HirngespinsteAustausch zwischen Literatur und Kunst |
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Auf Zypresserichs und Roquairols Empfehlung hin lese ich nun:
Peter Handke: Die Angst des Tormanns beim Elfmeter, Suhrkamp Verlag
Und für die liebe Seele liegt dann noch eine Insel - Taschenbuchausgabe über Proust auf meinem Lesetisch:
Proust: Leben und Werk in Texten und Bildern, von Renate Wiggershaus
(In der Joyce Biographie von Richard Ellmann las ich vor kurzem das kleine Kapitelchen über die persönliche "Begegnung" von Proust und Joyce in Paris. Das war dann höchsten Grades - Don Quijotisch. Anders kann ich dieses "Beisammensein" einfach nicht nennen.)
Hallo,
wir haben auch schon einen Handke-Thread
Wenn ich mit Ken Wilbers Buch "Halbzeit der Evolution" durch bin, und auch, so mein Anliegen, darüber noch während meiner Lektüre referiert habe, was sich aufgrund von üblichen Alltagspflichten bishernoch hinauszögert, lese ich auf jedenfall José Saramago: Hoffnung im Alentejo.
Liebe Grüße
mArtinus
„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
Zitat von Martinus
Hallo,
wir haben auch schon einen Handke-Thread
Ja, ne, mir war auch so, als ich die Lesetipps postete. Man hat einfach zu wenig Zeit. Andererseits: was will man noch alles schreiben zu einem, der die Wikipediaseite allein schon mit seinem Werk so platzend füllt.
Im Zusammenhang mit Handke und Patmösers Erwähnung der linkshändigen Frau fiel mir auf, dass ich doch tatsächlich Die linkshändige Frau noch nicht gelesen hatte. Das habe ich heute getan. Die Kids sind fern (teilw. in Ferien), Fußball war auch nicht, da hatte ich doch heute tatsächlich mal wieder Muße. Fast schon erschreckend, endlich mal wieder ein bisschen Zeit für sich zu haben. Puh, uff. Wie schön.
Und ich, statt im Kartenspiel eines Tendrjakow zu bleiben (ist nur aufgeschoben), sitze mitten im Archipel Gulag fest. Ach, Solschenizyn. Ein Hoch auf seinen Mut zu schreiben, auf die Aufklärungsarbeit, die er geleistet hat. Ich bewundere diesen Kampf, den er geführt hat, trotz der ganzen Quälerei in den Lagern. Wenn ich's mal so in den Raum stellen müsste: Der Archipel Gulag ist sein Meisterwerk. Gleich danach kommt (für mich) "Der erste Kreis der Hölle".
Habe auch seinen "Iwan Denissowitsch" noch einmal gelesen, und so im Zug der eigenen (ach so harmlosen) Erlebnisse und gewonnenen Eindrücke, auch in all dem, was man nur noch ahnen kann, muss ich doch revidieren und möchte da behaupten: lebendiger lässt sich so ein Lager(all)tag vielleicht gar nicht schildern. Dieser Drang nach Essen, die Schimpfwörter, das Erfüllen von Aufgaben, um eine Zigarette zu schnorren. Das Buch ist nicht unbedingt gut geschrieben, nicht so schön wie "Krebsstation" oder "Im ersten Kreis der Höhle", aber das soll es wohl auch nicht oder macht, wenn man hineingefunden hat, nichts mehr aus.
Zitat von Solschenizyn
Wo war nur das russische Herz geblieben? Linientreue ist an seine Stelle getreten! Was haben sie doch unserem Volke für eine eiserne und unwiderrufliche Furcht eingejagt, dass es verlernte, sich um die leidenden Menschen zu kümmern.
(Der Archipel Gulag)
Schon der Anfang ist haarsträubend, als er in der Zeitung liest, dass irgendwelche Leute einen tausend Jahre alten und gefundenen Fisch (Triton) MIT GENUSS verspeist hätten. Hier erkennt der Gefangene die anderen Gefangenen, während die normalen Menschen nur fassungslos den Kopf schütteln können.
Wer übrigens mit Solschenizyn nicht warm werden will (), dem sei zu selbigen Thema Lydia Tschukowskaja ans Herz gelegt. Sie blickt aus der anderen Richtung auf die stalinistischen Gräuel, z. B. in "Sofja Petrowna", wo eine Frau lange nicht glauben kann, dass wirklich Unschuldige eingesperrt werden, (alle sind Spione, außer die eigenen Verwandten), bis schließlich ihr Sohn verhaftet wird und ihr ganzes Umfeld auf einmal andere Seiten annimmt. Das stundenlange Anstehen in der Kälte vor den Gefängnissen, um dann nichts zu erfahren, die Hoffnungen und Bittgebete, die Mütter mit Kindern... wahnsinnig gut ins Bild gesetzt.
Die Tschukowskaja hat hier den unglaublichen Mut bewiesen, ihr Manuskript nicht zu verbrennen, "weil es nicht zu verantworten gewesen wäre", wie sie selbst im Vorwort sagt. Ihre Erzählung hat auch einen langen Weg genommen und ist erst sehr spät in Rußland herausgebracht worden. Bis dahin hat der kleine Roman längst Anklang im Ausland gefunden, unter dem Titel "Das leere Haus", wo aus Sofja Petrowna Olga Petrowna wird.
Die Schriftstellerin war eng mit Anna Achmatowa befreundet und hat auch "Aufzeichnungen" über sie verfasst. Sie hat sich überhaupt für etliche Schriftsteller eingesetzt. Ihr Mann wurde zu zehn Jahren Lagerhaft "ohne Recht auf Briefwechsel" verurteilt. Erst viel später erfuhr sie, dass diese Bezeichnung eine Formel für "Erschießen" war, was wiederum in ihren anderen, kleinen Roman "Untertauchen" geflossen ist. Da klärt sie ein ehemaliger Gefangener auf, dass es keine Lager gäbe, wo kein Recht auf Briefwechsel üblich war. Beide Romane berichten vom Kampf der Außenstehenden, das Leid der Ahnungslosigkeit, die Unmöglichkeit, ein Grab aufzusuchen.
Der scheinheilige und unterwürfige Scholochow kommt übrigens bei beiden Schriftstellern nicht gut weg. Solschenizyn zerreißt eine seiner schwachen Erzählungen, weil darin das Bild "Krieg" nur blaß und "ohne Ahnung" gezeichnet ist und insbesondere die Rückkehr der Soldaten zu gut ins stalinistische Bild passte, und die Tschukowskaja hat einen offenen Brief an ihn geschrieben, da dieser noch schärfere Bestrafung von Abweichlern gefordert hat, und das in einer Zeit, wo fast die Hälfte der Russen samt Kriegsheimkehrer unschuldig eingesperrt wurde, nicht "wegen" etwas, sondern, wie Solschenizyn es so schön sagt: "damit nicht".
Liebe Grüße
Taxine
Art & Vibration
Hast du alle drei Teile des Archipel Gulag gelesen, Taxinchen?
Ich hatte danach viele Wochen lang zu tun, um dieses unaussprechliche Leid zu verarbeiten. Unfassbar, für uns Heutige. Und doch, doch ist "Gulag" immer noch und überall auf der Welt.
Eines der wenigen, wirklich auf Dauer beklemmenden Bücher, die ich in meinem Leben las.
Wer unter diesen bestialischen Bedingungen ein Mensch bleiben kann, der muss einen unendlich starken Willen haben. Oder einen starken Glauben.
(Ich weiß jetzt nicht, wann und unter welchen Umständen Solschenizyn dann zum Christen wurde.)
Hallo lieber Patmos.
Ich bin mit dem ersten Band fast durch, besitze den zweiten und habe den dritten erworben, warte gerade auf die Lieferung.
Ein wahrlich erschütterndes Zeit-Dokument. Solschenizyn erwähnt darin auch Grigorenko, einer, der nach fast 27 Jahren zum ersten Mal die Wahrheit über die stalinistisch verfehlte Kriegstaktik festhielt. Es gibt Erinnerungen von ihm und zwei oder drei kleinere Werke.
So viele Menschen wurden geopfert, auf dem Schlachtfeld wie im Danach, und niemand konnte sich dagegen wehren. Unfassbar. Wie viel Literatur wohl verbrannt und vernichtet wurde, die heute aufschlussreich wäre. Man will es sich gar nicht vorstellen.
Das erschütternste Buch, das ich in letzter Zeit (nein, überhaupt) gelesen habe, das wirklich, wirklich kaum zu verdauen ist, ist von Jonathan Littell "Die Wohlgesinnten".
Liebe Grüße
Taxine
Art & Vibration
Zitat von Taxine
Das erschütternste Buch, das ich in letzter Zeit (nein, überhaupt) gelesen habe, das wirklich, wirklich kaum zu verdauen ist, ist von Jonathan Littell "Die Wohlgesinnten".
Habe schon oft überlegt, ob ich mir diese Orgie aus Sadismus, Perversitäten und "schöngeistigen" Menschenschlächtereien antun soll, muss, oder will, liebes Taxinchen.
Immerhin - 1300 Seiten bizarr horribelster "Menschenkunde" über die, oder unsere, geistigen Gegenfüssler.
Ich weiß nicht, zur Zeit heißt es mehr - Ruhen. Für den Kopf. Da tun mir dann Stifter, Proust und & bedeutend wohler als diese abartigen Homunculusse.
Und wenn man daran denkt, das irgendwo, in unseren gehirnlichen, oder seelischen Tiefen (oder was auch immer), auch so ein grauslicher Maximilian Aue herumspukt, dann wird mir auch nicht wohler.
Alles hat seine Zeit..., richtig, aber für das allgemein "Monströse", in uns, dafür fehlt mir zur Zeit der rohe Nerv, oder so...
Wahnsinn, was Taxine wieder wegliest. Ich bewege mich immer noch im Dunstkreis der Bekenntnisse. Und das wird auch noch eine Weile so bleiben. Mir geht es also ähnlich wie Möser, mir fehlt der Nerv für ein monumentales Projekt wie Archipel Gulag. Wenngleich man es ganz sicher gelesen haben sollte, davon bin ich überzeugt, auch wenn das Blinkelingeling vermutlich an mich ging.
Ich habe von Solschenizyn noch August Vierzehn rumzustehen. Auch so ein fetter Schinken.
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[i]Poka![/i]
Zitat von larifant
Ist das eine Empfehlung?
Hallo larifant ,
ja, unbedingt ein Lesetipp, wer’s denn verkraften kann. Auch geht es nicht um Seiten, die neu beleuchtet werden oder die die Schuldfrage verschieben, sondern lediglich um eine anders gewählte Perspektive, die den ganzen Schrecken jedoch genauso klar erkennt und verstärkt wahrnimmt, wie auch wir es tun, wenn wir bis heute mit unserer Gänsehaut kämpfen, sehen wir bestimmte Bilder von aufeinander geworfenen Leichen oder den Mann am Pult frenetisch ins Publikum brüllen.
Zuerst war ich auch skeptisch, habe das Buch lange vor mich hingeschoben, dachte mir, wozu diesen ganzen Mist immer und immer wieder hinaufspülen (hat man nicht schon genug von diesem Elend gesehen), doch Littell hat durchaus ein Meisterwerk kreiert, das völlig darauf verzichtet, gefühlsbetont an die Dinge heranzugehen (wie es z. B. Grossman tut). Sein Stil ist dabei so klar, das er einem regelrecht ins Fleisch schneidet.
Hier trifft man auf einen Roman, der einfach mitten hineinführt, Alltag und Schlachtfeld, Mensch und Stadt, Krieg und Ausartung beschreibt, der Spur über russische Wälder und Gräben, Stalingrad, Charkow (die Zivilisten, die als Partisanen zur Abschreckung aufgehängt wurden) bis nach Deutschland folgt, während das ganze Buch natürlich, durch Littells gewählte Form, stark emotional (nach)wirkt, weil man auf einmal bemerkt, dass man fast selbst mitten im Blut watet, durch all das Leid wankt, sich regelrecht in die Kälte, das Absurde, den Hass, die Trümmer und den menschlichen Zerfall gestoßen fühlt.
Littell pickt sich nicht eine Situation, eine Szene, ein Grauen heraus, sondern schreitet den gesamten Krieg ab und hält einen dabei immer an der Kehle gepackt. Hier begreift man im Weiterblättern jeder Seite, dass all das wirklich Menschen waren, die sich langsam in irgendetwas verwandelten, aus dem es kein Zurück mehr gab. Man sieht das Gesicht des Krieges, dieses besonders absurden Krieges aus jeder Zeile dampfen.
Da trifft man auf Szenen über Szenen, die den ganzen Schrecken sichtbar machen, ihn von allen Seiten beleuchten, die angespannte Geschäftigkeit in ihrer ganzen Nutzlosigkeit verdeutlichen, um die „Aufgabe“ nicht Mord nennen zu müssen. Eine Maschinerie der Sinnlosigkeit und Abartigkeit, der immer wieder neue Nahrung zugeführt wird. Krieg als Rechtfertigung, der Glaube an Gesetz und Ordnung schaltet den menschlichen Verstand aus, bis er zerbricht und Perversionen hervorbringt, dass Soldaten zum Monstrum ihrer eigenen Gefräßigkeit werden und die Moral sich der Politik vollends unterwirft.
Dazwischen etliche Charaktere, echte Menschen und Mörder (manchmal so blaß und unscheinbar), all die Opfer, die Masse, der Kämpfende, die Gleichgültigkeit oder Alltagsnormalität der Lager samt der Diebstähle und Anhäufung von Absicherungen auf deutscher Seite, das Elend und die Vernichtung.
Hier muss der Mensch wahnsinnig bedingungslos an den Staat glauben, um so skrupellos töten und es sich als Befehl zurechtlegen zu können. Der Staat ersetzt Verstand, Herz und weckt den Mechanismus der Unmenschlichkeit. Man sieht selbst, wie schwierig es ist, Urteile zu fällen, besonders aus einem veränderten Danach, weil es nie nur das Böse gegen das Gute gibt, weil auch in dieser Form das Leben kein Märchen ist.
1300 Seiten sind nichts, man wird hier wirklich mit aller Wucht hineingerissen, weil Littells Stil unglaublich (und schwer ins Wort zu fassen) ist, ohne Tränen auskommt und doch in Szene und Bild dermaßen eindeutig und tiefwirkend versteht, das gesamte Grauen darzustellen, das ganze Geschehen zu „verlebendisieren“, dass sein Werk in meinen Augen unbedingt in die Annalen der Literatur und Geschichte gehört. Eine schriftstellerische Hochleistung, gerade zu diesem Thema, das immer eine Herausforderung ist und auch bleiben wird, weil es auf die menschlichen Abgründe zugreift, die wir so gerne geschlossen sehen wollen, die wir nicht fassen können, egal, wie sehr wir es versuchen, in denen das widerlich erkaltete Vergessen unmenschlichen Grauens wuchert.
Die letzten dreißig oder vierzig Seiten hätte er verkürzen können, sie sollen wohl das zuvor Beschriebene auf eine stark sexuelle Abart (der Protagonist Aue ist in seine Schwester verliebt) noch einmal untermalen, ansonsten hat mich das Buch wahrhaft in die Ecke gehauen.
Zitat von LX.C
Ich habe von Solschenizyn noch August Vierzehn rumzustehen. Auch so ein fetter Schinken.
Ich auch. Und "Die Eiche und das Kalb". Noch ungelesen.
Klar war der Zwinker an dich gerichtet, weil du ja schon einige Male gestöhnt hast und ich es auch so gut verstehen konnte. Solschenizyn hat in mir immer zwiespältige Reaktionen ausgelöst, so war das Zwinkern dabei auch gleichzeitig an mich gerichtet. (Mir geht manchmal seine Art zu schreiben auf den Keks, was allerdings im "Archipel Gulag" völlig anders ist, da es ja auch kein Roman ist. Und andererseits bin ich Feuer und Flamme für diesen Schriftsteller, weil ich, wie ja schon gesagt, seinen Mut bewundere.)
Liebe Grüße
Taxine
Art & Vibration
Voyeurismus des Lesers eingeplant?
Nur mal so als Frage an die Userinnen und User dieses Forum, die das Buch gelesen haben. Also - Die Wohlgesinnten.
Ich meine, es scheint ja in diesem Buch keine Obsession, oder Perversität, oder Paranoia, oder Inzest, oder diverse SM - Szenen, oder was auch immer zu geben (denn man hat wohl alles selbst schon, irgendwie...), die sich nicht den schwärzesten Abgründen unserer Seele... Mich interessiert dabei auch weniger, ob dieses Buch pornographisch zu nennen ist, aber ein intellektueller SS Mann und dann dieses alles, wozu und warum?
Das ist jetzt keinesfalls als Kritik zu verstehen, denn ich las dieses Buch noch nicht, aber ob der Faschismus, hier allgemein "verkörpert" in der Hauptperson des Max Aue, nun als finster dunkle Persönlichkeitsstörung aufzufassen ist, oder als, ja, sagen wir - systemimmanentes "Kuriosum", das müsste man sich dann wohl erst einmal "erlesen", oder auch nicht.
Nein, nein, eigentlich möchte ich über das Buch nichts näheres wissen, am ende lese ich es dann doch noch...
(Und ärgere mich dann vielleicht darüber, das ich in der Zeit doch lieber einmal wieder etwas - unemotionales hätte lesen können, oder sollen.)
Zitat von Patmöser
Voyeurismus des Lesers eingeplant?
Meine Worte vor dem Buch. Ich notierte mir so etwas wie:
Menschen, die diesen Roman als Jahrhundertwerk bezeichnen, sind wahrscheinlich auch diejenigen, die gerne schaulustig am Straßenrand stehen, wenn ein Unfall passiert oder früher öffentlichen Schauprozessen beiwohnten, die frierend durch dieses 1300 Seiten Gemetzel aus Blut, Mord und Gewalttätigkeit stampfen, um nun fast genüsslich in ihren vier Wänden der Neigung zu frönen, sich immer wieder neu schockieren zu lassen, im Wissen, dass sie nicht die Einzigen sind... usw.
Dann hat sich meine Meinung beim Lesen geändert. Littell geht es eben um etwas anderes, und das zeigt sich glasklar.
Für einen nach Ruhe suchenden Kopf ist der Klopper aber sicherlich nichts.
Liebe Grüße
Taxine
Art & Vibration