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Hirngespinste

Austausch zwischen Literatur und Kunst


#31

RE: April/Mai/Juni

in Lektüreliste 27.07.2023 20:18
von Salin • 511 Beiträge

Bei Alt werden von Przybyszewski Belletristik-Werken nur "Satans Kinder" und "Totenmesse" näher behandelt, letzteres mit "schwer erträglichem Pathos", aber beide mit originell umwertendem Theorie-Gerüst dahinter. Über "Satans Kinder" schreibt Alt:
"Die Idee, dass Satan der Vertreter der Armen und Entrechteten sei, deren Sache er in einem Kampf gegen den unsichtbar gewordenen Gott des Christentums vertritt, verbindet sich hier mit einem provokativen Ästhetizismus, dem Ideen und Ideologien nur als ornamentale Oberflächenreize für ein Spiel der Effekte gelten."
Und: Przybyszewski sei ein begeisterter Leser von Huysmans "Tief unten" gewesen.

Im selben Kapitel taucht auch Georg Heyms Novelle "Der Irre" auf (postum 1913), wo aus Sicht des Titel-"Helden" umgewertet wird. Hier zwei Zitate:
"Und die Wärter in ihren weiß gestreiften Kitteln, die aussahen wie eine Bande Zuchthäusler, diese Schufte, die die Männer bestahlen und die Frauen auf den Klosetts vergewaltigten."
"Es haut seinen Rachen in ihre Gurgel und saugt das Blut aus ihrem Leib. Pfui Teufel, ist das aber schön." ("Es" ist in diesem Fall der Irre, der eine Wandlung zum Tier vollzieht.)
Zur Erinnerung: Alts Buch trägt den Titel "Ästhetik des Bösen".

P. S.
Lesen werde ich die genannten Werke Heyms und Przybyszewski wahrscheinlich nicht.

zuletzt bearbeitet 27.07.2023 20:22 | nach oben springen

#32

RE: April/Mai/Juni

in Lektüreliste 27.07.2023 22:12
von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge

Zitat von Salin im Beitrag #30
(...) Heute lese ich, Mirbeau habe den Naturalismus abgelehnt, während in meinem alten "Lexikon der französischen Literatur" (Bibliographisches Institut Leipzig, 1987) steht, er sei Mitte der 1880er Anhänger des Naturalismus geworden und seine später geschriebenen Dramen "zeichnen sich durch drastisch-naturalistische Bloßstellung" aus.
So oder so scheint seine Sprache eher einfach zu sein, was wohl die Glaubwürdigkeit des Dargestellten erhöhen soll.


Seine Sprache ist der damaligen Zeit entsprechend, durchaus. Das von mir 2010 so sehnlichst gewünschte und damals nicht erhältliche Buch "Dans le ciel" habe ich übrigens dann doch noch bekommen. In deutscher Übersetzung heißt es "Diese verdammte Hand". Mirbeau war der einzige, der Van Gogh zu Lebzeiten ein Bild abkaufte, und dessen Charakter hat er in seiner Figur des Malers unglaublich gut vertieft. Ich würde Mirbeau durchaus dem Naturalismus zuordnen, jedoch eben mit dem in jeder Zeile spürbaren Schimmer der schwarzen Romantik. Der Charme seines Stils besteht in den poetisch philosophisch heraufbeschworenen Bildern, in denen immer auch jene düstere Welt der Ängste und des Grauens mitschwingt. Ein gutes Beispiel hierfür wäre so eine Passage aus dem eben genannten Buch:

"Und man scheint sich in diesem Himmel zu verlieren, in diesen Himmel hineingetragen zu werden, diesen unermeßlich weiten Himmel, bewegt wie ein Meer, diesen phantastischen Himmel, in dem unablässig ungeheuerliche Formen, wirre Tierreiche, unbeschreibliche Pflanzenwelten und Gebilde aus Alpträumen erwachsen, umherschweifen und wieder verblassen."

Jener Himmel ist das Wahngebilde des Schöpfenden, das ihn erdrückt, so dass er ausruft:
"Es ist der Himmel, so schwer, so bleischwer! Und dann diese Wolken ... Du hast sie also noch nicht gesehen, diese Wolken? Sie sind leichenblaß, fratzenhaft verzerrt wie das Fieber ... wie der Tod!«"

Ich weiß nicht, aber hier leuchten bei mir gedanklich sofort die Gemälde Van Goghs mit seinen rotierenden Sternenhimmeln und den schweren Wolken auf, beispielsweise "Berglandschaft hinter dem Hospital Saint-Paul".

Was mich an den Werken der schwarzen Romantik reizt, sind Bücher, in denen z. B. der Wahn poetisch verarbeitet wird, etwas, das einen atemlos mitreißt oder den subjektiven Blick aus der Perspektive des Wahnsinnigen zeigt. Das haben natürlich auch die Russen schon schön hinbekommen, dieses Auf-sich-selbst-Geworfene und den inneren Monolog, der ein Nachvollziehen erst möglich macht. Ähnlich schafft das die Kunst. Ich weiß noch, als ich mich mit dem Expressionismus beschäftigt habe, wie mich die Sammlung Prinzhorn völlig in den Bann gezogen hat, mit Werken, die von Insassen der psychiatrischen Anstalt stammten und die verschiedene Blickwinkel an Wahnvorstellungen sichtbar machten, teilweise unglaublich gut und intensiv, natürlich auch begleitet vom religiösen Wahn. Die Sammlung in Heidelberg und das Buch "Bildnerei der Geisteskranken" sind hochinteressant, um zu sehen, wie nahe Genie und Wahnsinn wirklich beieinander liegen, mit Dimensionen des Unterbewusstseins, phantastisch-visionären Dingen und "unerhörten Farbsymphonien" (so Kubin).

Von Przybyszewski bildet "Der Schrei" vielleicht auch eine Ausnahme, weil es sich mit der Schaffenskrise des Künstlers und dem Doppelgängermotiv beschäftigt, wobei der innere Dämon am Ende siegt. Ich habe eine schöne Ausgabe vom "Kippenheuer Verlag", 1987.
"... er ging hin, um seine Bilder zu sehen, entweiht, beschmutzt durch das Anstarren seelenloser, mit dem ranzigen Speck der Dummheit und des gedankenlosen Stumpfsinns verfetteter Augen - und er selbst wollte sich jetzt richten, weil er es zugelassen und seine Seele zu einer käuflichen Dirne entwürdigt hatte."

Dieses Buch ist wirklich wie ein gellender und gleichzeitig poetischer Schrei, wo der Mensch in "Delirien der Verzweiflung verreckt", also genau das, was ich in der Literatur suche. Und sein Motiv ist eine Straße.

"Er war besessen von der Vorstellung der Straße. Die Straße des unzüchtigen Handelns und Feilschens, die Straße der Geschlechtsgier und widerlichen Unflätigkeit, die Straße des Meuchelmordes und verbrecherischer Liebeshändel, die Straße der freudetrunkenden Hoffnungen und in konvulsivischen Verzweiflungsgeheul sich wälzenden Enttäuschungen, die Straße der Mastschweine, die nicht einmal Zeit haben, siebenmal am Tag zu sündigen wie jene, die den Gerechtesten zugezählt werden, und die Straße, auf der die Märtyrer der Liebe schleichen mit roten Geschwürkränzen um die Stirne, die Straße, über die zahllose Särge ziehen während der Pestzeit, über die der sinnlose Karnevalstrubel rast oder im triumphierenden Paradeschritt die Reste der stolzen Untertanen, die mitleidige Kanonen als Futter verschmäht haben oder die eine zahllose Menge derer, die nicht arbeiten, aber essen wollen, verrammelt hat. "




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#33

RE: April/Mai/Juni

in Lektüreliste 28.07.2023 11:44
von Salin • 511 Beiträge

Eine bemerkenswerte Sichtweise des Insiders Mirbeau. Bei van Goghs Bildern und auch bei der Lektüre seiner Briefe an Theo, Freunde und Familie hatte ich nie an Schwarze Romantik oder Fin de Siècle gedacht.

Bezeichnenderweise trägt bei Alt das Kapitel zu Przybyszewski, Heym und Benn den Titel "Poesie des Wahnsinns". Unmittelbar davor gibt eines mit "Kriminologische Fallstudien" über Krafft-Ebing, Cesare Lombroso und Hans Groß, was mich zunächst verwunderte (und langweilte), aber die Entstehung des Nachfolgenden erklären hilft. Schon zuvor fiel mir auf, dass sich die Inhalte psychiatrischer Fallgeschichten im Laufe der Jahrzehnte änderten, also zum Beispiel die religiöse Komponente heute eine viel geringere Rolle spielt als Ende des 19. Jh. bei Krafft-Ebing oder in den 1920ern. Ebenso, dass vieles, was Psychologen und Soziologen zu der einen Zeit sagen, ein, zwei Generationen später für die eigenen Fachkollegen lächerlich wirkt, während jene zeittypischen Fälle zu Erzählwerken anregten, die oft bis heute lesbar sind.

Über Munch haben wir hier im Regal ein bei Thames and Hudson erschienenes Buch von J. P. Hodin, der stark ihn und sein Werk psychologisch im zeitgeschichtlichen Kontext analysiert, worin Przybyszewski und der Eindruck, den er auf den Norweger hinterließ, mehrmals zur Sprache kommt. Die Affäre von Munch mit Przybyszewskis Frau, Dagny Juel, soll zu Munchs Gemälde "Eifersucht" geführt haben, wenngleich damals noch ein dritter, Strindberg, in sie verliebt gewesen sei.

Das erwähnte Buch von Largier (eigentlich ein Mystik-Experte) habe ich mir zugelegt. Der Autor springt darin locker zwischen Film, Literatur und Bildende Kunst umher, eher am kulturellen Kontext und an Unterhaltung interessiert als an umfassender Systematik. Am häufigsten erwähnt werden Antonius der Eremit, Huysmans, Luis Buñuel, Wilhelm von Saint-Thierry und Sade. Restbestände (noch in Folie) werden derzeit bei Artbook-Service für ein Viertel des ursprünglichen Preises verramscht.

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#34

RE: April/Mai/Juni

in Lektüreliste 29.07.2023 21:58
von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge

Zitat von Salin im Beitrag #33
(...) Über Munch haben wir hier im Regal ein bei Thames and Hudson erschienenes Buch von J. P. Hodin, der stark ihn und sein Werk psychologisch im zeitgeschichtlichen Kontext analysiert, worin Przybyszewski und der Eindruck, den er auf den Norweger hinterließ, mehrmals zur Sprache kommt. Die Affäre von Munch mit Przybyszewskis Frau, Dagny Juel, soll zu Munchs Gemälde "Eifersucht" geführt haben, wenngleich damals noch ein dritter, Strindberg, in sie verliebt gewesen sei.


Ja, und der vierte im Bunde war Wladyslaw Emeryk, der sie dann aus Eifersucht erschoss und sich selbst gleich mit. Es gibt ein Foto, wo sie beide in ihren blumengeschmückten Särgen liegen. Ein tragische Geschichte, die fast aus den Romanen der Schwarzen Romantik stammen könnte. Ob Strindberg oder Przybyszewski dieses Drama schriftlich irgendwo verarbeitet haben? Von letzterem ist in meinem Buch "Der Schrei" übrigens auch noch der Essay "Die Synagoge des Satans" über die Entstehung der Satanskirche enthalten, ein Thema, das ihn anscheinend brennend interessiert hat.

Van Gogh würde ich nicht in diese Gattung einordnen, obwohl sein ganzes Leben darauf ausgerichtet war. Der Prozess seines Schaffens war von einer Verbissenheit, die eine eigenwillige Kraft entfaltete und gleichzeitig auch düstere Ebenen öffnete (von seinen Selbstzweifeln einmal abgesehen). Der Maler war auch bevor er sich das halbe Ohr abriss oder abschnitt exzentrisch und der innere Trieb, der ihn zur Malerei drängte, ist beachtlich, so dass diese enorme Energie in vielen seiner Werke spürbar ist. Mirbeau verkörperte ihn in der Figur des Lucien. Über den und seine Werke heißt es im Buch:

"Die Kühnheit und Heftigkeit seiner Kunst verstörten mich. Sie flößte mir Angst ein, Entsetzen, beinahe wie der Anblick eines Wahnsinnigen. Und ich glaubte sehr wohl, daß vereinzelt der Wahnsinn aus seinen Gemälden sprach. Bäume bei Sonnenuntergang mit krummen Zweigen, rot wie Flammen; oder befremdliche Nächte, unsichtbare Ebenen, wilde Umrisse unter dem Wirbel der Sterne, Tänze von trunkenen, fahlen Monden, die den Himmel einem von Gejohle erfüllten Nachtlokal ähnlich machten. Es waren rätselhafte Gesichter, geheimnisvolle Münder, Abbildungen verstörter Pupillen in schmerzlicher geistiger Umnachtung. Und es war noch immer dieses eine, welches mich beherrschte wie das Antlitz des Todes: ein weites Weizenfeld in der Sonne, ein anscheinend unendliches Weizenfeld, und ein zwergenhafter Mäher mit einer großen Sense, der sich eilte und eilte, doch leider vergeblich, denn man spürte, daß er all diesen Weizen niemals schneiden können und sein Leben sich bei dieser unmöglichen Aufgabe erschöpfen würde, ohne daß das Feld in der Sonne auch nur um eine Furche zu schwinden schien." (Dans le ciel)

Mirbeau hat das innere Brennen Van Goghs hervorragend erkannt und daraus die Thematik des Wahns im Kunstschaffen entwickelt, der eine wichtige Voraussetzung für die Schöpfung unsterblicher Werke ist und sich bei Van Gogh auch äußerlich zeigte:

"Er glich jenen überwältigenden Blicken der Figuren seiner Gemälde, er ähnelte den aufgepeitschten und bizarren Himmeln seiner Landschaften. "

Und seine Gemälde sind tatsächlich reine Gefühlswelten, so dass die gleiche Landschaft völlig verschieden aussehen kann, je nachdem, was er beim Malen empfunden hat.




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#35

RE: April/Mai/Juni

in Lektüreliste 30.07.2023 22:20
von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge

Im Nachwort zu "Diese verdammte Hand" wird noch einmal darauf verwiesen, dass Mirbeau für den Naturalismus tatsächlich nichts als Verachtung übrig hatte. 1891 schrieb er an Claude Monet: "Ich werde der Unzulänglichkeit des Romans immer mehr überdrüssig, ebenso wie der Art und Weise des Ausdrucks. Alles darin auf die romantische Sichtweise zu reduzieren bleibt stets eine überaus erbärmliche, im Grunde überaus gewöhnliche Sache; und die Natur erweckt in mir jeden Tag einen tieferen Ekel vor dieser Primitivität, der immer unüberwindlicher wird."

Er betrachtete die "lügenhaften und langweiligen Konventionen des naturalistischen Romans" als teuflische Literatur und unterstellte eine daraus resultierende Fadheit nach der ihn überwältigenden Lektüre der russischen Romane von Dostojewski und Tolstoi auch französischen Schriftstellern wie Zola, Goncourt und anderen seiner Zeit.

Er selbst strebte entsprechend nach dem Stilbruch, schaffte es jedoch nur bedingt in seinen ersten veröffentlichten Romanen (die er überhaupt erst spät schrieb), mit einigen Anklängen düsterer Gefühlsebenen. Daher erinnern sie auch noch stark an den Naturalismus, während er jedoch mehr und mehr den Expressionismus bewunderte und schließlich mit den Werken "Dans le ciel", "Le Jardin des supplices" und später in der Collage "Les 21 jours d’un neurasthénique" eine individuelle Richtung anstrebte, um die traditionellen Normen zu sprengen. Ein Antrieb dafür war ihm wohl auch seine sehr unglückliche Ehe. Allerdings traute er sich trotzdem nicht, solche Werke zu veröffentlichen. Als Kämpfer für die Unterdrückten empfand er diese als zu nihilistisch und nicht einer Moral des Menschen dienend.




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#36

RE: April/Mai/Juni

in Lektüreliste 31.07.2023 19:53
von Salin • 511 Beiträge

Largiers Kunst des Begehrens hat unter dem Strich enttäuscht. Was zur an sich bemerkenswerten These einer engen Verwandtschaft von Askese und Dekadenz geboten wird, ist für die Buchform recht wenig. Da hilft auch nicht, in einem Kapitel ins Liturgische und im nächsten zum Stillleben abzuschweifen.
Viel Wert legt Largier auf den Einfluss von Ignatius von Loyola auf Huysmans, an dem sich wiederum Buñuel orientierte, der seinerseits einen Bezug zwischen Sade und Simón (aus seinem Film Simón in der Wüste) herstellte. Simón alias Symeon habe sich auf seiner Säule ähnlich isoliert seinen Imagination hingegeben wie Sade in seiner Gefängniszelle. Daneben wird eine Linie von Teresa von Ávila zum Inhalt des Buches Thérèse philosophe in Sades Justine gezogen.
Sowohl in der Askese wie in der Dekadenz werde ein Kult des Artifiziellen betrieben. Largier fasst zusammen: "Die Kunst des Begehrens steht ja nicht nur im Zentrum der Heiligenleben und der pornographischen Adaption des Modells mittelalterlicher Hagiographie, andern auch der dekadenten Kultur des Genusses."

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#37

RE: April/Mai/Juni

in Lektüreliste 01.08.2023 17:09
von Roquairol • 1.072 Beiträge

Zitat von Taxine im Beitrag #26
Zitat von Roquairol im Beitrag #25
Ist das wahr, es gibt ein Buch aus den 1790er-Jahren mit dem Titel "Alle haben Unrecht"? Von wem?


Es gibt ein Buch aus dem Jahr 1762 mit diesem Titel von einer anonymen Dame (die sich selbst ein Weibsbild nennt, das wohl keiner ernst nehmen wird), herausgegeben von Claude Cyprien Louis Abrassevin. "Alle haben Unrecht oder unparteyischer Ausspruch einer freydenkenden Dame aus Frankreich. Ueber die jetzige Umstände der Jesuiten". Gibt es als Buch zu kaufen oder, wie bei Cuoco, als Scan in den digitalen Sammlungen.

Hier der Link:
https://www.digitale-sammlungen.de/en/vi...10520861?page=1

"Ich behaupte dann und werde es auch beweisen: alle haben unrecht. Die Gegner der Jesuiten mit ihren Beschuldigungen, die Jesuiten mit ihren Entschuldigungen, vielleicht werde ich selbst unrecht haben in meinem Ausbruch."


Faszinierend! Etwas aus der Reihe der vollkommen in Vergessenheit geratenen Bücher - ich werde mal reinschauen.

Heute bekam ich per Post Band 18 des "Neuen Handbuchs der Literaturwissenschaft" - "Jahrhundertende/Jahrhundertwende I". Ich weiß noch, wie ich mir als Student diese Reihe immer wieder mit großen Augen im Verlagsprospekt angesehen habe, jeder einzelne Band kostete mindestens 150 DM, also für mich vollkommen unerschwinglich. Jetzt habe ich antiquarisch 5 Euro und 4 Euro Versandkosten bezahlt ...




Homepage: http://www.noctivagus.net/mendler
Facebook: http://www.facebook.com/people/Klaus-Mendler/1414151458
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#38

RE: April/Mai/Juni

in Lektüreliste 11.08.2023 08:35
von Salin • 511 Beiträge

Malaparte ist relativ bekannt, aber erst Alts Ästhetik des Bösen schaffte es, mich zur Lektüre zu bewegen.

Der Roman Kaputt, das Genre sei hier ausdrücklich betont, besteht aus sechs Teilen, aufgeteilt auf Stockholm, Polen, Helsinki, Berlin, Lappland und Italien. In die Gespräche, die der Erzähler dort vorzugsweise mit hochrangigen Adligen, Politikern und Diplomaten führt, werden häufig Anekdoten und gedankliche Erinnerungen aus den Kriegsgebieten eingestreut. Den jeweiligen Rahmenerzählungen – ich nenne sie mal so – haftet ihrerseits anekdotenhaftes an und zusammengehalten wird das Ganze durch die Reiserouten des Erzählers, eines Journalisten in Hauptmannsuniform der italienischen Armee.

Zitat
Nunmehr war der Blitzkrieg beendet, jetzt begann der "Dreißigjährige Blitzkrieg"; der gewonnene Krieg war zu Ende, jetzt begann der verlorene Krieg.


Sprachstilistisch ist dieses Werk bemerkenswert. Die zahlreichen Geschichten werden bildstark und prägnant erzählt, Kontraste geradezu brutal gesetzt, wenngleich – hier allerdings der üblichen Kriegsliteratur folgend – meist klare Freund-Feind-Ästhetik vorherrscht. Beispiele für Kontraste sind der wissenschaftliche und kulturelle Anspruch von Nationalsozialisten und deren Gefolgschaft auf der einen Seite und ihre tatsächlichen Taten auf der anderen. Erstaunlich ist generell die rhetorische Vielfalt. Die Ironie, die der Erzähler nicht nur in Gesprächen mit Vertretern der Macht verwendet, ist nur ein Teil davon.

Zitat
"Nur ein Künstler wie er kann Polen regieren."
"Ja, ein großer Künstler", sagte ich, "und mit diesem Klavier hier regiert er das polnische Volk."


Wobei der Erzähler noch weiter geht: Mit deutschen Gouverneuren, Generälen und auch mit Galeazzo Ciano spricht er auf Augenhöhe, wenn nicht gar in überlegener Position. Himmler, mit dem er allein im Fahrstuhl fährt, schiebt er brüsk zurück. Die Art wie er sich in etlichen Situationen und insbesondere im Verhältnis zu damals Mächtigen als der Überlegene darstellend, hat etwas Narzisstisches. Bei der Beschreibung dutzender Personen hebt er tatsächliche oder vermeintliche Mängel hervor, häufig in herabsetzender Weise. Andererseits gilt seine Fürsorge einem gefangenen Tataren und Ghettobewohnern. Einen verängstigen Jagdhund vermag er zu heilen. Er erklärt sich als Freund geknechteter Völker, wird aber rätselhafterweise allerorten von hochrangigen deutschen Besatzern hofiert, denen vorgeblich seine Antipathie gehört. Dass der Erzähler, der den Namen und unübersehbare autobiografische Züge des Autors trägt, im 1944 veröffentlichten Buch angesichts der damaligen Entwicklungen versucht, sich auf der richtigen Seite stehend darzustellen, ist Teil dieses Romans, auch jenseits dessen, was der Autor uns vermitteln wollte.
In fiktionalen Werken ist vieles erlaubt. Da darf ein Malaparte auch behaupten, das Wort 'kaputt' komme vom hebräischen 'Kapparoth' oder dass alle SS-Leibstandarten-Anwärter einer lebenden Katze die Augen ausstechen mussten.

In meine ganz spezielle Sammlung passt Kaputt dann doch nicht und von der Biografie des Autors möchte ich an dieser Stelle schweigen, denn die ist allbekannt.
Was am Rande auffiel: Ein Angebot der deutschen Ausgabe von Kaputt finde ich derzeit nur bei einem Antiquariat (in einer Ausgabe von 1970), während Die Haut in verschiedenen Ausgaben hundertfach, in allen bisherigen Ausgaben angeboten wird, obwohl beide vermutlich in ähnlichen Auflagenhöhen gedruckt worden sind.

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#39

RE: April/Mai/Juni

in Lektüreliste 12.08.2023 00:59
von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge

Zitat von Salin im Beitrag #38
(...)
Was am Rande auffiel: Ein Angebot der deutschen Ausgabe von Kaputt finde ich derzeit nur bei einem Antiquariat (in einer Ausgabe von 1970), während Die Haut in verschiedenen Ausgaben hundertfach, in allen bisherigen Ausgaben angeboten wird, obwohl beide vermutlich in ähnlichen Auflagenhöhen gedruckt worden sind.



Das kann ich nur bestätigen. Der Roman "Kaputt" wurde in einigen, von mir gelesenen Schriften und Werken erwähnt, um mich neugierig zu machen. Erhältlich war der Roman allerdings in deutscher Übersetzung auch damals nicht zu angemessenen Preisen, während ich "Die Haut" als Buch günstig erwarb (eine schöne Ausgabe vom "Verlag Volk und Welt" in der Übersetzung von Hellmut Ludwig) und natürlich auch gelesen habe. Hier fällt ein stark surreal geprägtes Bild auf, das versucht, den Schrecken des Krieges einzufangen, sehr gut und teilweise sehr drastisch, wunderbar vermischt mit dem Lokalkolorit des neapolitanischen Lebens und mit dem ab und an beeindruckenden Blick auf die berühmte Villa Malaparte (*) in der Nähe der Faraglioni-Felsen auf Capri (wo später Godard "Le Mépris" drehte). Malaparte Bonaparte glaubt nicht mehr so recht an den Menschen und an ein glückliches Weiterleben. Für ihn ist nach dem Krieg nur noch "ein Haufen fauliges Fleisch" übrig, das seine eigenen Kinder verkauft.

Zitat von Malaparte
"Es ist nichts als die Haut, was heute zählt. An Sicherem, an Fassbarem, an Unbestreitbarem gibt es nichts außer die nackte Haut. Sie ist das einzige, was wir besitzen. Was uns gehört. Das vergänglichste Ding, das es in der Welt gibt. Nur die Seele ist unsterblich, o Jammer. Aber was gilt die Seele heutzutage? Nichts als die Haut zählt. Alles besteht aus menschlicher Haut. Auch die Fahnen der Heere sind aus menschlicher Haut. Man schlägt sich nicht mehr für Ehre, für Freiheit, für Gerechtigkeit. Man schlägt sich für Haut, für die widerwärtige Haut."



Wie für einige andere Kriegsschriftsteller vermengten sich für Malaparte der Erste und der Zweite Weltkrieg zu einem prägenden Ereignis und stellten eine Fortsetzung des Schreckens dar. Was ihn ausmacht, ist vielleicht die tiefe Verzweiflung, die er im Extrem durch die Zeilen transportiert. Das ist nicht für jeden erträglich. Der Roman "Die Haut" ist allerdings ein Buch, das ein Lesen lohnt, zumal es nicht nur den einfachen und schmutzigen Soldaten in seiner Abneigung gegen den Krieg und in seinem Stumpfsinn zeigt, sondern auch die, die ohne direkte Teilnahme vollständig verrohen und verkommen, was er geistige Pest nennt. Er zeigt die Sieger und Besiegten, oftmals sehr sarkastisch bzw. zynisch dargestellt, und schreibt hier herausragend aus autobiografischer Sicht als er selbst.

Vielen Dank für deine schöne Zusammenfassung. Ich werde den Roman dann vielleicht einfach auf Englisch lesen.


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(*) Eine großartige 3D-Animation der Villa gibt es hier:




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#40

RE: April/Mai/Juni

in Lektüreliste 14.08.2023 23:16
von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge

Der Roman" Die Haut" scheint mir im ersten Vergleich dann doch etwas feiner gestrickt und wesentlich surrealer in den Ideen, obwohl mir beide Bücher sehr gefallen. Beispielsweise serviert der amerikanische General Cook dort aufgrund eines Angelverbots seinen Gästen den gesamten bunten Schatz seltener Fische aus dem Aquarium von Neapel, bis hin zu einer Sirene, die als gekochtes Mädchen mit aufgeplatztem Körper auf den Tisch kommt und dann beschämt beerdigt wird. Sehr gekonnt kritisiert Malaparte hier ohne den in "Kaputt" manchmal aufkommenden Pathos und zeigt die charakterlichen Schwächen der Anwesenden. Auch gefiel mir die italienische Atmosphäre besser, während vordergründig die amerikanischen Befreier auf die Schippe genommen werden.

Tatsächlich muss ich aber auch sagen, dass der See an eingefrorenen Pferdeköpfen mit dem Grauen im Auge oder das Dinner beim deutschen Statthalter und "Schlächter von Polen" Hans Frank, als dort die gebratene Gans serviert wird und Malaparte sich vorstellt, sie wäre nicht auf herkömmliche Weise getötet, sondern von einem SS-Bataillon an die Wand gestellt hingerichtet worden, auch etwas haben. Da kann man wirklich nur sagen: "Ach so..." (In der englischen Übersetzung sind die deutschen Aussagen übrigens schön charakteristisch dazwischen gestreut.)

In diesem Kapitel erwähnt er übrigens auch fast nebenbei die St. Andrew's Church, "where Chopin's heart is preserved in an urn", obwohl es eigentlich in der Heilig-Kreuz-Kirche in Warschau zu finden ist.
Chopin bestand, als er mit 39 Jahren starb, auf eine Obduktion, um zu beweisen, dass er an Herzbeschwerden litt, was sich später als richtig herausstellte, zu seiner Zeit jedoch noch nicht nachgewiesen werden konnte. Während er in Paris begraben wurde, schmuggelte seine Schwester sein Herz unter dem Rock nach Polen. Dort wurde es zunächst von der Kirche in den Katakomben aufbewahrt, da man um das frivole Leben des Musikers wusste, und erhielt später, 1879, seinen Urnenplatz in einer gut sichtbaren Säule mit dazugehörigem Epitaph. Frank hasste die Polen und Chopin im Besonderen. Er klaute zwar alles an Kostbarkeiten und Kunstwerken zusammen, was er fand, und erwarb sogar eine ganze Chopin-Sammlung für 50.000 Mark, ließ jedoch sein Denkmal gegenüber des Belvedere-Palasts zerstören. Dem Herz konnte er zum Glück nichts anhaben, das durch den deutschen Priester Schulze an einen sicheren Ort gebracht und durch die Hilfe zweier SS-Generäle schließlich dem polnischen Erzbischof Antoni Szlagowski übergeben wurde, der es für die Nachwelt in seiner alkoholgetränkten Lösung auf seinem Piano bewahrte. Durch eine erneuerte Untersuchung 2017 fanden Wissenschaftler heraus, dass Chopin an einer Herzbeutelentzündung starb, die wahrscheinlich auf eine Tuberkulose zurückzuführen ist.

Ich bin noch mitten im Buch. Das nur einige erste Gedanken dazu.




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#41

RE: April/Mai/Juni

in Lektüreliste 20.08.2023 20:22
von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge

Ich teile die Gedanken des Nachworts nicht, dass Malaparte narzisstisch und unaufrichtig wirkt. Im Gegenteil empfand ich ihn als relativ neutralen Beobachter, der sich zwischen den Kriegsteilnehmern und Verbrechern, den korrupten Politikern, Diplomaten und Dekadenten frei und unbeschwert bewegt (einige kannte er ja wirklich persönlich oder war gar eng mit ihnen befreundet), um sich gleichzeitig außergewöhnlich subjektiv mit dem Geschehen auseinanderzusetzen. Schon alleine, weil er viele Dinge im Krieg selbst miterlebt und vieles durchgemacht hat, kann man ihm kaum Oberflächlichkeit vorwerfen, auch wenn er seine Ansichten manchmal etwas zu spielerisch verpackt. Ich glaube aufs Wort, dass er sehr unterhaltsam war und ein Gespräch bereicherte. So schreibt er auch und wirkt sympathisch. Gleichzeitig war zu dieser Zeit vieles noch nicht bekannt, so dass er sich größtenteils auf das bezieht, was er unmittelbar erlebt oder gehört hat. Und genau das macht sicherlich einen großen Teil des Charmes aus, eine Art Authentizität in der Fiktion.

Es ist überwältigt, wie gut ihm die Beschreibungen der Kriegsschauplätze gelingen, die in ihrer ganzen Hässlichkeit auferstehen und poetisch vertieft werden.

"Es kam mir vor, als würde das alte Kriegsgesetz von Mensch und Tier das neue Gesetz des mechanischen Krieges beherrschen, ich fühlte mich im Geruch des toten Pferdes zu Hause wie in einem alten Vaterland, einem Vaterland, das ich wiedergefunden hatte."

Natürlich bleibt es seine eigene Perspektive und alles dreht sich um seine Anekdoten, mit denen er die Erzählungen und Gespräche verbindet. Trotzdem ist seine Sympathie für die deutschen SS-Führungsmächte und internationalen Faschisten eher überzogen dargestellt und besagt durch die negativen Beschreibungen äußerlicher Merkmale oftmals das Gegenteil, wohl auch, weil er seine eigenen politischen Überzeugungen im Verlauf der Ereignisse allmählich revidieren musste. Mussolini und Hitler mochte er, wie wir wissen, überhaupt nicht, und hat dafür auch Verbannung und Gefängnis in Kauf genommen. In "Die Haut" tritt Mussolini beispielsweise als gigantischer Fötus auf, ähnlich wie D'Arrigo in seinem Werk aus Mussolinis Kopf einen Nachtopf macht. (Beide spielen ungefähr zur gleichen Zeit in Italien.) Dass Malaparte sich vorher für Italien eine Veränderung erhoffte, ist nachvollziehbar, gerade auch, weil man seine Liebe für das Land und seine Verzweiflung für die verheerenden Entwicklungen durch jede Zeile spürt.

Sicherlich bin ich hier auch vorgeprägt durch seinen anderen Roman, der eine deutlich literarisch anspruchsvollere Ebene bedient und den Krieg schon kritischer betrachtet, ebenso das häufig unangemessene Verhalten der Siegermächte dokumentiert, ein, wie mir scheint, einzigartiger Versuch der Darstellung, den ich noch nirgendwo sonst vorgefunden habe. In "Die Haut" macht sich Malaparte dann auch darüber lustig, dass er seine Geschichten mit fiktiven Elementen würzt. Als ihn ein hoher Politiker darauf anspricht, ob die Erlebnisse in "Kaputt" alle tatsächlich der Wahrheit entsprechen, tischt er ihm gleich die nächste Lüge/Ungeheuerlichkeit auf, um sich darüber köstlich zu amüsieren.

Auch in diesem Roman gibt es wie in "Die Haut" unvergessliche Szenen, so die Geschichte mit dem Glasauge und dem Partisanenjungen, das Deutschenbordell und die Rückkehr nach Neapel, eine der ergreifendsten Szenen im gesamten Roman, mit einem großartigen Metapher-Ende. Seine künstlerischen Freiheiten haben mich überhaupt nicht gestört. Von einem Roman erwarte ich keine faktenbasierende Dokumentation und Berichterstattung. Mittlerweile hat sich sogar seine Deutung des Wortes "kaputt" etabliert, zumindest im digitalen Bereich. So werden geflunkerte Wahrheiten allmählich angepasst.

---
Wissen.de:
kapores = ka|po|res 〈Adj.; umg.〉 = kaputt; ~ gehen; ~ sein [< rotw. capores »morden«; zu hebr. kapparoth »Sühneopfer« (nach jüdischem Brauch wurde am Versöhnungstag ein Huhn (Kapporehuhn) geschlachtet]

Zeno.org:
Kaputt gehen = (Kapores) nach den einen vom französischen capot (Matsch im Kartenspiel), wahrscheinlicher vom hebräischen kapparoth (Opfer) herkommende Redensart aus der großen Gruppe derjenigen, die das allmähliche Verderben und Herunterkommen einer Person oder eines Geschäftsunternehmens als fortschreitenden Vorgang darstellen. Man vergleiche »Um die Ecke gehen, Pleite- und Flöten gehen (beides vom hebr. pletah, Flucht), Futsch-, vor die Hunde-, zum Kuckuck-, zum Teufel-, in die Wicken etc. gehen

Wikipedia:
Das Wort erreichte kurz nach dem Zweiten Weltkrieg und der Einnahme Berlins durch die Rote Armee Popularität, als der Spruch „Hitler kaputt“ (russisch Гитлер капут / Gitler kaput) weltweit benutzt wurde.

(a) Französisch. – Die wahrscheinlichste Deutung geht auf ein französisches Wort capot zurück. Dieses ist zumindest für den Gebrauch im Kartenspiel nachgewiesen (faire capot, être capot), wenn alle vorherigen Stiche verloren gehen. Das Äquivalent nach deutscher Mundart hieß „kaputt machen“.
(...)

(b) Hebräisch. – In der hebräischen Sprache gibt es das Wort kaparôt für „Sühneopfer“, „Versöhnung“. Dieses besitzt einen verwandten Begriff im Jiddischen: Die Kapores sind die am Versöhnungstag geschlagenen Hühner. An jenem Tag wurden dann „Kapores geschlagen“, was in die Gaunersprache als „kapores machen“ überging und so viel wie „niederschlagen“ bis hin zu „totschlagen“ bedeutete.
---

Wie sich die Informationen im digitalen Bereich verwässern und verfälschen, wird übrigens auch ChatGPT viel dazu beitragen, kontrolliertes Pseudowissen zu vermitteln. Hierbei handelt es sich weniger um künstliche Intelligenz als um eine Vervielfältigungsmaschine der Verblödung, die die gewünschte Ansicht auf dem Niveau heutiger Faktenchecks auf Abruf bereithält. Es ist wohl kein Rätsel, dass dieser Unsinn boomt. Menschen unterhalten sich anscheinend viel lieber mit ihren mobilen Geräten als mit Menschen, weil diese nicht widersprechen und immer höflich sind. Und so verallgemeinert ChatGPT genau das, was vermittelt werden soll, zensiert selbstständig und ist damit nur ein weiteres Rad im Getriebe der Manipulation.




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#42

RE: April/Mai/Juni

in Lektüreliste 21.08.2023 16:05
von Salin • 511 Beiträge

Sowohl im Kluge als auch im Etymologischen Wörterbuch des Deutschen (dwds.de) und bei Wiktionary wird mit unterschiedlichem Worten lediglich auf die Neubildung nach dem kartenspielerischen "caput machen" verwiesen, die im 17. Jahrhundert aufkam, auch damals inmitten eines großen Krieges.
Malaparte hatte seine Ursprung von "kaputt" vermutlich aus Meyers Großes Konversations-Lexikon, wo 1905/06 dergleichen stand, was Wikipedia heute noch als einzige Quelle dafür nennt, auch wenn der aktuelle etymologische Stand offenbar ein anderer als der vor über 100 Jahren ist. Also doch kein so gutes Beispiel für Freiheiten, die ein Erzähler sich erlauben darf.

Im anonymen Nachwort meiner Ausgabe von 1970 steht lustigerweise: "Nun kann es im Allgemeinen nicht Sache eines verlegerischen Hinweises sein, mögliche Einwände festzustellen und dann weiter zu versuchen, sie zu entkräften, denn mit Sicherheit verstimmt die Absicht und verwehrt die unverstellte Aufnahme des Buches erst recht. Nur wenn im besonderen Fall unübersteigbare Gebirge von Ressentiments zwischen Leser und Buch liegen oder Gefahr besteht, daß sie aufgebaut werden, ist ein Wort erlaubt, welches zu einer unvorbelasteten Würdigung den Weg zu zeigen versucht."
Was dem folgt, zeigt, dass die damalige Sorge der Darstellung der eigenen Ethnie galt. Dagegen erschien Kaputt 2005 im Zsolnay-Verlag mit einem neuen entschuldigenden Nachwort Lothar Müllers, wo es vor allem um die politisch korrekte Einordnung des Autors gehen soll.

Von welchem Nachwort redest Du? Das von Hofstadter kenne ich noch nicht.

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#43

RE: April/Mai/Juni

in Lektüreliste 21.08.2023 17:48
von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge

In meiner englischen Ausgabe von "NYRP Classic", in der Übersetzung von Cesare Foligno, ist das Nachwort von Dan Hofstadter, das tatsächlich das interessantere und vielleicht neutralere zu sein scheint, da er grundsätzlich positiv bewertet, aber auch solche Bemerkungen macht:

"At times the book feels like an eyewitness reportage, at other times like a detached and rather waspish chronicle or even a work of historical fiction. Kaputt is actually all of these, but since Malaparte never acknowledges when he is switching from one genre to another the reportage has the imaginative texture of fiction, the fiction the reality of reportage. What is journalism here and what is historical fantasy? It's hard at any point to say, since the author is constantly eating any number of cakes and having them too.
The result, of course, is hypnotic. But what is one to make of so many scenes and conversations that seem not only made up but also implausible, in the sense that fiction may be implausible? All sorts of amazing things happen, but not only are you never certain what's true, you also tend to question the poetic or mimetic accuracy of those of Malaparte's tales that appear invented or highly embellished. However such characters may have behaved, you find yourself thinking, they surely didn't behave like this. Malaparte's odd weakness for the implausible is early detectable in his fanciful Hebrew etymology for the German word kaputt, originally just a term for a cardplayer unable to play another trick (from the French capoté, "capsized"). Of course this is a minor point: but the waffling between genres, the implausibility, the scant regard for fact—all grow more and more troubling as they come to bear on the most terrible atrocities of the last century.

(...)
Of course the attentive reader detects a certain falsity at the heart of Kaputt. The conversations are often stilted and dominated by our hero, eager to impart his observations and superior wisdom. He tends to characterize his people through physiognomic description or national identification, so that they fail to come alive or do so only as monsters, whom we accept when we realize that they're broadbrush grotesques. He narcissistically takes center stage even in scenes of carnage, as if genocide were a stage set contrived to set off his own seductive appeal. Many of the episodes are overextended anecdotes, and there are numerous blatant failures of taste: the name-dropping, which somehow manages to encompass both the Bernadottes and the Hohenzollerns, never relents. And Malaparte's backbiting, vaguely Saint-Simonian court chronicle about his erstwhile patron Ciano is almost impossible to follow."

Ein Können im Schreibstil bekundet er Malaparte allerdings unmissverständlich. Er findet jedoch, dass die Szenen für den Leser zu durchschaubar im fehlenden Wahrheitsgehalt komponiert sind und von vornherein falsch und unglaubwürdig wirken, beispielsweise in der Darstellung echter Persönlichkeiten. In "Die Haut" hatte ich wiederum keinen Zweifel an der autobiografischen Sichtweise und Malaparte auch nicht als Figur oder fiktiven Erzähler empfunden. Und da ich dieses Buch zuerst gelesen habe, ging es mir bei "Kaputt" ähnlich, schon vertraut mit seinem Stil, in den seine Fantasie ebenso einfließt wie seine journalistischen Fähigkeiten. Mich jedenfalls haben beide Romane alleine durch die Bilder und Anekdoten beeindruckt.


P. S. Was mir noch dazu einfällt: Ein Bewunderer des Faschismus' war auch Rilke, wie man aus seinen Briefen erfährt. Gegenüber Malaparte war er allerdings vor allen Dingen von Mussolini fasziniert und erhoffte sich durch ihn "ein neues Bewusstsein", auch über alle Ungerechtigkeit hinweg, während er die Ideen der Internationale vollständig ablehnte und zur Abstraktion erklärte. Natürlich hat Rilke dann die tatsächlichen Auswirkungen des Faschismus' nicht mehr erlebt, da er vorher starb.




Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 21.08.2023 22:10 | nach oben springen


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