mich jetzt bis zum 16. Kapitel vorgewagt, mit dieser schlimmen Übersetzung, in den Zitaten könnt ihr davon kleine Kostproben erhalten. Hoffentlich kommt heute oder morgen das andere Buch!

>>Einen guten Ertrag abwerfen: das ist in Verrières das wichtige, das große Wort, welches über alles entscheidet.<<

Diesen Satz könnte man fast als Leitsatz über das ganze Werk stellen. Denn es ist anscheinend das Einzige was alle Figuren gemeinsam haben.

>>Will ich von ihnen und auch vor mir geachtet sein, so muß ich ihnen zeigen, daß meine Armut mit ihren Reichtum einen Handel eingegangen ist, daß aber mein Herz himmelhoch über ihrer frechen Anmaßung erhaben ist und ihre kleinlichen Bezeugungen von Gunst oder Verachtung es nicht erreichen können.<<

Persönlich habe ich Schwierigkeiten mit dem Protagonisten, ich kann seinen Charakter noch nicht ganz nachvollziehen. Einerseits steckt da seine Erziehung und Kindheit im Gemüt, das erklärt vielleicht das Zornige und Aufbrausende. Ich kann auch seine Gier nach Anerkennung, Erfolg und Macht nachvollziehen, aber andererseits diese Hinterlist, das Berechenbare, da hänge ich noch voll in der Luft, das erklärt sich mir noch nicht. Nur dass es im Buch selber aufgelistet wird:

>> Seine berechnende, fortwähren lauernde, ewig mißtrauische Wesensart war schuld daran …<<
>>Er, dem Hinterlist und Rücksichtslosigkeit sonst ganz geläufige Mittel für die eigenen Zwecke waren, …<<
>>Er ist ein hinterlistiger Duckmäuser.<<


Woher stammt der ganze Hass, der sich auch mit seinem ganzen Äußeren nicht deckt. Eigentlich vermutet man einen sinnlichen, schüchternen jungen Mann. (Mir ist die Aufschlüsselung: Vater und Brüder, nicht ausreichend. Es wird wohl eher die ganze Gesellschaft sein, die Zeit sein. Seine Figur spiegelt da vielleicht das Gefühl an sich, der Gefühlsmensch in der rauen Umwelt, als Figur so als Mensch, ist er mir nicht greifbar. Vielleicht kommt das ja noch.)

Er möchte Geistlicher werden und ist so berechnend ...
Und warum möchte er unbedingt Frau de Rênal vernichten? Er liebt sie doch gar nicht, das ist doch nur ein Spiel für ihn.

zuletzt bearbeitet 09.09.2011 12:15 | nach oben springen


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