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Hirngespinste

Austausch zwischen Literatur und Kunst


#1

Herta Müller

in Die schöne Welt der Bücher 09.10.2009 22:42
von Martinus • 3.195 Beiträge

Auf einmal ist Herta Müller in aller Munde. Grund: Literaturnobelpreis 2009. Als Einführung in die Materie diesmal nicht viel Worte, sondern nur drei links:

Herta Müller und der lange Arm der Securitate

und der dazugehörige Essay von Herta Müller:

Die Securitate ist noch im Dienst

Ich lese gerade noch einmal "Niederungen", ihr Prosaerstling. Hierin schreibt sie vom Dorf im Banat, wo sie geboren ist....davon später mehr.

Wir, die wir in den Niederungen leben

Liebe Grüße
mArtinus




„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
zuletzt bearbeitet 10.10.2009 12:47 | nach oben springen

#2

RE: Herta Müller

in Die schöne Welt der Bücher 10.10.2009 12:51
von LX.C • 2.821 Beiträge

Sollte jeder lesen. Absolut interessant. Danke dir für die Links.

Dass das Ceauşescu-Regime eines der krassesten war, weiß man ja, aber das ist jetzt mein erster Zeitzeugenbericht gewesen, den ich gelesen habe.

Noch eine Frage zu "Niederungen" da du das Buch nun zum zweiten Mal liest und wahrscheinlich auch andere Werke von ihr kennst. Hast du den Eindruck, sie hält sich mit der Sprache noch zurück? Schreibt nicht so offen und frei, wie sie es vielleicht später in Deutschland tat? Würde mich interessieren. Danke.


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#3

RE: Herta Müller

in Die schöne Welt der Bücher 10.10.2009 13:45
von Martinus • 3.195 Beiträge

Hallo LX.C,

in "Niederungen" (1982 zensiert in Rumänien erschienen, 1984 in Deutschland in vollständiger Fassung erschienen) schreibt sie schonungslos offen aus der Sicht eines heranwachsenden Mädchens. Die Dorfatmosphäre von Inzucht, Vorurteilen, Geiz und Sparsamkeit, die Ängste, die in dem Mädchen geschührt werden, platzen in diesen Prosatexten heraus. So gar vor ihrem Vater macht das Mädchen (alter ego von H.M.) nicht halt. Er war ein Nazi und hat "für fünfundzwanzig Tote eine Auszeichnung bekommen."

Wegen diesem Erstling galt Herta Müller (und gilt in manchen rumänischen Kreisen heute noch) als Nestbeschmutzerin.

Liebe Grüße
mArtinus




„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
zuletzt bearbeitet 10.10.2009 13:46 | nach oben springen

#4

RE: Herta Müller

in Die schöne Welt der Bücher 10.10.2009 16:22
von LX.C • 2.821 Beiträge

Der Nazi-Vater scheint wohl immer wiederkehrendes Element. Auch in ihrem neusten Buch "Atemschaukel" spielt er doch, wenn ich das richtig in Erinnerung habe, noch im Tod die zentrale Rolle. Hier ein Ausschnitt aus "Herztier":


Zitat von Herta Müller
Der Vater musste nie fliehen. Er war singend in die Welt marschiert. Er hatte in der Welt Friedhöfe gemacht und die Orte schnell verlassen. Ein verlorener Krieg, ein heimgekehrter Soldat, ein frischgebügeltes Sommerhemd lag im Schrank, und auf dem Kopf des Vaters wuchs noch kein graues Haar. […] Die Friedhöfe hält der Vater unten im Hals, wo zwischen Hemdkragen und Kinn der Kehlkopf steht. der Kehlkopf ist spitz und verriegelt. So können die Friedhöfe nie hinauf über seine Lippen gehen. Sein Mund trinkt Schnaps aus den dunkelsten Pflaumen, und seine Lieder sind schwer und besoffen für den Führer.


Müller, Herta: Herztier, Fischer, Frankfurt/M 2007, S. 21.


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#5

RE: Herta Müller

in Die schöne Welt der Bücher 10.10.2009 16:41
von LX.C • 2.821 Beiträge

Aber eigentlich tut mir grad die Lola leid, die sich mit dem Gürtel der Erzählerin erhängt hat und noch im Tode kollektiv niedergemacht wird, aus der Partei ausgeschlossen, exmatrikuliert und per Wandzeitung denunziert wird, da Selbstmord, in den sie, nebenbei angemerkt, getrieben wurde, als Schande gilt.
Innerhalb 40 Seiten ist in "Herztier" schon so viel geschehen, wie in manch anderem Buch nie geschehen wird. Hinzu kommen schnelle Schnitte, lyrische Bilder und eine anachronistischer Stil, die Tempo und Beklemmung noch mal erhöhen. Ja, doch, Herta Müller muss man lesen.


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#6

RE: Herta Müller

in Die schöne Welt der Bücher 10.10.2009 16:54
von Martinus • 3.195 Beiträge

ach, ja, "Herztier" habe ich irgendwann in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts gelesen. Ich erinnere mich noch ein wenig daran. In den "Niederungen" ist der Vater auch betrunken; über diese Prosastücke schreibe ich noch ausführlicher.




„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
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#7

RE: Herta Müller

in Die schöne Welt der Bücher 10.10.2009 18:51
von LX.C • 2.821 Beiträge

nimmt übrigens jetzt schon mehr Spalten im Autorenlexikon (Metzler) ein, als so manch berühmter Klassiker. (Das sind so kleine interessante Nebensächlichkeiten :))


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#8

RE: Herta Müller

in Die schöne Welt der Bücher 11.10.2009 16:09
von LX.C • 2.821 Beiträge

Was für ein guter Zufall (für mich), "Herztier" knüpft nahtlos an das Zeit-Essay an. Oder umgekehrt. Womit auch gleich klar wird, wie autobiographisch dieser Roman ist.


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#9

RE: Herta Müller

in Die schöne Welt der Bücher 11.10.2009 17:32
von Martinus • 3.195 Beiträge

Ich setzte Mal, auch wenn es mitten in den Ausführungen zu "Herztier" geschieht, meine Eindrücke zu "Niederungen" hierhin.

Claudio Magris erwähnt in seinem 1986 erschienenden Buch „Donau“ Herta Müllers ersten Prosaband „Niederungen“ der 1982 in zensierter Fassung in Bukarest erschien, 1984 in vollständiger Fassung im Rotbuch-Verlag, Berlin. Aufgrund des enormen politischen Druckes auf die deutsche Minderheit in Rumänien, „ist auch Herta Müller gegenwärtig zum Schweigen verurteilt“, schreibt Magris. Im Jahre 1987 verließ Müller Rumänien und ließ sich in Berlin nieder. Sie verließ den Banat, weil ihre Literatur zensiert wurde, und sie mit dem rumänischen Geheimdienst Securitate nicht zusammenarbeiten wollte. .

Der Prosaband „Niederungen“ enthält mehrere Prosatexte, die meisten sind sehr kurz, der Text, der dem Buch seinen Namen gibt, ist der längste Text. Aus der Sicht eines heranwachsenden Mädchens schreibt Herta Müller von ihrem Dorf im Banat, wo sie geboren ist. Dieses Dorf steht auch für die anderen Banater Dörfer, denn die Welt der Donauschaben ist eng verflochten. Das Leben in dem einen Dorf ist so, wie in den Nachbardörfern. Da nämlich viele aus dem Dorf auswandern, das Dorf kleiner wird entfaltet sich eine Kuriosität. Es fehlt an Menschen, darum „beteiligen sich an allen Kerweihfesten dieselben Paare, dieselben Zuschauer und dieselbe Musikkapelle.“, man feiert also an einem Sonntag in diesem Dorf, am nächsten Sonntag in einem anderen usw. Daraus folgt, dass die Jugend sich im Banat untereinander gut kennt, deshalb es oft zu zwischendörflichen Ehen kommt. Und hier stoßen wir auf dörfliche Eigenheiten. Denn am liebsten wäre es den Eltern, ihr Junge heiratet eine von ihrem Dorf, und wenn sie es gestatten, dass er eine Dorfschönheit aus dem Nachbardorfe heiratet, sagen sie, wenigstens ist es eine Deutsche. Man will also unter sich bleiben; dieses unter sich bleiben wollen führt letzlich zu inzestiösen Verbindungen, so wie sich die ganze Familie in demselben Badewasser badet.

In diesem inzestiösem Dumpf findet die Autorin noch Humor, wenn sie zwei vorpubertäre Kinder dialogisieren lässt:

Zitat von Herta Müller
Ich könnte dich gern haben, wenn du nicht so komisch pissen würdest, aus dieser Verlängerung. Die ist so häßlich.
Laß sein, morgen schneiden wir sie ab.
Ich habe Angst, daß ich ein Kind kriege von dir. Ich glaube, das darf man nicht, wir haben in denselben Topf gepißt.
Laß sein, dann heiraten wie eben.
Aber du bis doch mein Cousin.



Doch Humor lässt sich in den Prosastücken eher selten finden. Das heranwachsende Mädchen wächst in einer drückenden Athmosphäre von Angst auf. Schon in der ersten Geschichte „Die Grabrede“, die das Mädchen träumt, wacht sie am Sarg ihres Vaters. Die Sargträger sind „kleine wankelnde Männchen“, die über den Vater Dinge sagen, die sie wachen Leben vielleicht nur unterschwellig erahnen konnte. Im Traum wird ihr vor die Nase gehalten, ihr Vater habe eine Auszeichnung erhalten, weil er im Krieg fünfundzwanzig Menschen umgebracht hat, im Rübenfeld habe er eine Frau vergewaltigt. Der Vater fuhr auch Rinder zum Schlachthaus.

Tot und Verderben in ihrem Umfeld. Das Schlachten von Enten wird beschrieben.

Zitat von Herta Müller

Sie sind fett und haben verkümmerte Flügel, und ihre spärlich durchbluteten Gehirne haben längst vergessen, daß sie Vögel sind.



oder

Zitat von Herta Müller
Die Brennesseln...kriechen mit ihrem Feuer in die Hände und lassen rote geschwollene Bisse zurück, deren Zungen am Blut lecken und in den Adersträngen der Hände schmerzen.



oder man hört das Knirschen im Gebiss eines Katers, wenn er gelangweilt den Mausekopf zerquetscht. Grausam auch, das Mädchen darf dem Vater die Haare schneiden, machte sie aber einen harmlosen Fehler, faßt ihrem Vater ins Gesicht, er stößt sie weg, sodass sie hinfällt. Weinen darf das Mädchen nicht ohne wirklichen Grund, so fließen Tränen heimlich auf dem Klo, aber wenn die Mutter sie schlägt, hat sie endlich einen wirklichen Grund zu weinen. Auf diese Weise wird psychische Gewalt auf das Kind ausgeübt, und Vater und Mutter merken vielleicht gar nicht, dass sie sich in ihrer Macht über das Kind laben, und ihnen wird nicht bewusst sein, dass sie dem Mädchen Schuldgefühle aufgebürden.

Zitat von Herta Müller
Seitdem es mich gibt, sind Mutters Brüste schlaff, seitdem es mich gibt, hat Mutter kranke Beine...



Das besondere an dieser Prosa ist, sie gleitet von realistischen Erzählweisen in traumhaft surrealistische Bilder über, so stöhnt der Schnitt mit dem Messer an der Kehle durch das Zimmer, oder es gleiten nackt und glänzend Fensterscheiben von einem Haus ins andere. Die Seelenängste eines Kindes werden abgeschritten. Die Autorin schreibt in lyrischer Prosa sehr eindringlich und hat jeglichen Anflug von Dorfromantik im Würgegriff.

Liebe Grüße
mArtinus




„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
zuletzt bearbeitet 11.10.2009 17:33 | nach oben springen

#10

RE: Herta Müller

in Die schöne Welt der Bücher 11.10.2009 17:45
von LX.C • 2.821 Beiträge

In Antwort auf:
auch wenn es mitten in den Ausführungen zu "Herztier" geschieht


Ach, sind doch nur Randbemerkungen.


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#11

RE: Herta Müller

in Die schöne Welt der Bücher 11.10.2009 17:59
von LX.C • 2.821 Beiträge

In Antwort auf:
der 1982 in zensierter Fassung in Bukarest erschien, 1984 in vollständiger Fassung im Rotbuch-Verlag, Berlin

Bist du dir da eigentlich sicher? Im Metzler steht: "in Rumänien durch die Zensur verhindert und 1982 im Westen veröffentlicht"

Auch Wahnsinn, was Herta Müller schon alles für Literaturpreise erhalten hat.


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#12

RE: Herta Müller

in Die schöne Welt der Bücher 11.10.2009 18:18
von Martinus • 3.195 Beiträge

Hallo,

die Angabe bei Metzler ist falsch, denn ich habe die Deutsche Erstausgabe, und die ist in 5000 Exemplaren als Taschenbuch erschienen. Darin auch vermerkt, dass der Band 1982 un Bukarest erschienen ist (dass die Bukarester Ausgabe zensiert ist, habe ich auf verschiedenen Internetseiten gelesen). 1988 erschien nochmal eine gebundene Ausgabe im Rotbuch-Verlag.

Liebe Grüße
mArtinus




„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
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#13

RE: Herta Müller

in Die schöne Welt der Bücher 11.10.2009 18:42
von LX.C • 2.821 Beiträge

Dachte ich mir fast. Danke dir.

Welche Bücher von Herta Müller hast du noch gelesen? Herztier, sagtest du. Sonst noch weitere?


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zuletzt bearbeitet 11.10.2009 18:44 | nach oben springen

#14

RE: Herta Müller

in Die schöne Welt der Bücher 11.10.2009 20:12
von Martinus • 3.195 Beiträge

Ich habe noch die ersten beiden Essays aus "Hunger und Seide" gelesen. Sonst nichts.

In den letzten beiden Oktoberwochen lese ich "Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt" und "Reisende auf einem Bein"

desweiteren habe ich noch

"Barfüßiger Februar"
"Der König verneigt sich und tötet"


mArtinus




„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
zuletzt bearbeitet 11.10.2009 20:12 | nach oben springen

#15

RE: Herta Müller

in Die schöne Welt der Bücher 18.10.2009 11:19
von LX.C • 2.821 Beiträge

Herta Müller - Herztier

„Diese Studentin hat Selbstmord begangen. Wir verabscheuen ihre Tat und verachten sie. Es ist eine Schande für das ganze Land.“(30)

Namen bedeuten nichts, in Diktaturen. Der Name dieser Studentin ist Lola, sie hat sich mit einem Gürtel der Erzählerin erhängt. Noch nach ihrem Tod wird sie an der Wandzeitung verunglimpft und in einer öffentlichen Sitzung von Partei und Studium ausgeschlossen. Keiner der Kommilitonen wagt es, dieses menschenverachtende Verhalten anzuprangern. Alle beklatschen euphorisch den Ausschluss. Scheinbar, denn die Euphorie ist ein Ausdruck der Angst. Niemand traut sich, der erste zu sein, der die Hände fallen lässt. Auch die Erzählerin nicht.

„Nur die Irregewordenen hätten in der Großen Aula nicht mehr die Hände gehoben. Sie hatten die Angst vertauscht mit dem Wahn. Ich aber konnte auf den Straßen weiter Leute zählen, mich selber mitzählen, als würde ich mir zufällig begegnen. Ich konnte zu mir sagen: He du Jemand. Oder: He du Tausend. Nur verrückt werden konnte ich nicht. Ich war noch bei Trost.“ (49)

Anders als ihre Mitbewohnerinnen, will die Erzählerin nach diesem Schlüsselerlebnis nicht mehr schweigen, will nicht mehr Tausend oder Jemand sein, will nicht so tun, als wäre nichts geschehen, als hätte Lola nie existiert. Sie liest in Lolas Tagebuch, geht Lolas tägliche Wege ab, kommt nur noch zum Schlafen ins Wohnheim und schließt sich einer kleinen Gruppe Studenten an, die sich mit den Missständen auseinandersetzt und sei es nur untereinander. Denn nur was benannt wird, nur was festgehalten wird, in Gedichten, in Fotos, im Dialog, existiert.
Sie werden Freunde bis in den Tod, Edgar, Georg, Kurt und die Erzählerin, die keinen Namen trägt. Nennen wir sie Herta, denn essayistische Äußerungen der Autorin (Die Securitate ist noch im Dienst), die 1953 in Nitzkydorf, Banat/Rumänien, geboren wurde, lassen eindeutig auf den autobiographischen Hintergrund dieses Romans schleißen.
Nach Abschluss des Studiums werden die Freunde weiter von der Securitate verfolgt, die mit dem Hauptmann Pjele ein Gesicht des Terrors erhält. Der Terror, sei er psychisch oder physisch, wird zur alltäglichen Bedrohung. Oftmals ist nicht erkennbar, ob Ereignisse inszeniert sind oder nur zufällig geschehen. Einen Vater kann man sich nicht aussuchen, hält einer der Freunde sinngemäß fest. Einer von vielen Versuchen, den perversen Angriffen des Pjele auf die Intimsphäre zu begegnen, um nicht den Verstand und den Lebenswillen zu verlieren. Der entlässt seine „Kinder“ jedes Mal mit den Worten: „Du hast Glück mit mir.“ Doch das Glück bleibt aus, die Schlinge wird immer enger zugezogen. Mit der Entlassung aller, außer Kurt, der auf dem Schlachthof zwischen den Blutsäufern ausharren muss, nimmt der gesellschaftliche Abstieg seinen Lauf. Zwar stützen sich alle untereinander, so gut es geht, doch die seelische Zerrüttung ist unaufhaltsam. Die Erzählerin wird als Hure verunglimpft. Georg in einer vom Geheimdienst inszenierten Schlägerei der Kiefer zertrümmert. Mundtod machen könnte man das nennen, was nachhaltig seine Wirkung zeigt. Seine Klage wird abgeblockt, was ihn zum Passamt und dann in eine tiefe Depression führt. Georgs Ausreise wird bewilligt. Er ist der erste der Freunde, der in das gelobte Land der Freiheit gelangt, Deutschland, und dort auf dem Kopfsteinpflaster verendet. Die Erzählerin und Edgar folgen nach. Ebenso die Drohbriefe und Drohanrufe der Securitate. Kurt schafft es nicht mehr. Ihm werden Fotos, die er von Missständen auf dem Schlachthof schießt, vielleicht auch die, vom Familienmensch Pjele, sowie eine Liste auf der Flucht in den Tod Getriebener zum Verhängnis. Alle wollen fliehen.

„Nur der Diktator und seine Wächter wollen nicht fliehen. Man sah es ihren Augen, Händen, Lippen an: Sie werden heute noch und morgen Friedhöfe machen mit Hunden und Kugeln. Aber auch mit dem Gürtel, mit der Nuß, mit dem Fenster und mit dem Strick.“ (56)

„Herztier“, aus dem Jahr 1994, ist kein Roman, der auf sein Ende setzt. Er vermittelt ein Bild der Lebensverhältnisse und -umstände in Rumänien während des Ceausescu-Regimes, durch das man ein Gefühl des wahrhaftigen Zugewinns erhält. Keine Zeile scheint verschwendet. Authentisch, experimentierfreudig, anachronistisch sind die Stichworte, die einem sofort in den Sinn kommen. Der Roman in Ich-Form zeichnet sich durch eine Mitsicht der Erzählerin aus. Sie kann nur das wiedergeben, was sie selber sieht, erlebt hat oder Personen ihres Umkreises ihr mitteilen, schriftlich, mündlich oder visuell. Diese Vielfalt führt trotz der geringen Distanz zu einem hohen Grad an Stil- und Sprachdynamik. Sie liest aus Lolas Tagebuch, aus Briefen, gibt Erzählungen ihrer Freunde teils intradiegetisch wieder, integriert fotografische Beschreibungen, gibt eigene Erinnerungsbilder ihrer Kindheit wieder, die oftmals scheinen, wie Träume, Alpträume. Interessant sind die knappen assoziativen Anstöße, die sie nutz, um in die Vergangenheit einzutauchen. Ein Gürtel, eine Nuss, ein Maulbeerbaum, ein Spielzeug, Schlagwörter und Gegenstände sind es, die zur Wiedergabe eines Kindheitserlebnisses führen. Nicht verwoben, abdriftend, sondern mit klaren Schnitten von einer Gegenwart getrennt, die eigentlich auch schon wieder erzählte Vergangenheit ist. Ein Spiel aus Ana- und Prolepsen. In der Literatur lässt sich Herta Müller eben keine Grenzen setzen. Sie liebt klare Worte und scheut sich auch nicht, den Leser mit Fäkalsprache zu überrumpeln.

„Trezas Großmutter hatte den Teller vor mich hingestellt und gesagt: Iß, dann ißt Tereza auch. Du bist bestimmt nicht so schnausig wie sie. Bei Tereza stinkt alles. Blumenkohl stinkt, Erbsen und Bohnen, Hühnerleber, Lamm und Hase stinken. Ich sage oft, dein Arschloch stinkt.“ (153)

Synchron dazu schlägt das andere „Herztier“, ein poetisch geknüpftes Gewebe aus Metaphern. Stilistisch bunt wie eine Farbpalette, gezielt und kontrastreich gemischt ist diese Prosa, was auch nach Stunden keine Monotonie aufkommen lässt. Aus ihr sticht die Farbe grün hervor. Sie zieht sich in grellen Farbklecksen über die Seiten und verschwindet plötzlich aus dem Bewusstsein, als sich herausstellt, dass grün nicht Hoffnung, auch nicht Tarnung bedeutet, sondern die eigentliche Farbe des Todes ist.
Herta Müller lebt. Zum Glück. Und hat gerade den Nobelpreis für Literatur erhalten. Allein wer „Herztier“ liest - wird wie selten zuvor verstehen warum.

(Zitate aus: Müller, Herta: Herztier, Fischer, Frankfurt/M 2007.)


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