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Hirngespinste

Austausch zwischen Literatur und Kunst


#16

RE: April bis August 2025

in Lektüreliste 22.05.2025 12:13
von Taxine • Admin | 6.742 Beiträge

Zitat von Salin
Warum bei The Sea die letzten 20 Seiten? Eine Art Auflösung war ja fällig. Die Spannung wurde lange genug aufgebaut. Die entsprechend hohen Erwartungen wurden schließlich übertroffen, so wie man es – ohne die ausgiebige psychologische Persönlichkeitsstudie – von guten Short Stories kennt. (...) Auch das exzessive Ausmaß seines Alkoholkonsums, der einiges von dem zuvor Beschriebenen erklärt, wurde erst spät erwähnt.



Der Alkoholismus erklärt dann natürlich auch den Hass. Danke. Ich hatte das Ende nur noch als alkoholischen Zusammenbruch im Kopf, der auch gut ins Bild gesetzt war. Von Roth gefielen mir z. B. "Portnoys Beschwerden", "Sabbath Theater" und "Das sterbende Tier". Von den hochgelobten Bestsellern dagegen las ich nur "Der menschliche Makel", die anderen waren mir "zu amerikanisch", ähnlich wie Bellows "Die Abenteuer des Augie March", während ich "Herzog" oder "Der Regenkönig" mochte.

Apropos Short Stories, einer meiner liebsten Autoren dieses Genres ist Ted Chiang. Kennst du sicherlich. Ich las seine beiden hervorragenden Kurzgeschichtensammlungen "Die Hölle ist die Abwesenheit Gottes" und "Das wahre Wesen der Dinge". Besonders in letzterer Ausgabe sticht der "Turm zu Babel" heraus, obwohl sicherlich alle gut sind. Beide Bücher erschienen in Deutschland im Golkonda Verlag. Die englische Variante ist, soweit ich weiß, „Stories of Your Life and Others“. Auf der Suche nach solchen, die auch in die Tiefe gehen oder fantastische Elemente enthalten, bin ich immer und dankbar für jede Empfehlung. Oft sind gerade Kurzgeschichten eine Enttäuschung für mich, wenn jene von dir erwähnte Zuspitzung gegen Ende fehlt. Dabei gibt's ja wunderbare Vorbilder wie Borges oder Casares. Weniger surreal und tiefgründig, aber dennoch gut, sind auch die Sachen von Raymond Carver. Hier blieben mir die Erzählungen "Würdest du endlich still sein, bitte" in Erinnerung.




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#17

RE: April bis August 2025

in Lektüreliste 22.05.2025 19:34
von Salin • 547 Beiträge

Obwohl ich mit denen von O. Henry aufgewachsen bin, ließ mein Interesse an Kurzgeschichten Mitte der 90er nach. Vielleicht weil sie in der Regel allzu leicht zu lesen sind, wie auch die von Carver. Ich bevorzuge es eher über- als unterfordernd oder eben passend. Mir kommen sie mitunter noch durch Zufall in die Hände. The Last Rung on the Ladder (King, 1978, aus Night Shift) beeindruckt mich bis heute, wenn ich daran denke, obwohl darin im Einzelnen vermutlich nur schlichte Sätze zu finden sind.
Ted Chiang ging am mir vorüber.

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#18

RE: April bis August 2025

in Lektüreliste 01.06.2025 13:38
von Taxine • Admin | 6.742 Beiträge

Ich habe sehr seltsame Kurzgeschichten entdeckt, auch sehr moderne, die ich nun lese: Bora Chung "Der Fluch des Hasen". Schon in der ersten Geschichte wird eine Frau von ihren eigenen Ausscheidungen bedroht, die als nicht vollendeter Kopf aus ihrem Klo auftauchen und sie "Mutter" nennen. Nun gut...




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#19

RE: April bis August 2025

in Lektüreliste 08.08.2025 09:54
von Salin • 547 Beiträge

Philippe Djian: Oh …
Hier wird zielsicher, dem gewählten Stil stets angemessen erzählt, "perfekt", aber nicht zu glatt. Kein Wort zu viel und keins zu wenig. Andererseits häufen sich die krassen, reißerischen Aspekte. Etliche Themen werden treffend angeschnitten, doch der Erzählstrom wirkt etwas gehetzt und bei keiner der Figuren stellt sich das Gefühl ein, dass ich sie mehr als oberflächlich kennenlerne, selbst bei der ambivalenten Michèle.
Inhaltlich erinnern etliche der reißerischen Handlungsabschnitte an Trashfilme, zumal wohl in Erwartung der Verfilmung konzipiert. "Entertainment auf das Niveau der schönen Künste zu heben" ist für Michèle, die Erzählerin von Oh …, das besondere Talent von guten Drehbuchschreibern, was man auch auf Philippe Djian beziehen kann. Handwerklich ist bei ihm alles ausgefeilt, sprachlich auf einem deutlich höheren Niveau als das, was ich von Virginie Despentes gelesen habe, mit der er von Kritikern verglichen wurde. Allein die ersten zwölf, ja hundert Seiten! Wenn auch nicht auf dem Niveau von Jelineks Klavierspielerin. Im Übrigen ist bei Djian das Ganze bitter ernst gemeint. Ironisches schimmert nur sehr vage durch. Dass sein Wortschatz oder der des Übersetzers für den Diogenes-Verlag wesentlich begrenzter ist, als beim dargestellten Milieu zu erwarten, dürfte der breiten Zielgruppe geschuldet sein.

Dass salopper Umgang mit Gewalt und Sex in der französischen Literatur eine lange und breite Tradition hat, erklärt vermutlich den Grad an sprachlicher Versiertheit bei den Themen. Die kurzgefasste, lakonische Sprache lässt allerdings eher amerikanische Einflüsse vermuten, etwa wenn die Erzählerin schreibt: "Ich hoffe, man sieht mir das nicht allzu sehr an. Ich hoffe, dass da ein Lächeln auf meinem Gesicht ist und keine Grimasse, wenn unsere Blicke sich treffen"
Oh … erinnert mich aber auch an Kraussers Schmerznovelle, wenngleich extreme persönliche Eigenarten in Djians Werk so zahlreich sind, dass der Autor sich bei keiner allzu lange aufhält. Außer vielleicht Anna und dem Baby werden alle Figuren psychisch und/oder sexuell als weit vom Normalen abweichend dargestellt, wobei (die im Roman nicht so benannte) Paraphilie und die jeweilige Reaktion darauf das wesentliche Thema ist.
Vor zwei oder drei Jahren las ist einen anderen Roman von Philippe Djian, Schwarze Tage, weiße Nächte, habe aber keinerlei Erinnerung an dessen Inhalt, lediglich daran, dass mir damals rätselhaft war, was der Autor meint, wenn er sagt, dass es ihm "nur um Stil und Sprache" gehe. Zumindest dieses Rätsel ist mit Oh … gelöst. Mal abwarten, was davon im Gedächtnis bleiben wird. Dank Stil und Sprache stehen die Chancen deutlich besser als beim vorigen.
Betty Blue – 37,2 Grad am Morgen ist sein bekanntester Roman, doch bezweifle ich, ob er damals schon die stilistische Reife hatte, weshalb ich wahrscheinlich Betty Blue verzichten werde. Allein die scharlachrote Oberfläche, die seine frühen Werke bereits haben sollen, reicht mir persönlich nicht.

zuletzt bearbeitet 10.08.2025 08:35 | nach oben springen

#20

RE: April bis August 2025

in Lektüreliste 09.08.2025 21:27
von Taxine • Admin | 6.742 Beiträge

Na gut, dann lese ich "Betty Blue", das steht noch ungelesen im Regal. Djian habe ich noch gar nicht geschafft, obwohl er häufiger in Literaturrezensionen gelobt wurde.

Mich selbst hat es in die Türkei verschlagen. Ich bin auf das monumentale Werk "Tutunamayanlar" von Oguz Atay gestoßen, das in deutscher Übersetzung "Die Haltlosen" heißt. Er ist in Deutschland weniger bekannt und sein Roman wird (mal wieder) mit Joyce' "Ulysses" verglichen, aufgrund des spielerischen und verschachtelten Aufbaus. Gegenüber Joyce, der eigentlich gar nicht so verschachtelt war, ist Atay aber ein tief philosophischer und sogar mathematischer Geist, der vieles auf die Schippe nimmt, vor allem den türkischen Nationalstolz und die dortige Bürokratie. Er vermengt dabei Erzählung, Epos, Geschichte, Tagebuch, Enzyklopädie und andere stilistische Mittel zu einem wirklich außergewöhnlichen Werk, das mit einem Selbstmord beginnt, den der beste Freund dann aufzuklären versucht. Ich werde dazu noch mehr sagen, wenn ich das über 760-Seiten-Buch beendet habe.

Ansonsten gab es einige Leseerlebnisse durch Adelheid Duvanel "Fern von hier" (ihre Erzählungen sind meisterhaft) und Albertine Sarrazin mit ihrem "Astragalus", ein Buch über ihren Gefängnisausbruch (der tatsächlich stattfand), aber in einem einzigartigen Stil, der bis zur letzten Seite fesselt. Von ihr habe ich mir auch sofort "Der Ausbruch" bestellt. Sie wurde leider nicht alt und starb mit nur 29 Jahren an einer verpfuschten Nierenoperation. Schon Patti Smith war von ihr begeistert, und ich ebenso.

Auch einige Enttäuschungen waren dabei, darunter "Empusion" von Olga Tokarczuk, das ich grottenschlecht fand (ein Mix aus Emanzipation und Zauberberg, leider ohne die philosophische Tiefe und mit einem Protagonisten, der sowohl Mann als auch Frau ist... ja, Thema schön aktuell), und auch Gospodinovs "Der Gärtner und der Tod" fand ich viel zu persönlich, denn die Trauer um den Vater ist ein Bewältigungsakt, der Zeit braucht, die er sich anscheinend nicht gelassen hat, auch wenn einige Gedanken bei ihm immer schön sind. Sehr beklemmend war "Schicksal" von Zeruya Shalev, aber diese Schriftstellerin liebe ich und fand auch das Buch, wie all ihre Bücher, hervorragend.




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#21

RE: April bis August 2025

in Lektüreliste 11.08.2025 09:24
von Salin • 547 Beiträge

Die im Band Die Frau, die mir gleicht gesammelten Erzählungen von Felisberto Hernández sind leider nicht derart besonders, wie von mir erhofft, auch wenn sie gut geschrieben sind. Am besten gefielt mir Der Balkon, doch schon die bekannteren Hortensien (1966) wirkten arg verstaubt, anders als Bioy Casares' auch von dir gelobtes Werk Morels Erfindung (1940).

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#22

RE: April bis August 2025

in Lektüreliste 11.08.2025 20:12
von Taxine • Admin | 6.742 Beiträge

"Morels Erfindung" ist eines der Werke, das man durchaus häufiger lesen kann und immer wieder Neues entdeckt. Neben der unglaublich gelungenen Geschichte (bis zu den sich selbst projizierenden Wänden, die ihn dann zwingen, die Maschine genauer zu untersuchen, um sie abschalten zu können), fand ich den gesamten Aufbau spannend, um dem Leser zu ermöglichen, das, was passiert, über viele Seiten selbst zu entschlüsseln oder zu interpretieren. Bioy Casares finde ich teilweise fast besser als einiges von Borges, der ja mit jenem auch viel zusammengeschrieben hat. Bis heute scheint noch nicht vollständig bekannt zu sein, was tatsächlich alles von Casares stammt.




Art & Vibration
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#23

RE: April bis August 2025

in Lektüreliste 22.08.2025 22:54
von Taxine • Admin | 6.742 Beiträge

Ich lese nun endlich "Das Buch der Beweise" von Banville, ein wirklich gelungener Roman, z. B. diese Stelle:

"Manchmal glaube ich, dass unsere Gegenwart hier die Folge eines kosmischen Fehlgriffs ist, dass wir für einen völlig anderen Planeten vorgesehen waren, mit anderen Bedingungen, anderen Gesetzen und mit einem anderen, erbarmungsloseren Himmel. Ich versuche, ihn mir vorzustellen, unseren wahren Aufenthaltsort, draußen am anderen Ende der Galaxis, unaufhörlich im Kreis herumwirbelnd. Und die, die eigentlich hierher gehörten, sind sie dort draußen, verblüfft und heimwehkrank wie wir? Nein, sie wären schon längst ausgestorben. Wie können sie überleben, diese sanften Erdlinge, in einer Welt, die geschaffen wurde, um uns zu enthalten?"

Wie wahr. Auf dem Tisch liegt dazu noch das endlich in deutscher Übersetzung erschienene Buch "Die Wüste und ihr Samen" von Jorge Barón Biza, ein weiterer Selbstmörder, wie auch der (von Sokolow) empfohlene Norweger Tor Ulven, von dem die Bücher "Ablösung" und "Grabbeigaben" wirklich neugierig machen.




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#24

RE: April bis August 2025

in Lektüreliste 25.08.2025 08:22
von Salin • 547 Beiträge

Da ich hier kürzlich mit Bezug auf Philippe Djians Oh ... von einem begrenzteren als beim dargestellten Milieu zu erwartenden Wortschatz sprach: Banville zeigt in seinen Büchern das Gegenteil, so auch in The Book of Evidence:
Aboulia, echolalia, zonked, jorum, triolism, frottings, spic, jakes, sashay [amerik.]), comeuppance [Slang] und da [für dad] hatte ich notiert, weil ich nachschlagen musste und dies in den meisten Fällen nicht irgendwo. Auch dürften Eumaeus oder Euphorion bei den wenigsten im Gedächtnis abrufbar bereitstehen. Seine Wortwahl erscheint aber als die jeweils passendste, der Figur entsprechend und nicht als Bindungshuberei, zumal er, wenn er es auf die Spitze treibt, erklärt: "Of that state of floating ease, of, how shall I say, of bolanic, ataraxic bliss – yes, yes, I have got hold of a dictionary – in which they left me".

Die meisten seiner Sätze gehören nicht zum "internationalen Stil" , sondern helfen selbst durch die Art der Formulierung die Figur zu formen, so wie: "It was only when Charlie French came in that I realized it was for him I had been waiting."
Oder: "I had Daphne bring me big thick books on dutch painting, not only the history but techniques, the secrets of the masters. [...] But in the end it was no good: all this learning, this information, merely built up and petrified, like coral encrusting a sunken wreck."

"Even knowing all this you still know nothing, next to nothing. [...] You have not – ah no! – you have not killed for her."
Dies stammt ebenfalls aus The Book of Evidence und passt zu der Lektüre, die ich gerade vor mir habe: Georges Batailles "Die Literatur und das Böse", wobei nach den dortigen Kriterien Freddie sicher nicht zu den souveränen Bösen zählen würde.

zuletzt bearbeitet 25.08.2025 09:17 | nach oben springen

#25

RE: April bis August 2025

in Lektüreliste 25.08.2025 11:11
von Taxine • Admin | 6.742 Beiträge

Auch in der deutschen Übersetzung überzeugt Banville mit einer auserlesenen Sprache, wobei sich die Feinheiten dann eher auf die Bilder selbst konzentrieren. Beispiele dafür sind:

"... und der ohrenzersplitternden Echophrasie, die sie für eine Diskussion hielten."

"... und er runzelte missbilligend die Stirn, während er seinen winzigen Mund verzog, der daraufhin in den Falten seines fetten Kinns fast verschwand."

"Wenn sie so in Fahrt gerieten, die beiden, vergaßen sie alles andere, ihren Sohn, ihren Freund, alles, und waren in einer Art makabrer Trance ineinander verbissen."

"Wir gingen in die Küche, in der es aussah wie in der Höhle irgendeines riesigen aasfressenden Tieres."

"... während in all dieser Zeit, tief irgendwo in mir drin und ohne dass ich es mir recht eingestehen wollte, der Kummer in großen Tropfen herabperlte, unaufhörlich, ein silbriger Ichor, ganz rein und seltsam kostbar."

" Ich schaute durch das Fenster dem Nebel zu, wie er zwischen den Bäumen umherschlich."

"Sie verwickeln sich in einen kurzen und steifen kleinen Streit, in dem sie sich gegenseitig mit eisiger Höflichkeit bewerfen."


(John Banville "Das Buch der Beweise", Kiepenheuer & Witsch)

Ebenso werden einzelne Wörter zweckentfremdet, um mehr Substanz ins Bild zu bringen. Seine Anmerkungen und Zwischengedanken wirkten auf mich häufig, als kämen sie vom zwinkernden Schriftsteller selbst. Mich hat das Buch begeistert, auch die Geschichte, bei der am Ende die Aufforderung besteht, genau zu prüfen, was wahr und was gelogen ist. Ich bin bereits in "Geister", das, wie du auch angemerkt hast, noch einmal eine Steigerung des Erzählten darstellt.




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#26

RE: April bis August 2025

in Lektüreliste 25.08.2025 17:57
von Salin • 547 Beiträge

In The Book of Evidence gibt es deutlich mehr Kommentare, mehr Deutungen und Interpretationen als in Ghosts, die aber helfen die Persönlichkeit des Erzählers näher zu bringen. Was mich an Ghosts neben der Sprache beeindruckt hat, war die Atmosphäre, die er dort erzeugte.

Als ich dieses Buch las, besuchten uns ein paar ostasiatische Künstler. Der Vater einer der Frauen hatte in 1998er Asienkrise sein Geschäft und Vermögen verloren und nahm sich das Leben, was für die Familie drastische Veränderungen mit sich brachte. Dank Stipendium konnte die Tochter später doch noch Malerei studieren, reiste danach acht Jahre um die Welt und wirkt heute wie man sich (früher?) eine Kosmopolitin vorstellt(e). Gleichwohl geht sie in ihren Arbeiten vom Regionalen, Familiären aus.
Wenn sie heute alte Kleidung verwendet, um daraus ästhetische Skulpturen oder Bildartiges zu schaffen, begründet sie dies u. a. mit dem Geist der einstigen Träger, den Geistern der Vergangenheit, von denen etwas daran haftet, auch atmosphärisch.

Übrigens schwärmte sie wie du von Raymond Carver (All of Us: The Collected Poems) und den Büchern Bukowskis, wo sie viel über das Leben gelernt habe. Meine bescheidenen vier Bändchen vom ihm hatten sie in Verzückung versetzt, nebst Sartre und Camus. Dank ihrer Empfehlung las ich Dazai Osamu und Eun Hee-kyung.

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#27

RE: April bis August 2025

in Lektüreliste 25.08.2025 21:07
von Taxine • Admin | 6.742 Beiträge

Zitat von Salin
Wenn sie heute alte Kleidung verwendet, um daraus ästhetische Skulpturen oder Bildartiges zu schaffen, begründet sie dies u. a. mit dem Geist der einstigen Träger, den Geistern der Vergangenheit, von denen etwas daran haftet, auch atmosphärisch.



Ja, das hat sie schön gesagt. Ich bin da ähnlicher Ansicht, wie auch Häuser immer etwas von ihren Bewohnern zurückbehalten, wenn sie verlassen stehen, und gar nichts aussagen, wenn noch keiner in ihnen gelebt hat. Bezogen ist das sicherlich auch auf Banvilles Roman. „Geister“ scheint mir deutlich mehr im Vagen angesetzt, mehr Freiraum zur Interpretation zu bieten, im Sinne, wie echt das alles ist, was diese Menschen auf der Insel dann tatsächlich sind. Ich bin aber noch mitten in der Geschichte und mache mir so meine Gedanken, denn Banville arbeitet mit etlichen Hinweisen, die wohl auch teilweise in die Irre führen sollen.

Von „No Longer Human“ gibt es mittlerweile übrigens auch eine bessere deutsche Übersetzung. Apropos Asiaten und deren Interesse an Europa und Amerika: Bora Chungs Erzählungen waren skurril, aber teilweise auch sehr trivial. Die längste und abschließende Erzählung, die auch eine der besseren war, beschäftigte sich dann ausgerechnet mit dem Holocaust, wobei ich mich dann wieder frage, warum eine Südkoreanerin dieses Thema aufgreift, ob es nicht einige Dinge gibt, die in ihrer eigenen Geschichte und Vergangenheit liegen und erzählt gehören. Ich finde es schade, wenn sich alles immer mehr verwässert, jeder über alles redet und nie richtig oder mit tieferen Kenntnissen. Ähnlich erscheint mir dieser neue Trend an Büchern aus Japan, die den deutschen Buchmarkt überschwemmen. Hier wären z. B. Satoshi Yagisawa mit seinen beiden Romanen über die Buchhandlung Morisaki oder Michiko Aoyama’s „Frau Komachi empfiehlt ein Buch“ zu erwähnen, um die viel Rummel gemacht wird und die nicht mehr als bessere Kinderbücher sind, auch wenn sie wenigstens etwas Lokalkolorit übermitteln. In Japan sind sie Bestseller, in Deutschland auch gut verkauft. Leichte Kost scheint beim heutigen Publikum wieder gut anzukommen.
Han Kang wiederum, die deutlich tiefsinniger ist, wird teilweise kritisiert. Ihre Bücher mag ich alle, weil sie eine ganz eigene Stimme hat, sich dem Makabren widmet und auch immer die Kunst thematisiert. „Weiß“ wiederum ist ganz anders als ihre üblichen Romane. Sie beschreibt weiße Dinge wie Geister, Schnee, Salz, geballte Fäuste, Knochen, Papier, usw., sehr poetisch verknappt, dass der Leser dahinter auch jene weiße Kälte spürt, oder die Reinheit, unter der die tiefschwarze Trauer schimmert. Ist Stille weiß? Das kann man durchaus so sehen und empfinden.




Art & Vibration
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#28

RE: April bis August 2025

in Lektüreliste 26.08.2025 09:42
von Salin • 547 Beiträge

"Eine Stille, weiß wie ein Blatt Papier", schrieb Jenny Erpenbeck in Tand, wohingegen Pessoa meinte: "Stille schwärzte das Dunkel", fast so wie Jorge Volpi im Klingsor-Paradox : "Durch die Stille vertieft sich das Dunkel noch". War ihm jenes Werk Pessoas damals schon bekannt?
Pessoa schrieb aber auch: "Sein Grün war anders, durch und durch Stille." (ebenfalls im Buch der Unruhe) und über "grüne Stille" schrieb später auch Milorad Pavić im Chasarischen Wörterbuch.

Mit der besseren deutschen Übersetzung von No Longer Human meinst du sicher die vor einem Jahr bei Suhrkamp veröffentlichte, zu der ich sogar eine Rezension zu hören bekam. Diese Übersetzung ist aber noch immer die von Jürgen Stalph, die 1997 beim Insel Verlag unter dem Titel Gezeichnet erschien. Seit 2023 wurden mindestens sieben minderwertige Übersetzungen des Romans verlegt, was das Leben für ernsthaft arbeitende Verlage erheblich erschwert.

In Japan gibt es immerhin eine gewisse Tradition für besonders anspruchsvolle Literatur, mit einem Niveau, auf dem ich in den Nachbarländern bislang kaum etwas finden konnte.

Mit Menschenwerk und Unmöglicher Abschied hat sich Han Kang immerhin mit Teilen der eigenen Landesgeschichte beschäftigt, die zuvor nicht überbelichtet waren. Für viele, die dort in den 80ern studierten und protestierten sind diese Themen essentiell, während viele Ältere noch immer auf Diktatoren-Linie sind. Aber immerhin landeten in Südkorea seit den 90ern fünf ehemalige Präsidenten im Gefängnis, wegen Amtsmissbrauch, Korruption, Wahlbetrug oder Schlimmeren.

zuletzt bearbeitet 26.08.2025 14:18 | nach oben springen

#29

RE: April bis August 2025

in Lektüreliste 27.08.2025 10:05
von Taxine • Admin | 6.742 Beiträge

Ach so, ich hatte nur gesehen, dass vom Suhrkamp eine neue Ausgabe herauskam und nahm an, dass das genau aus dem Grund geschah, endlich eine bessere Version zu liefern. Schade. Ich selbst las das Buch auch auf Englisch.

Japan war für mich bisher immer ein Garant für Romane, die mir gefielen. An sich wird es sich um einen Trend handeln, der schnelllebig und damit vergänglich ist. Er war mir nur aufgefallen, weil viele des Lobes voll waren, ich selbst in einem der Bücher nur oberflächliche Lebensratschläge und in den beiden anderen eine seichte Jugendgeschichte vorfand, die ihren Charme lediglich durch den originellen Schauplatz des ältesten Buchviertels in Tokio gewann.


Für den deutschen Buchpreis tippe ich übrigens auf Dimitrij Kapitelmans "Russische Spezialitäten". Das Buch bedient wirklich alle Klischees, die die momentane deutsche Kultur und Politik benötigt.




Art & Vibration
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#30

RE: April bis August 2025

in Lektüreliste 27.08.2025 17:45
von Salin • 547 Beiträge

Bataille: Die Literatur und das Böse
Der Essay zu Emily Brontë wirkt etwas spekulativ, aber warum nicht. Am interessantesten war für mich der eher kritische Beitrag zu Genet.
Da Bataille nicht immer leicht verständlich ist, seien die zahlreichen Chatbots, die hier im Forum Nahrung suchen, gewarnt. Vielleicht auch deshalb ein Nachwort von Gerd Bergfleth von gleich fünfzig Seiten und danach ein weiterer Essay von Daniel Leuwers.

Neben den Texten von Bataille wirkt hier auch das Nachwort von Bergfleth heute wie aus einer anderen Zeit und womöglich wird es deshalb bei den Ausgaben seit 2009 auf Vertriebsplattformen nicht mehr erwähnt, obwohl vorhanden.
Nach Insolvenz des von Axel Matthes geführten Verlages, wurde dieser von neuen Eigentümern mit Sitz im Prenzlauer Berg völlig neu ausgerichtet. Man stelle sich vor, jemand übernimmt Bugatti Automobiles, um anschließend neben einen Altbestand an Bugattis unter derselben Marke auch Citroën zu verkaufen. Genau damit lässt es sich die Ausrichtung der beiden namengleichen Verlage vergleichen. Positiv ist freilich, dass übernommenes Sortiment wie das zu Bataille weiterhin geführt wird, mögen die Verkäufe auch schleppend verlaufen. "Nietzsche und der Wille zur Chance" liefern sie noch immer in der Ausgabe von 2005, eingeschweißt mit dem dazwischen gelegten Gesamtverzeichnis desselben Jahres.

*
Unter anderem weil Gerd Bergfleth dezidiert antipolitisch sein wollte, sich an dionysischer Philosophie wie der Nietzsche, Bataille und Cioran orientierte, sich zu mystische Autoren wie Meister Eckhart und Teresa von Ávila hinwendete und die Frankfurter Schule kritisierte, wird er heute von Linken den "Neuen Rechten" zugeordnet, also "rechtsextrem". Bezeichnend ist etwa der Wikipedia-Artikel zur Zeitschrift "Die Etappe", wo für die Zuschreibung zum Umfeld der 'Neuen Rechten', abweichend von den eigenen Regeln, keine Quelle genannt wird. Noch lustiger, als dass da die Junge Freiheit als vertrauenswürdiges Gewährsblatt verwendet wird, ist die dortige nachfolgende Liste von Namen, die das belegen sollen: "Zahlreiche Artikel der Etappe beziehen sich positiv auf Denker und Schriftsteller wie Friedrich Nietzsche, Vilfredo Pareto, Carl Schmitt, Ernst Jünger, Georges Sorel, Botho Strauß, Panajotis Kondylis u. a."
Der Nachlass des zuerst genannten Nietzsche wurde vor ein paar Tagen offiziell Teil des Weltdokumentenerbe der Unesco. Aber selbst die gegenwärtigeren und somit eigentlich schwerer zu missbrauchenden Botho Strauß und Panajotis Kondylis werden da genannt.

Nach dem Tod von Bergfleth am 20.01.2023 gab es keinen einzigen Nachruf in deutschsprachigen Feuilletons oder Kulturmedien. Da war er längst diskreditiert und aussortiert aus dem arg verengten Spektrum, von denselben Medien, die behaupten tolerant und für eine bunte Gesellschaft zu sein.

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