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Mitleid
in An der Gesellschaft/dem Alltag orientierte Gedanken 28.01.2010 21:48von marlenja • 303 Beiträge
Wenn man Mitleid fühlt, so fragt man nicht erst andere Leute, ob man es fühlen soll.
Georg Christoph Lichtenberg
Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch.
Gotthold Ephraim Lessing
Da fühlte sie mitleid mit ihm...
Die Tochter des Pharao - 2. Mo 2,6
Endlich aber seid allesamt gleich gesinnt, mitleidig, brüderlich, barmherzig, demütig.
1. Petr. 3,8
Nichts ist ungesunder, inmitten unserer ungesunden Modernität, als das christliche Mitleid.
Man verliert Kraft, wenn man mitleidet.
Nietzsche - Der Antichrist
Was denkt ihr darüber - über: Mitleid?
RE: Mitleid
in An der Gesellschaft/dem Alltag orientierte Gedanken 28.01.2010 22:04von Martinus • 3.195 Beiträge
Hallo marlenja,
in diesem Falle muss ich Nietzsche wirklich zustimmen, auch wenn ich sonst kaum Ahnung von Nietzsche habe, und andere sich besser auskennen.
Wenn ich mit einem Menschen mitleide, dann kann ich diesem Mitmenschen keine Unterstützung bieten. Da leiden einfach zwei Menschen, mehr nicht. Darum halte ich sehr viel mehr von Empathie/Mitgefühl. Mit Empathie verstehe ich meinen Mitmenschen, und er fühlt sich nicht so allein.
Liebe Grüße
mArtinus
„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
RE: Mitleid
in An der Gesellschaft/dem Alltag orientierte Gedanken 28.01.2010 22:10von Zypresserich (gelöscht)
Zitat von Martinus
Wenn ich mit einem Menschen mitleide, dann kann ich diesem Mitmenschen keine Unterstützung bieten. Da leiden einfach zwei Menschen, mehr nicht. Darum halte ich sehr viel mehr von Empathie/Mitgefühl. Mit Empathie verstehe ich meinen Mitmenschen, und er fühlt sich nicht so allein.
Ja, sehe ich auch so. Mitleid = Potenzierungseffekt: es leiden noch mehr. Mitgefühl = Kompensationseffekt: indem ich mitfühle, aber nicht mitleide, kann ich viel mehr für den Betroffenen tun (ich bleibe handlungsfähig).
RE: Mitleid
in An der Gesellschaft/dem Alltag orientierte Gedanken 28.01.2010 22:21von marlenja • 303 Beiträge
Leidet ein Mensch den ich liebe - so fühle ich mit ihm - in ihn
und empfinde seinen Schmerz mit. Es heisst: Geteiltes Leid ist
halbes Leid. Trägt mein Freund eine Last von 1 Kg und ich nehme
ihm die Hälfte ab - so tragen beide nur 500 gr. Man verliert Kraft
ist gar nicht so falsch. Die Frage ist nur - wo man seine Kraft
wieder erneuert wenn man sie durch Mitleiden verschenkt hat. Warum
sollten wir nicht etwas verlieren wenn wir lieben? Ist Liebe nicht
ein geben - ein verschenken? Durch Mitleiden gewinnt man auch. Man
nimmt zu an Barmherzigkeit und dies gibt wieder neue Kraft um auch
noch mit andern Menschen mitzuleiden...
RE: Mitleid
in An der Gesellschaft/dem Alltag orientierte Gedanken 28.01.2010 22:40von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Das bleibt die Gefahr einer theoretischen Antwort. Ein Wort in seine Bestandteile zu zerlegen...
Trifft man auf Leid, zu dem man keinen Zugang hat, dann kann man nicht mitfühlen, da man das Gefühl nicht erschließen kann, es nicht kennt, es nicht fühlt, wie sehr man auch versucht, es zu begreifen, man kann dann höchstens noch mitleiden, da man den Schmerz des Gegenübers spürt.
Im gesellschaftlichen Miteinander ist Mitleid-Empfinden negativ behaftet, eine Form, sich über den anderen zu erheben, siehe z. B. den reichen Menschen, der mitleidig einem Bettler auf der Straße etwas Kleingeld zuwirft. Er zeigt damit, dass er über ihm steht, wobei beide Personen diese Handlung in dieser Weise empfinden, selbst wenn es nicht so gemeint ist. Die einzelne Position des jeweiligen Menschen wird erst in dieser Gabe und im Mitleid-Empfinden deutlich.
Ungesund am Mitleid ist, dass in einer kranken Welt der Mensch zur Opferrolle neigt (oder zu neigen droht) und damit seine Verantwortung für sich selbst abgibt, sich lieber auf den Stärkeren (wer oder was auch immer das ist, sei es ein anderer Mensch, ein Glaube, eine höhere Macht) verlässt, sich somit abhängig und willenlos macht, sich selbst degradiert, zum Kranken entwickelt.
Die Macht des Schwächeren über den Starken ist das Mitleid.
Dass Menschen z. B. meinen, an der ganzen Welt mit zu leiden, schwächt sie zunächst in ihrem eigenen Sein und Denken. Andererseits ist es fast unumgänglich, da wir ständig mit der Welt konfrontiert sind und notgedrungen auf sie reagieren. Gleichzeitig stärkt es die eigene Moral und den Geist, setzt man sich damit auseinander. Wichtig bleibt, daran nicht zu verzweifeln.
Art & Vibration
RE: Mitleid
in An der Gesellschaft/dem Alltag orientierte Gedanken 28.01.2010 22:43von LX.C • 2.821 Beiträge
"Man muß damit rechnen, daß die meisten Menschen nur durch Erfahrung am eigenen Leibe klug werden. So erklärt sich […] die Stumpfheit gegenüber fremdem Leiden; proportional mit der wachsenden Angst vor der bedrohlichen Nähe des Unheils entsteht das Mitleid. […] Den Christen rufen nicht erst die Erfahrungen am eigenen Leibe, sondern die Erfahrungen am Leibe der Brüder, um deretwillen Christus gelitten hat, zur Tat und zum Mitleid."
(Bonhoeffer, Dietrich: Widerstand und Ergebung, Bonn/Augsburg 2008, S. 28.)
Und aus der Tat entsteht wieder Kraft, für beide, den Leidenden und den Mitleidenden.
Mitleid muss also mit der Tat einhergehen.
--------------
[i]Poka![/i]
RE: Mitleid
in An der Gesellschaft/dem Alltag orientierte Gedanken 28.01.2010 22:59von marlenja • 303 Beiträge
Zitat von Taxine
Im gesellschaftlichen Miteinander ist Mitleid-Empfinden negativ behaftet,
eine Form, sich über den anderen zu erheben..
Ja - so in der Art:
"Ach Du armer - Du tust mir ja so leid."
Ist unser gesellschaftliches Miteinander denn von der Liebe geprägt?
Ich glaube das die Liebe zum andern kommt so das derjenige der Mitleid
nötig hat sich nicht vom Gebenden erniedrigt fühlt. Denn auch der - der Mitgefühl
verschenkt bekommt etwas vom Nächsten: Das Gefühl gebraucht zu werden und
wertvoll zu sein. Es ist ein geben und nehmen ohne Wertung in der Liebe - im
eins werden mit seinem Mitmenschen.
RE: Mitleid
in An der Gesellschaft/dem Alltag orientierte Gedanken 28.01.2010 23:12von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Ja, die Liebe nimmt jeder Handlung ihren negativen Beigeschmack, macht sogar aus Mitleid Mitgabe, hilft im Geben von Liebe selbst dann, wenn man "handlungsunfähig" ist, genügt sich, ohne Worte.
Liebe erhöht und stärkt in jeglicher Hinsicht.
Art & Vibration
RE: Mitleid
in An der Gesellschaft/dem Alltag orientierte Gedanken 28.01.2010 23:27von Roquairol • 1.072 Beiträge
Man sollte hier die Begriffe nicht durcheinanderwerfen.
Mitleid ist Mitleid.
Mitleid ist nicht Liebe.
Mitleid ist nicht Hilfe.
Mitleid nimmt nicht nur dem Mitleidenden Kraft, sondern auch und erst recht dem Bemitleideten. Wer mich, egal in welcher Situation, bemitleidet, der beleidigt mich, weil er mich in eine unterlegene Postition zwingt, vergleichbar der eines kleinen Kindes.
Deshalb auch das alte Motto der Behinderten-Bewegung: "Wir wollen kein Mitleid, sondern Respekt!"
Homepage: http://www.noctivagus.net/mendler
Facebook: http://www.facebook.com/people/Klaus-Mendler/1414151458
RE: Mitleid
in An der Gesellschaft/dem Alltag orientierte Gedanken 28.01.2010 23:32von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Wäre zumindest schön, wenn jeder Mensch selbst das Mitleid aus Liebe zum Menschen empfinden würde.
Hier beginnt dann auch wieder die Theorie: Mitleid und Mitgefühl.
Wird aus Mitleid durch Liebe Mitgefühl?
Art & Vibration
RE: Mitleid
in An der Gesellschaft/dem Alltag orientierte Gedanken 28.01.2010 23:36von Roquairol • 1.072 Beiträge
Zitat von Taxine
Wird aus Mitleid durch Liebe Mitgefühl?
Es wird nicht, sondern ist. Wenn ich jemanden liebe, kann ich für ihn/sie kein Mitleid empfinden. Sondern nur Mitgefühl.
Homepage: http://www.noctivagus.net/mendler
Facebook: http://www.facebook.com/people/Klaus-Mendler/1414151458
RE: Mitleid
in An der Gesellschaft/dem Alltag orientierte Gedanken 28.01.2010 23:37von LX.C • 2.821 Beiträge
Wie man das Wort Mitleid betrachten kann ist immer auch eine Frage der Distanz. Man muss das Wort Mitleid nicht semiotisch zerpflücken, sondern kann es einfach als eine Form der Empathie begreifen. Nicht das Wort ist schlecht, sondern das, was wir in das Wort hineinlegen. Je mehr sich die Distanz zwischen Leidenden und Mitleidenden verringert, desto mehr relativieren, egalisieren sich Worte wie Empathie, Mitgefühl, Mitleid. Am Ende steht, auch wenn sich das vielleicht christlich-pathetisch anhört, die Nächstenliebe oder sei es, wie ihr schon sagt, Liebe.
Dieses falsche, übertrieben verbale Gehätschel und Getätschel ist eben ganz einfach falsches Mitleid. Und wenn ich nicht mitfühlen kann, dann kann ich erstrecht nicht mitleiden.
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[i]Poka![/i]
RE: Mitleid
in An der Gesellschaft/dem Alltag orientierte Gedanken 28.01.2010 23:37von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Zitat von Roquairol
Es wird nicht, sondern ist. Wenn ich jemanden liebe, kann ich für ihn/sie kein Mitleid empfinden. Sondern nur Mitgefühl.
Und wenn der geliebte Mensch an einem Schmerz leidet, der mir nicht zugänglich ist? Den ich nicht mitfühlen kann, selbst wenn ich wollte?
Art & Vibration
RE: Mitleid
in An der Gesellschaft/dem Alltag orientierte Gedanken 28.01.2010 23:42von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Zitat von LX.C
Und wenn ich nicht mitfühlen kann, dann kann ich erstrecht nicht mitleiden.
Unter diesem Aspekt bekommt das Mitleid eine wesentlich stärkere Tragweite. Ich fühle (oder ahne) das Leid (nach meinem Ermessen), wenn ich aber dieses Leid selbst erleide, werde ich ganz neu darüber fühlen und dann auch (vielleicht im Rückblick) mit einem anderen Menschen, der dieses Leid durchmacht, mitfühlen.
Art & Vibration