HirngespinsteAustausch zwischen Literatur und Kunst |
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RE: Martin Heidegger
in Sachen gibt's - Sachbuch 07.10.2011 23:52von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Hallo noch einmal.
Zitat von Roquairol
das finde ich gerade so faszinierend bei Heidegger: Ganz egal, welches Buch von ihm man in die Hand nimmt, was er auf den ersten Seiten schreibt erscheint völlig selbstverständlich, geradezu banal.
Dazu passend Heidegger selbst (S. 55):
Zitat von Heidegger
Solche phänomenalen Vergegenwärtigungen leicht verwischbarer fundamentaler ontologischer Unterschiede müssen ausdrücklich vollzogen werden, selbst auf die Gefahr hin, "Selbstverständliches" zu erörtern. Der Stand der ontologischen Analytik zeigt jedoch, dass wir diese Selbstverständlichkeiten längst nicht zureichend "im Griff" und noch seltener in ihrem Seinssinn ausgelegt haben und noch weniger die angemessenen Strukturbegriffe in sicherer Prägung besitzen.
Wie Heidegger z. B. bei der Rede (Aristoteles) betont hat, kann das, was etwas aufdecken soll, auch ganz leicht etwas verschleiern oder das Eigentliche verzerren. Das, was uns übermittelt wird, kann z. B. Tradition sein, ohne dass wir an den Ursprung zurückgehen. Schnell übernehmen wir und gelangen dahin, wo Kant und auch Descartes in der Betrachtung des Seins "gescheitert" sind, dass Probleme und Problemstellungen gar nicht erst sichtbar werden. Daher muss von Grund auf untersucht werden.
Liebe Grüße
Taxine
Art & Vibration
Hallo,
Zitat von Roquairol
Heidegger kündigt an, Kants schwer verständliche Schematismuslehre durch die Frage der Temporalität zu erhellen (wie gesagt, sollte dies im nichtgeschriebenen zweiten Teil geschehen, deshalb soll es uns hier nicht weiter beschäftigen). Aber, so Heidegger, letztlich ist Kant an der Frage der Temporalität gescheitert, und zwar weil er hier der Tradition verfallen blieb, genauer gesagt der Philosophie Descartes', und zweitens dem "vulgären Zeitverständnis". Aus diesem Grund konnte Kant den entscheidenden Zusammenhang zwischen der Zeit und dem "Ich denke" nicht erkennen.
Kant war immerhin der Erste, der in der Seinsfrage in Richtung der Temporalität gegangen war, offenbar war er nur zurückschauend auf Decartes gerichtet. Dies "Ich denke" Kant aber nicht im Zusammenhang der Zeit sehen konnte. Kant steckte auch zu sehr in der Ontologie der Griechen (Zeitbegriff Aristoteles) und darum nicht Richtungsweise was neues brachte. Das neue, was Heidegger vorbringt, ist eben der Zusammenhang des Sein und der Zeit (bzw. Sein und Zeit sind Eins). Kann man Heideggers Erkenntnisse in der Philosophie deswegen als Revolutionär bezeichnen?
[quote]
Für mich als unbedarfter Laie ist es natürlich schwierig zu erfassen, wie Heidegger auf diese Erkenntnis gekommen ist. Wenn ich sage "Ich bin", wo ist die Zeit? Im ersten Moment bin ich baff, aber du, Roquairol, hast das sehr schön erläutert. Wir identifizieren uns (u.a.) mit unserem Lebenslauf. Warscheinlich ist unser Dasein angefüllt mit Erfahrungen aus der Vergangenheit, die dann unser Dasein, unser inneres Erleben, füllen. Decartes ist wohl nicht auf solche Ideen gekommen. Wird unser Dasein auch von unserer Fantasie erfüllt, oder von unserem jetzigen Erleben?
Zitat von Roquairol
das finde ich gerade so faszinierend bei Heidegger: Ganz egal, welches Buch von ihm man in die Hand nimmt, was er auf den ersten Seiten schreibt erscheint völlig selbstverständlich, geradezu banal. Aber wenn man dann zu Seite 100 blättert, versteht man kein Wort mehr ... Wenn man jedoch kontinuierlich vom Anfang bis Seite 100 liest und die Gedanken Schritt für Schritt nachvollzieht, ist Seite 100 wiederum genauso klar wie Seite 1 ...
(Jaaaa, wunderbar.)
Zitat von Taxine
Schnell übernehmen wir und gelangen dahin, wo Kant und auch Descartes in der Betrachtung des Seins "gescheitert" sind, dass Probleme und Problemstellungen gar nicht erst sichtbar werden. Daher muss von Grund auf untersucht werden.
Ja, sonst bleiben wir in der Sackgasse.
Liebe Grüße
mArtinus
„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
RE: Martin Heidegger
in Sachen gibt's - Sachbuch 08.10.2011 22:26von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Hallo,
Zitat von Martinus
Wir identifizieren uns (u.a.) mit unserem Lebenslauf.
Wir identifizieren uns nicht nur mit unserem Lebenslauf, sondern über unser Leben hinaus mit Geschichte, Welt und ähnlichem. Die Temporalität spielt also immer eine wichtige Rolle. Das ist eine Form, die dem Dasein als Bedingung zu Grunde liegt. (Dazu kommen wir ja noch.)
Was ich bei Heidegger etwas schwierig finde: er umreißt ja vieles schon, warum wir uns wahrscheinlich auch häufiger wiederholen werden. Andererseits vertiefen wir damit umso intensiver.
Und weiter geht's:
Nach den alten Griechen ist Sein als Anwesenheit, also als Gegenwart verstanden. Das Dasein ist das Lebende, das sich durch Redenkönnen bestimmt.
In § 7 erklärt Heidegger ganz klar, was Phänomenologie ist. Dafür holt er weit aus. Sie ist erst einmal Phänomen und Logik, die Wissenschaft von den Phänomenen. Das Phänomen kommt aus dem Griechischen und leitet sich von: sich zeigen ab, „das, was sich zeigt“, das Offenbare. Die Griechen redeten von „an den Tag bringen, ins Helle stellen“, der griechische Stamm ist also Licht, das Helle, woraus sich schließen lässt: „das sich an ihm selbst zeigende“. Die Phänomene sind die Gesamtheit dessen, was am Tage liegt, warum die Griechen auch schlicht „das Seiende“ dazu sagten.
Zitat von Heidegger
„Seiendes kann sich nun in verschiedener Weise, je nach der Zugangsart zu ihm, von ihm selbst her zeigen. Die Möglichkeit besteht sogar, dass Seiendes sich als das zeigt, was es an ihm selbst nicht ist.“
Hier spricht Heidegger von dem Schein. Das Phänomen ist damit das Scheinbare.
Zitat von Heidegger, S. 29
„Nur sofern etwas überhaupt seinem Sinne nach prätendiert, sich zu zeigen, d. h. Phänomen zu sein, kann es sich zeigen als etwas, was es nicht ist, kann es „nur so aussehen wie…“
Auch die Erscheinung gehört in diese Kategorie der Phänomene. Heidegger zeigt, wie unterschiedlich Schein, Erscheinung, Offenbares sind. Zum Beispiel tritt die Erscheinung eines Seienden auch hin und wieder nur als Merkmal eines anderen Seienden auf, worüber das eigentliche Seiende erkannt werden kann. Es zeigt sich also nicht, ist nicht das Offenbare. Erscheinung ist damit nicht sichtbar. Heidegger nimmt das Beispiel „Krankheitserscheinung“. Die Krankheit selbst ist nicht sichtbar, aber an verschiedenen Merkmalen, die z. B. der Körper aufweist oder an Schmerzen und ähnlichem kann man darauf schließen, dass die Krankheit vorhanden ist, ohne sich als sie selbst zu zeigen. Und was sich nicht zeigt, kann auch nicht scheinen. Erscheinen ist darum immer ein Sich-melden durch etwas, was sich zeigt.
Wichtig ist dabei auch zu wissen: Phänomene sind nie Erscheinung, Erscheinungen aber sind angewiesen auf Phänomene.
Wie also die Phänomene vielschichtig gedeutet wurden, fällt auch der Begriff des Logos darunter.
Bei Aristoteles wird die Rede als etwas bezeichnet, das etwas sehen lässt, Verständnis möglich macht. Die Rede enthält also etwas, aus dem geschöpft wird, worüber geredet wird, damit ein Zuhörender das Gesagte begreift.
Eben weil der Logos ein Sehenlassen ist, kann er wahr oder falsch sein.
Zitat von Heidegger, S. 33
Wenn man, wie es heute durchgängig üblich geworden ist, Wahrheit als das bestimmt, was „eigentlich“ dem Urteil zukommt, und sich mit dieser These überdies auf Aristoteles beruft, dann ist sowohl die Berufung ohne Recht, als vor allem der griechische Wahrheitsbegriff missverstanden.
Zum Beispiel ist das Sehen immer „wahr“, das Erkennen von z. B. Farbe, Material oder anderem. Sobald sich aber auf etwas anderes bezogen wird und damit etwas sehenlassen will, besteht sofort die Möglichkeit des Verschleierns und Verdeckens.
So kommt Heidegger dann wohl auch zu seiner These über die apophantische Logik, die bei Aristoteles noch aufdeckt, bei ihm aber bereits Nährboden zur Verschleierung ist, sobald sie von vielen Ansichten angenommen oder durch diese vermittelt wird.
Kurz: Phänomenologie ist für Heidegger die Wissenschaft, die das betrachtet, was sich nicht zeigt, was gegenüber dem, was sich zeigt, verborgen liegt, zugleich aber etwas ist, was wesenhaft enthalten ist (Sinn und Grund ausmacht). Darum ist auch das, was sich verstellt oder verborgen hält (was sogar durch diese Verschleierung gar nicht erst zum Vorschein kommt oder vergessen werden kann), nicht das Sein, sondern immer nur das Sein vom Seienden.
Ontologie ist daher, laut Heidegger, grundsätzlich nur als Phänomenologie möglich (S. 35). Sein muss im Sich-Zeigenden gesucht werden und, noch expliziter, in dem, was sich unter Erscheinung verbirgt, was Verdecktheit, unentdeckt oder verschüttet oder Schein ist.
In § 7 kommt Heidegger auch in seinem Sinne auf die Transzendenz zurück:
Zitat von Heidegger
Sein und Seinsstruktur liegen über jedes Seiende und jede mögliche seiende Bestimmtheit eines Seienden hinaus. Sein ist das tanscendens schlechthin. Die Transzendenz des Seins des Daseins ist eine ausgezeichnete, sofern in ihr die Möglichkeit und Notwendigkeit der radikalsten Individuation liegt. Jede Erschließung von Sein als des transcendens ist transzendentale Erkenntnis. Phänomenologische Wahrheit (Erschlossenheit von Sein) ist veritas transcendentalis.
In den Anmerkungen verweist Heidegger noch einmal darauf, dass es nicht um Metaphysik geht, wenn von Transzendenz die Rede ist, sondern um das Sein, das das Seiendes überdacht – also über dieses hinausgeht. Transzendenz ist das Ereignis des Seienden als das Ekstatische von Temporalität, Zeitlichkeit usw., gesehen als Horizont.
Erste Gedanken zu Kapitel 1
Wie wir ja bereits gesehen haben ist das Seiende wir selbst. Das Sein dieses Seienden ist je meines (Jemeinigkeit). Im Sein dieses Seienden verhält sich dieses selbst zu seinem Sein. Dasein ist dabei je seine Möglichkeiten.
Zu-Sein ist wiederum die Bestimmung des Seienden, das es zu sein hat. Das Was-Sein (essentia) dieses Seienden muss aus seinem Sein (existentia) begriffen werden. Existenz ist also Seinsbestimmung, existentia lediglich Vorhandensein.
Daraus folgt: das Wesen des Daseins sind nicht seine Charaktereigenschaften, sondern sein So-Sein, seine ihm mögliche Art zu sein.
Zwei Seinsmodi gibt es: Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit. Das sind zwei wichtige Modi, die sich in der Jemeinigkeit vereinen. Beide meinen nichts, was dem anderen gegenüber positiv oder negativ betrachtet werden soll. Eigentlichkeit ist einfach das Seiende als eigenständig, selbstbestimmend, Uneigentlichkeit das Seiende im Fluss der Welt, Gesellschaft, Gewohnheit und Traditionen, also die eigentliche Grundbedingung des Daseins.
Auch zum Leben sagt Heidegger noch einmal, dass es zwar eigene Seinsart im Dasein ist, nicht aber das Dasein selbst oder ein pures Vorhandensein. Dasein ist gleichfalls nicht Leben.
So, das erst einmal,
liebe Grüße
Taxine
Art & Vibration
Hallo,
Heideggers Erläuterungen über die Phänomene sind für mich ein exemplares Beispiel dafür, warum Heideggers Ausdruckweise so schwer ist. Da wird seitenlang erzählt, hin und her, und letzten Endes, bin ich nicht klüger geworden. Das liegt auch daran, dass ich bei diesem Trockengerüst überhaupt keine Fantasie entwickeln kann wie z.B. in der Romanliteratur. Von der griechischen Übersetzung her, ist es ganz einfach: die Erscheinungen, das Offenbarte u. ä.
Aber dann dies (also ich zitiere mal Taxine, ist jetzt ähnlich schwer wie Heidegger selbst):
Zitat von Taxine
Kurz: Phänomenologie ist für Heidegger die Wissenschaft, die das betrachtet, was sich nicht zeigt, was gegenüber dem, was sich zeigt, verborgen liegt, zugleich aber etwas ist, was wesenhaft enthalten ist (Sinn und Grund ausmacht). Darum ist auch das, was sich verstellt oder verborgen hält (was sogar durch diese Verschleierung gar nicht erst zum Vorschein kommt oder vergessen werden kann), nicht das Sein, sondern immer nur das Sein vom Seienden.
Ist es wirklich so zu verstehen, dass für Heidegger Phänomenologie das ist, was betrachtet wird, was man aber nicht wahrnehmen kann? Meint er vielleicht die Zeit? (Jetzt verstehe ich, warum die Griechen ncht darauf gekommen sind ). - Es ist wesenhaft enthalten und dann verstehe ich aber nicht "nicht das Sein, sondern immer nur das Sein vom Seienden."
Die Erläuterungen zur Transzendenz verstehe ich auch nicht. Es kommt mir wirklich so vor, wie ein durch ein Fleischwolf gedrehter Kauderwelsch. Ich verstehe fast gar nicht, dass das irgendein Mensch so was verstehen kann. Mir fehlen warscheinlich ein paar tausend synaptische Verbindungen.
Liebe Grüße
mArtinus
„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
RE: Martin Heidegger
in Sachen gibt's - Sachbuch 08.10.2011 23:25von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Hehe... ja, ist alles nicht so leicht.
Nein, nicht das, was man nicht wahrnehmen kann, sondern das, was sich anders zeigt, als es eigentlich ist. Wenn die Griechen dachten, Phänomen ist das Sichtbare, zeigt Heidegger eben, das Sichtbares auch Schein ist oder wenn es gar nicht sichtbar ist, trotzdem erscheinen, mittels anderem Seienden auf sich verweisen kann. Das ist bei vielen Bedingungen der Fall.
Ich vereinfache es einmal ganz erheblich: Betrachte es z. B. in Hinblick darauf, was schon erkannt ist, was aber, wenn man genauer hinsieht, gar nicht richtig benannt ist. Wir hatten ja z. B. das Sein. Es ist Selbstverständliches, das sich anhand von Bedingungen erklärt, die gar nicht über das zu Erklärende hinausreichen, sich also nur mit dem Zu-Erklärenden ausdrücken, was sich dann notwendig im Kreis dreht*. Darum steht es fest, wird nicht mehr hinterfragt, verbirgt sich also. Das, was also als Wissen vorhanden ist, verdeckt das, was ist, verweist aber gleichzeitig darauf, dass dort etwas ist. Das Sein, wie wir es kennen, ist also Erscheinung, hinter dem sich etwas anderes verbirgt, was nicht benannt ist, aber darum, weil es feststeht, überhaupt überprüft werden kann.
Da aber z. B. das Sein etwas voraussetzt, weil es ja ist, jedoch nur durch Festlegung, Selbstverständlichkeit, Tradition übermittelt wurde und damit immer noch verschleiert, vergessen, verborgen liegt, geht die Phänomenologie Heideggers tiefer, wirft alles über den Haufen, was bekannt ist und beginnt von vorne. Wir müssen also hinterfragen, was hinter dem liegt, was wir bereits wissen.
Das ist natürlich nur ein Beispiel. (Die Zeit spielt später auch noch eine wichtige Rolle, klar.)
Darum kann uns auch das Dasein erst einmal in seinem Sein von Seiendem erscheinen, weil wir es ja in diesem Sinne hinterfragen. Das Sein vom Seienden sind all die Bedingungen, die das Dasein letztendlich dann ausmachen werden.
Zur Transzendenz Heideggers kommen wir noch viel ausführlicher, nur keine Sorge. Du musst dir nur vorstellen, dass das Dasein oder du selbst nie nur du selbst bist (als ein Moment), sondern dich immer über Zukunft und Vergangenheit bestimmst. Wenn du einen nächsten Schritt machen willst, gehst du erst einmal in die Zukunft und setzt dir ein Ziel (spekulativ), um überhaupt einen Schritt gehen zu können oder dir etwas vorzunehmen, gehst du in die Vergangenheit, also bedienst dich deiner Erfahrungen. Dieses Hin und Her ist Transzendenz, die über dich hinausführt. Du bist also nie nur in der Gegenwart, in einem Jetzt-Moment. Das Gleiche gilt für die Welt. Du bist immer "in ihr", als Bedingung des Daseins. Damit gibt es schon einmal keine Trennung zwischen dir und der Welt.
Na, das wird alles noch viel ersichtlicher.
Liebe Grüße
Taxine
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* (Das ist dann so, als ob du sagst: Im Seienden zeigt sich die Welt. und damit behauptest, die Welt erklärt zu haben. Zum Teil tust du es tatsächlich, aber sagst eben nicht, was die Welt ist.)
Art & Vibration
Das mit der Tranzendenz habe ich jetzt gut verstanden, dankeschön. Da gibt es jetzt ein Problem: Wenn Buddhisten üben im "Hier und Jetzt" zu leben, und dabei aber aber einen Schritt in die Zukunft tun und aus der Vergangenheit schöpfen. Was ist denn das? Deinen Absatz über die Phänomene studiere ich morgen. Das dauert länger.
„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
RE: Martin Heidegger
in Sachen gibt's - Sachbuch 09.10.2011 00:07von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Die Buddhisten stehen doch eigentlich vor dem gleichen Problem. Der Mensch (das Dasein) tendiert* zum Pendeln zwischen Zukunft und Vergangenheit. Der Buddhist versucht, diese Bedingungen mit Geistleerung und Meditation durch das Hier und Jetzt auszugleichen. Es ist also eine Übung. Da sehe ich keinen Widerspruch. Heidegger geht ja von der Grundbedingung aus.
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* (eigentlich macht es ihn tatsächlich aus.)
Art & Vibration
RE: Martin Heidegger
in Sachen gibt's - Sachbuch 09.10.2011 12:51von Roquairol • 1.072 Beiträge
In § 7 benennt Heidegger seine Methode: die Phänomenologie. Es ist sehr wichtig, diese phänomenologische Grundlegung nicht aus dem Auge zu verlieren - viele Mißverständnisse und Fehlinterpretationen können daraus entstehen, denen sogar Professoren unterliegen. Ich erinnere mich noch an heftige Diskussionen an der Uni, besonders mit einem Studenten, der ständig darauf pochte, daß Heidegger "hinter Kant zurückfallen" würde. Er hatte einfach die philosphiegeschichtliche Entwicklung von Kant zur Phänomenologie nicht verstanden. Kant hatte festgestellt, daß der Mensch das Ding an sich nicht erkennen kann, sondern daß alles, was er mit seinen Sinnen wahrnehmen kann, nur Erscheinungen sind. - Nach dem ersten Schock entdeckten die Philosophen dann aber, daß sie deshalb noch nicht ihre Arbeit einstellen mußten: Wenn der Mensch das Ding an sich nicht erkennen kann, dann spielt es im Leben des Menschen auch keine Rolle, wir leben in einer Welt der Erscheinungen, aus der die Frage nach dem Ding an sich einfach ausgeklammert werden kann. Genau dies tut die Phänomenologie.
Wenn Heidegger also von "Wahrheit" spricht, meint er damit nicht im kantianischen Sinne eine Wahrheit, die das Ding an sich erkennen würde. Er meint eine phänomenologische Wahrheit.
Heidegger führt den Begriff "Phänomenologie" auf seine beiden griechischen Bestandteile "phainomenon" und "logos" zurück.
"phainomenon" wird zurückgeführt auf das Verb für "sich zeigen" und bedeutet "das Sich-an-und-durch-sich-selbst-zeigende". Die Phänomene sind das offen zu Tage liegende Seiende. Heidegger weist ausdrücklich die verbreitete Übersetzung "Erscheinung" (und damit auch den kantianischen Begriff) zurück - eine Erscheinung ist gerade etwas, was sich nicht zeigt. Er verweist auf das Beispiel der Krankheitserscheinungen: Hierin meldet sich etwas (die Krankheit), was sich gerade nicht zeigt. Phänomene sind also keine Erscheinungen, aber Erscheinungen sind angewiesen auf Phänomene.
"Logos" führt Heidegger auf die Grundbedeutung "Rede" zurück. Er versteht "Rede" aber nicht im Sinne von "urteilen", sondern (unter Berufung auf Aristoteles) im Sinne von "sehen lassen". Ein der griechischen Vorstellung von Wahrheit (aletheia) entsprechender logos enthüllt, wovon die Rede ist, während ein falscher logos es verdeckt. Dies ist ein grundlegender Unterschied zum gängigen modernen Wahrheitsbegriff, der als Übereinstimmung von Begriff und Gemeintem verstanden wird.
Daraus folgt weiter, daß der logos (im Sinne von "Urteil") gar nicht der eigentliche "Ort" der Wahrheit ist, sondern nach dem griechischen Wahrheitsverständnis war dies die "aísthesis", die sinnliche Wahrnehmung. Was die Wahrnehmung "entdeckt", ist "wahr" - sie kann überhaupt nicht "falsch" sein, sondern höchstens unzureichend.
Als weitere Bedeutungen von "logos" werden dann noch kurz "Vernunft", "Grund" und "Verhältnis" entwickelt.
Die Zusammensetzung aus "phainomenon" und "logos", das Wort "Phänomenologie" - es wird von Heidegger übersetzt mit "sehen lassen, was sich von sich selbst her zeigt", was dasselbe sei wie die Husserlsche Maxime "Zu den Sachen selbst!"
Phänomenologie ist keine Wissenschaft wie die anderen, die auch auf "-logie" enden. Sie sagt nur "wie", aber nicht "was" in dieser Wissenschaft behandelt wird.
Es folgt nun ein kritischer Punkt in Heideggers Argumentation, nämlich der Punkt, in dem er sich von der husserlschen Phänomenologie unterscheidet (und bei dem ihm ein Phänomenologe widersprechen würde): Heidegger fragt, was denn eigentlich die Phänomenologie "sehen lassen" soll. Einen normalen Schuh einfach als solchen Schuh sehen zu lassen, ergibt philosophisch wenig Sinn. Es geht darum, gerade das sehen zu lassen, was sich meistens nicht zeigt, was verborgen ist - nämlich das Sein des Seienden. Demnach ist die Phänomenologie die Methode der Ontologie. Und von ihrem sachlichen Inhalt her gesehen ist die Phänomenologie immer Ontologie (sagt Heidegger ...)
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RE: Martin Heidegger
in Sachen gibt's - Sachbuch 11.10.2011 14:19von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Dasein ist In-der-Welt-Sein. Heidegger unterscheidet: „in der Welt“, das "Seiende" und „das In-Sein" (auf dieses kannst du ja noch einmal ausführlicher zurückkommen, Roquairol, ich versuche es so zusammenzufassen, wie ich es verstanden habe, allerdings bin ich mir nicht ganz sicher, ob ich damit alles begriffen habe).
Das Seiende bezieht sich immer auf ein „Wer“ oder „Was“. In-Sein meint nicht etwa Geist, der in der Welt ist oder Seele, die in den Körper eintritt. „Sein bei“ ist ein Existenzial von In-Sein. Die Tatsächlichkeit eines Daseins, also die "Faktizität" ist die einfache Bezeichnung für die Voraussetzung des Daseins, als Seiendes in seinem Geschick verhaftet zu sein.
In-der-Welt-Sein ist die Voraussetzung, dass Dasein ist. Das meint nicht nur, dass ein Dasein in der Welt ist, sondern auch, dass es immer mit der Welt in Verbindung steht. Alles, was als Rückzug, Selbstbestimmung, Unabhängigkeit und die darauffolgende Rückkehr (in die "Welt") bezeichnet wird, ist lediglich ein Aspekt dieser Voraussetzung, in der Welt zu sein. Das verweist darauf, dass wir uns der Welt niemals entziehen können, sie immer in Verbindung mit uns steht.
Dagegen können sich weltlose Seiende, wie z. B. Gegenstände, die keine Verbindung zur Welt haben und sich ihrer selbst auch nicht bewusst sind, nicht auf sich selbst beziehen, einander in der Welt daher auch nie berühren. (Das fand ich besonders interessant und musste auch ziemlich lange darüber nachgrübeln, was Heidegger damit meint.) Wenn wir sagen, ein Tisch steht an der Wand und berührt sie, dann ist das nicht richtig. Nicht, weil immer noch Zwischenraum herrscht, sondern weil zwischen Wand und Stuhl keine Verbindung besteht, die Wand für den Stuhl vorhanden sein müsste, um ihn tatsächlich zu berühren. Sie stehen daher zwar (jeder) für sich einander gegenüber oder nebeneinander, berühren können sie sich allerdings nie. Berühren kann sich daher nur, was auf einander Beziehung und Wirkung hat. (Stimmt das so, Roquairol?)
Auch spricht Heidegger davon, dass Dasein niemals die Welt hat, also In-der-Welt etwas mit der Umwelt zu tun hat, die einen Mensch "hat", in der er sich befindet. Sie umgibt ihn. Welt kann den Menschen aber nicht umgeben, sondern er ist in ihr. Daher sind Natur, Umwelt und ähnliche Dinge nicht die Welt.
In der Welt sein bedeutet Besorgen, Sorge.
Die Sorge wird hier nicht als Mühsal, Trübsinn, Lebenssorge aufgefasst, sondern kommt
1) von besorgen = sich etwas beschaffen
2) von besorgen = etwas ausführen, erledigen, ins Reine bringen
3) von (be)sorgen = befürchten.
Dasein ist Sorge. Die Begegnung mit Welt, die Struktur ist Sorge, kann sowohl die aufgeführten Bedingungen heißen, aber auch Sorglosigkeit und Heiterkeit. Dasein wird ontologisch als Sorge verstanden.
In-Sein ist die Voraussetzung, dass ein Dasein sich begreift, weiß, das es ist und sich selbst deutet. Das kann über gleiche Bedingungen, aber auch über etwas sein, was es selbst nicht ist, was ihm aber in der Welt begegnet. Es vergleicht und bezieht auf sich, alles, was ihm begegnet.
Im Dasein selbst und für es ist diese Seinsverfassung immer schon bekannt. (Ich bezeichne es als eine Art Vor-Verständnis, um es mir begreiflicher zu machen.) Da es sich selbst erkennt, kann es auch die Welt erkennen. Das ist eine der Bedingungen des Daseins. Die eigentlichen Akte, um die Welt zu erkennen oder auf sich umzudeuten, sind dagegen nicht sofort begriffen. Erkennen ist erst einmal nur Beziehung zu oder Gefühl.
Darum gilt:
Zitat von Heidegger, S. 59
Weil nun aber diese Seinsstruktur ontologisch unzugänglich bleibt, aber doch ontisch erfahren ist als „Beziehung“ zwischen Seiendem (Welt) und Seiendem (Seele), (…) wird versucht, diese Beziehung zwischen den genannten Seienden auf dem Grunde dieser Seienden und im Sinne ihres Seins, d. h. als Vorhandensein zu begreifen.
Liebe Grüße
Taxine
Art & Vibration
RE: Martin Heidegger
in Sachen gibt's - Sachbuch 12.10.2011 21:31von Roquairol • 1.072 Beiträge
Ich mache mal langsam weiter, überspringe § 8, der einen Gesamtüberblick gibt (interessant in Hinsicht der fehlenden Teile - SuZ ist ja ein "Fragment") und gehe zu § 9:
"Jemeinigkeit" ist ein wichtiger Punkt. Wir haben es hier mal wieder mit einem merkwürdigen, von Heidegger erfundenen Wort zu tun - ein Wort für ein Etwas, für das es noch kein Wort gab. Es bezieht sich darauf, daß ich, wenn ich über das Dasein nachdenke, jeweils mein eigenes Dasein denke. Und Martinus denkt je sein Dasein, usw.
Das wirft ein neues Licht auf früher Gesagtes: Wir hatten festgestellt, daß "Dasein" in Heideggers Terminologie den Menschen bezeichnet. Die Jemeinigkeit zeigt nun, daß das Dasein nicht "den Menschen" als allgemeines oder abstraktes Wesen meint - sondern "Dasein" meint jeweils "mich selbst", "mein eigenes Sein".
Die Formulierung "Zu-sein" weist zurück auf S. 12, wo es hieß, das Wesen des Daseins liege darin, "daß es je sein Sein als seiniges zu sein hat." Diese Eigenheit also, daß das Dasein nicht einfach "ist", sondern "zu sein hat", bezeichnet Heidegger als "Zu-sein". Hierin liegt auch das "Wesen" des Daseins. Seit der Antike wurde unterschieden zwischen dem "Wesen", der "essentia", die besagt, was etwas ist, und dem Sein, der "existentia", das besagt, daß etwas ist. Für Heidegger fallen diese beiden Begriff nun zusammen: Das Wesen ist die Existenz. Da sein Begriff "Existenz" aber nur für den Menschen gilt, fällt er nicht mit "existentia" zusammen. Diesen lateinischen Begriff übersetzt Heidegger mit "Vorhandenheit".
§ 9 hat es wirklich in sich: Heidegger haut uns einen neuen Begriff nach dem anderen um die Ohren ... Es geht gleich weiter mit der Unterscheidung zwischen "Eigentlichkeit" und "Uneigentlichkeit":
Mein Dasein ist eine Möglichkeit. Es hat nicht Möglichkeiten als zusätzliche Attribute, sondern es ist in seinem Wesen eine Möglichkeit. Es ist eine Möglichkeit, die ich ergreifen und wählen kann, die ich aber ebenso verlieren kann. Die Möglichkeit meines Daseins zu wählen bedeutet, das zu ergreifen, was mein Dasein eigentlich ist. Dies wäre also die "Eigentlichkeit" - das eigentliche Dasein zu verlieren wäre die "Uneigentlichkeit".
Ohne praktische Beispiele (die folgen später im Text) erscheint dies etwas sehr abstrakt und schwer verständlich. Wie kann ich denn ein Dasein wählen, das nicht mein (eigentliches) Dasein ist?
Der entscheidende Punkt ist die "Jemeinigkeit": Ich muß mir immer darüber im Klaren sein, daß mein Dasein tatsächlich je mein eigenes Dasein ist, und daß ich deshalb unmittelbar vor meinen eigenen Möglichkeiten stehe - die Wahl wird mir nicht abgenommen von anderen Menschen oder von irgendeiner anderen Macht. Der (meistens unreflektierte) Verzicht auf diese Wahl (ich "mache halt irgendwas mit, weil die anderen es auch machen") ist der Fall in die Uneigentlichkeit. Mein Dasein ist dann natürlich weiterhin "mein" Dasein - nur ist es dann ein uneigentliches Dasein.
Ich denke, den Rest von § 9 können wir jetzt knapp zusammenfassen:
Das Dasein soll in seiner durchschnittlichen Alltäglichkeit analysiert werden. Es geht bei der Seinsanalyse also nicht um Extremsituationen (wie bei Jaspers).
Dann führt Heidegger noch den Begriff der "Existenzialien" ein. Dies bezeichnet "Seinscharaktere des Daseins" und entspricht dem, was in der Philosophie sonst als "Kategorien" bezeichnet wird, nur hier speziell auf das Dasein angewandt. Wir müssen diesen Begriff "Existenzial" gut im Gedächtnis behalten, weil er im Buch immer wieder auftauchen wird.
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Hallo,
es ist jetz das dritte mal, dass ich den §9 durchgehe.
Zitat von Heidegger
Das Sein dieses Seienden ist je meines
Es ist doch so, dass Heidegger aus "je meines" das Substantiv "Jemeinigkeit" schafft. Ist das richtig? "Je meines" ist also etwas, das zu mir gehört.
Zitat von Roquairol
"Jemeinigkeit" ist ein wichtiger Punkt. Wir haben es hier mal wieder mit einem merkwürdigen, von Heidegger erfundenen Wort zu tun - ein Wort für ein Etwas, für das es noch kein Wort gab. Es bezieht sich darauf, daß ich, wenn ich über das Dasein nachdenke, jeweils mein eigenes Dasein denke. Und Martinus denkt je sein Dasein, usw.
"Jemeinigkeit" ist also nicht identisch mit meinem "Dasein", sondern es bezeichnet nur das Denken über mein Dasein. Das Dasein selbst ist aber immernoch Wilbers Quadrant oben links, mein Innenleben. Wenn es sich so verhält, habe ich es verstanden.
Zitat von Roquairol
Diese Eigenheit also, daß das Dasein nicht einfach "ist", sondern "zu sein hat", bezeichnet Heidegger als "Zu-sein".
Es hat zu sein, denn einen Menschen ohne Dasein gibt es nicht. Logisch. Das Wesen wird nun die Existenz sein, so nehme ich an, weil der Mensch sich mit seinem inneren Dasein identifiziert, darum das Dasein existentiell ist. Darum ist der Mensch auch vorhanden (Existenz = Vorhandenheit).
Die beiden Seinscharaktere sind "Wer" (Existenz) und "Was" (Vorhandenheit), so lese ich das auf Seite 45. Aber da Existenz und Vorhandenheit das gleiche sind, dürfte es doch nur einen Seinscharakter geben. Wie ist das zu verstehen?
Liebe Grüße
mArtinus
„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
RE: Martin Heidegger
in Sachen gibt's - Sachbuch 14.10.2011 17:44von Roquairol • 1.072 Beiträge
Zitat von Martinus
Es ist doch so, dass Heidegger aus "je meines" das Substantiv "Jemeinigkeit" schafft. Ist das richtig? "Je meines" ist also etwas, das zu mir gehört.
Jemeinigkeit besagt, dass das Dasein "je meines", also das konkrete Dasein des Lesers ist, und nicht irgendein abstrakter Allgemeinbegriff.
Zitat
"Jemeinigkeit" ist also nicht identisch mit meinem "Dasein", sondern es bezeichnet nur das Denken über mein Dasein.
Es bezeichnet eine Eigenschaft des Daseins.
Zitat
Es hat zu sein, denn einen Menschen ohne Dasein gibt es nicht. Logisch. Das Wesen wird nun die Existenz sein, so nehme ich an, weil der Mensch sich mit seinem inneren Dasein identifiziert, darum das Dasein existentiell ist. Darum ist der Mensch auch vorhanden (Existenz = Vorhandenheit).
Die beiden Seinscharaktere sind "Wer" (Existenz) und "Was" (Vorhandenheit), so lese ich das auf Seite 45. Aber da Existenz und Vorhandenheit das gleiche sind, dürfte es doch nur einen Seinscharakter geben. Wie ist das zu verstehen?
Liebe Grüße
mArtinus
Dass der Mensch "zu sein hat", bedeutet, dass er nicht einfach wie eine Pflanze vegetiert, sondern (einfach schon durch sein Bewusst-sein) gezwungen ist, sich zu seinem Sein zu verhalten. Ein Stein "ist" einfach, ein Mensch aber "hat zu sein" - manche halten gerade dies nicht aus und beenden ihr Sein durch Selbstmord. Kritiker werfen Heidegger aus diesem Grund auch vor, seine Philosophie sei pessimistisch, quasi depressiv ... Aber die Konfrontation mit dem eigenen Sein muss ja nun nicht notwendigerweise zu Depressionen führen - zunächst bedeutet es einfach nur die Tatsache, dass das Sein für den Menschen in jedem Moment eine Aufgabe darstellt. Erst wenn er vor den einfachsten Aufgaben scheitert (und z.B. morgens gar nicht mehr aufsteht) ist er depressiv ...
Existenz und Vorhandenheit ist nicht dasselbe. Heidegger schreibt:
Zitat
existentia besagt nach der Überlieferung ontologisch soviel wie Vorhandensein, eine Seinsart, die dem Seienden vom Charakter des Daseins wesensmäßig nicht zukommt. Eine Verwirrung wird dadurch vermieden, daß wir für den Titel existentia immer den interpretierenden Ausdruck Vorhandenheit gebrauchen und Existenz als Seinsbestimmung allein dem Dasein zuweisen. (S.42)
Das bedeutet, dass der Begriff "existentia" in der philosophischen Tradition Vorhandensein bedeutet - dass Heidegger den Begriff "Existenz" aber gerade nicht in diesem Sinne verwendet - weil Existenz nur zum Dasein gehört, Dasein aber etwas anderes als Vorhandensein ist!
§ 10 brauchen wir nicht zu vertiefen. Wie der Titel schon sagt, grenzt Heidegger seine Daseinsanalyse hier gegen Anthropologie, Psychologie und Biologie ab. Die genannten Wissenschaften beschäftigen sich ja auch auf sehr grundlegende Weise mit dem Menschen, aber Heideggers Herangehensweise ist vollkommen anders, was schon dadurch zum Ausdruck kommt, dass er vom "Dasein" anstatt vom "Menschen" redet.
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RE: Martin Heidegger
in Sachen gibt's - Sachbuch 16.10.2011 23:16von Roquairol • 1.072 Beiträge
§ 11: Es ist schon bezeichnend, daß Heidegger sich so vehement gegen die Gleichsetzung von "Alltäglichkeit" und "Primitivität" wehrt. Dies war seinerzeit wohl noch nötig, weil die deutschen Philosophen sich von der Alltäglichkeit möglichst fern hielten und einen Kollegen, der sich damit beschäftigen wollte, als höchst suspekt betrachteten ... Heute ist die Situation völlig anders, nachdem philosophische Strömungen wie der Pragmatismus oder die analytische Philosophie prinzipiell Beispiele aus dem Alltag behandeln.
Man kann Heideggers komplizierte Sprache unter diesem Gesichtspunkt auch als raffinierten Trick betrachten, um die von seinen Kollegen verachtete Alltäglichkeit in die akademische Philosophie hineinzuschmuggeln: Was so schwer zu verstehen ist, muss akademischer Weihen würdig sein, auch wenn es "eigentlich" ganz einfach ist .... (In diesem Zusammenhang fällt mir dann gleich wieder die interessante These ein, "Sein und Zeit" sei in Wirklichkeit von Heideggers Bruder Fritz geschrieben worden, dem stotternden Sparkassenangestellten und Fastnachtsredner in Meßkirch ...)
Damit haben wir einen großen Schritt geschafft, alle Einleitungen, Abgrenzungen, Begriffsdefinitionen usw. hinter uns gelassen, und mit dem nächsten Paragraphen beginnt endlich die konkrete Seinsanalyse.
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RE: Martin Heidegger
in Sachen gibt's - Sachbuch 17.10.2011 17:57von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Zitat von Roquairol
Heute ist die Situation völlig anders, nachdem philosophische Strömungen wie der Pragmatismus oder die analytische Philosophie prinzipiell Beispiele aus dem Alltag behandeln.
Selbst Sartre wäre ohne seine Beispiele anhand seines Alltags gar nicht denkbar.
Nach Heidegger ist Alltäglichkeit die Voraussetzung jedes Daseins, über die das Seiende erst definiert werden kann. Das bringt die philosophischen Höhen tatsächlich auf den Boden der Tatsachen zurück, dorthin, wo es eigentlich wichtig und notwendig ist, um das Dasein, den Menschen zu begreifen.
Noch einmal zurück zum In-Sein: In-Sein ist also die Seinsverfassung des Daseins. Herkömmlich verstehen die Philosophen darunter das Verhältnis vieler Seiender zueinander in einem Raum, als ihr In-einander-Sein wie z. B. der Tisch im Zimmer, das Zimmer im Haus, das Haus in der Straße, die Straße in der Stadt usw. All das sind innerhalb der Welt vorkommende Dinge. Heidegger spricht allerdings von In-Sein als einen "Ausdruck des Seins des Daseins, das die wesenhafte Verfassung des In-der-Welt-seins hat". „Sein bei“ ist dabei ein Existenzial von In-Sein und trifft auf weltlose Gegenstände nicht zu, da sie sich nicht berühren können. "Sein bei" meint also kein Beisammensein der vorhandenen Dinge. Und an diesen Beispielen wird dann auch Roquairols Erklärung anwendbar:
Zitat von Roquairol
Das bedeutet, dass der Begriff "existentia" in der philosophischen Tradition Vorhandensein bedeutet - dass Heidegger den Begriff "Existenz" aber gerade nicht in diesem Sinne verwendet - weil Existenz nur zum Dasein gehört, Dasein aber etwas anderes als Vorhandensein ist!
Vorhandene (weltlose) Dinge können nicht in ihrer Vorhandenheit und auch nicht im "In-Sein" (bzw. "Sein bei") betrachtet werden. Das gilt nur für das Dasein. Dasein ist Existenz, damit tatsächliches Vorhandensein - Tatsächlichkeit unterscheidet sich wiederum vom tatsächlichen Vorkommen eines Steins - und wird von Heidegger als "Faktizität" bezeichnet, ein In-der-Welt-sein eines "innerweltlichen" Seienden, das sich als in seinem "Geschick" verhaftet verstehen kann und in der Verbindung mit dem Sein des Seienden, das ihm in der Welt begegnet. Ein Stein weiß nicht, dass er Stein und in der Welt ist. Ein Mensch weiß, dass er in der Welt ist und in ihr mit anderem Seienden in Verbindung steht.
Liebe Grüße
Taxine
Art & Vibration
RE: Martin Heidegger
in Sachen gibt's - Sachbuch 17.10.2011 21:34von Roquairol • 1.072 Beiträge
Zitat von Taxine
Noch einmal zurück zum In-Sein:
Taxine macht Druck und ich folge ...
2. Kapitel:
Dasein ist In-der-Welt-sein. Gelegentlich wird Heidegger vorgeworfen, seine "Jemeinigkeit" wäre eine Art Solipsismus. Dagegen ist zu sagen: Natürlich ist das Dasein je-meinig, es wäre absurd, dies bestreiten zu wollen: Ich erlebe je mein Dasein und nicht das von Martinus, ich sehe die Welt durch meine Augen und nicht durch die von Taxine. Aber dies bedeutet dennoch nicht, daß ich als isoliertes Ich auf der einen Seite stehe und die "Welt" mir gegenüber. Nein, das Dasein ist immer schon In-der-Welt-sein, dies ist seine Seinsverfassung - das bedeutet, es ist nicht einerseits Dasein und dann noch zusätzlich In-der-Welt-sein, sondern Dasein ist immer In-der-Welt, was a priori zu seinem Sein dazugehört. Zur "Welt" gehören natürlich auch die anderen Menschen, weshalb das solipsistische Gedankenexperiment, ich wäre vielleicht das einzige denkende Subjekt und die ganze Objektwelt außer mir nur Illusion, für Heidegger absurd ist - das Dasein wird in diesem Denken völlig verfehlt.
Es soll nun im Detail untersucht werden, was "In-der-Welt-sein" bedeutet. Dazu werden seine drei Bestandteile untersucht: "Welt", das "Seiende", und das "In-sein" - wobei jedoch nie aus den Augen verloren werden soll, daß das "In-der-Welt-sein" letztlich ein einheitliches Phänomen ist und diese Dreiteilung nur zum Zweck der Analyse unternommen wird
Zunächst geht es um das In-Sein (genauer gesagt nicht um "In-Sein" generell, sondern um "In-Sein" in der Welt). Heidegger stellt klar, daß es sich hier nicht um das übliche räumliche Verhältnis handelt, "das Wasser ist im Glas" oder "ich bin im Haus": Da ist das "In-Sein" eine Kategorie und bezieht sich auf Dinge (bzw. auf den Menschen als räumlichen Körper). Heideggers In-Sein ist aber keine Kategorie, sondern ein Exitenzial. Deshalb beschreibt die Aussage "das Dasein ist in der Welt" kein räumliches Verhältnis, sondern es bedeutet: Das Dasein ist vertraut mit der Welt.
Warum ist "In-sein" = "Vertraut-sein"?
Es war ja schon klar, daß "In-sein" nicht das räumliche Verhältnis meint. Es meint generell unser "seinsmäßiges" Verhältnis zur Welt. "Welt" (zu Heideggers Welt-Begriff kommen wir später noch im Detail) meint auch nicht das Weltall oder unseren gesamten Planeten, sondern den unmittelbaren "Ort" (nicht nur im räumlichen Sinne) unseres Lebens. Und da finde ich "Vertraut-sein" eine durchaus sinnvolle Charakterisierung. Ich brauche keinen Stadtplan, wenn ich morgens ins Bad gehe - eben weil ich vertraut bin mit diesen Verhältnissen. Und wenn ich aus meiner angestammten Umgebung herausgerissen werde und z.B. in einer anderen Wohnung übernachten muß, ist das charakteristische Kennzeichen dieser Situation, daß ich dort nicht vertraut bin.
Heidegger geht vom Alltag aus, und nicht von Ausnahmesituationen. Wer sich in einer völlig unvertrauten Umgebung wiederfindet (z.B. Flüchtlinge), ist aber gerade deshalb in einer exitenziellen Ausnahmesituation.
Ein neugeborenes Baby ist natürlich mit der Welt noch nicht vertraut, sondern muß diese Vertrautheit erst mit der Zeit erwerben. Aber das ist Entwicklungspsychologie und nicht Heideggers Thema - Heidegger geht bei der Daseinsanalyse immer vom Erwachsenen aus.
Heideggers Thesen zum In-sein haben weitreichende philosophische Konsequenzen, vor allem in Bezug auf "Erkenntnis". Es ist nicht nötig, daß ich erst in einem bewußten Akt meine Zahnbürste "erkenne", um mir die Zähne zu putzen. Umgekehrt ist meine ursprüngliche Vertrautheit mit der Welt die Voraussetzung, daß ich überhaupt etwas erkennen kann.
Ein weiterer Begriff wird eingeführt: Die "Faktizität" des Daseins. - "Faktizität" meint das konkrete Vorhandensein des Daseins in der Welt, vor allem unter dem Aspekt, daß es "verhaftet" ist "mit dem Sein des Seienden, das ihm innerhalb seiner eigenen Welt begegnet". Es ist ja nicht nur so, daß der Mensch ein körperliches Wesen ist, sondern er ist in seinem Alltag aufs engste verstrickt in den Umgang mit verschiedenen Dingen.
Es gibt nicht nur ein "In-Sein", sondern verschiedene Weisen des "In-Seins", deren Seinsart Heidegger als "Besorgen" (oder "Sorge") charakterisiert. Dies darf nicht mit dem "sich Sorgen machen" verwechselt werden. Im Detail erläutert Heidegger das Besorgen als "zutunhaben mit etwas, herstellen von etwas, bestellen und pflegen von etwas, verwenden von etwas, aufgeben und in Verlust geraten lassen von etwas, unternehmen, durchsetzen, erkunden, befragen, betrachten, besprechen, bestimmen".
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