HirngespinsteAustausch zwischen Literatur und Kunst |
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#16
von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
RE: Dostojewski
in Die schöne Welt der Bücher 18.10.2007 20:33von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Und weiter geht's:
Ippolits flammende Rede, dass es sich nicht mehr lohne zu leben, wenn es sowieso in wenigen Wochen zu Ende geht, dass er die Bücher wegschmeißt, weil es sich für die wenige Zeit nicht mehr rentiert, sich Wissen anzueignen, und sein Entschluss schließlich dem Ganzen selbst ein Ende bereiten zu wollen, führt in viele Überlegungen.
Was nimmt man mit? Was ist wichtig? Besteht das Recht zum selbstgewählten Tode nicht gerade dann, wenn es sowieso bald vorbei ist, oder sollte man vielmehr die wenige Zeit, wenn es sowieso zu Ende geht, noch auskosten?
Dostojewski greift hier mit den Worten Ippolits die gleiche Überlegung wieder auf, wie wir sie am Anfang über die Henkersmahlzeit des Verurteilten zu lesen bekamen; dass die letzten Augenblicke des Lebens mit etwas zu versüßen den bald Sterbenden keinesfalls glücklicher machen, sondern ihn vielmehr an sein bevorstehendes Schicksal sehr unangenehm erinnern und an das, was er alles zurücklassen muss, wo doch die Christen so sehr nach der Schönheit der letzten Stunden streben oder Myschkin hier für Ippolit die Backsteinwand durch blühende Bäume ersetzen möchte. Da ist es nicht verwunderlich, dass Ippolit aufschreit:
Besonders schön ist seine Wut über die Menschen, die aus den langen Jahren, die noch vor ihnen liegen, nichts machen, die Wut, dass ein Mensch, der noch sechzig Jahre vor sich hat, einfach vor Hunger sterben kann.
An einem Beispiel den Wert des Lebens gemessen:
Es ist das Gleiche, wie das angestrebte Ziel. Solange man es im Kopf hat, sich danach sehnt, ist man von einem Glücksgefühl erfüllt, wenn man es aber erreicht hat, dauert der Moment der Freude nur kurz, man ist vielmehr erschöpft und froh, es endlich geschafft zu haben und macht sich schließlich wieder auf die nächste Suche.
Ippolit keucht in seiner Krankheit und weiß, dass er sich nicht klar ausdrückt, dass der Mensch in seiner Eitelkeit und seinem mitleidigen Blick auf ihn nicht erfasst, dass er selbst hier am Tod des Jungen den Wert des eigenen Lebens hinaufsetzen kann.
Trotzdem finde ich, hat er den Kern sehr gut getroffen. Der Mensch jammert und jammert, und doch liegt es nur an ihm, was er aus seinem Leben macht. Das Jammern ist einfacher, und er glaubt auch nur an das Recht der Jammerei, weil er gesund und gelangweilt ist, weil der Tod oder der Schmerz nicht in aller Gewalt über seinem Kopf hängt. Denn solche Dinge lassen den Menschen irgendwo immer neu erwachen, weil er sich darauf besinnt, was er verliert.
Und dann, ein schöner Aufruf für die „Gute Tat“:
Später dann spricht Dostojewski auch selbst noch einmal das Bild von Holbein an, über die schonungslose Darstellung. Der tote Mensch. Die sichtbare Qual an seinem toten Körper. Und noch drastischer:
Das fasst natürlich noch ein Stück besser ins Wort, warum sich durch den Anblick des Bildes der Glaube verliert.
Und im Hinblick auf das "Leben danach" und eine angeblich christliche Belohnung:
Es ist wohl mit allen Dingen so, die der Mensch nicht fassen kann, dass er sich die Dinge mit seiner Ahnung erklärt und diese auch an andere Menschen vermittelt, obwohl er vielleicht gar keine Vorstellung hat, was eigentlich möglich ist.
Die christliche Religion wirbt mit dem Paradies und der Hölle, als hätte sie einen Begriff davon, wie sich die Moleküle nach dem Tode anordnen, in was sie sich wandeln. Aber, es ist ihr ja eigentlich auch egal, was tatsächlich im Danach geschieht; der Zweck dieser Illusionen von Gut und Böse dient nur der Kontrolle des Menschen, der sich dadurch seinen Ängsten und Sünden bewusst wird. Ob er dadurch auch immer "richtig" handelt (wenn er darüber hinaus vergisst, sich auf sich selbst zu besinnen), bleibt fraglich.
Der Wunsch von Ippolit, sich umzubringen, weil es "vielleicht die einzige Tat ist, die" er "nach eigenem Willen anzufangen und zu beenden noch Zeit" hat, schafft wieder Parallelen zu den "Dämonen", wo Kirilloff den Selbstmord auch als Verpflichtung sieht, sich zu erschießen, "weil der wichtigste, erschöpfendste Punkt" seines "Eigenwillens ist", sich selbst zu töten. Die Eigenmacht ist für Kirilloff der höchste Gipfel an Beweis, um zu zeigen, dass der Mensch überhaupt eigenen Willen besitzt und nicht von Gott geleitet wird. Für ihn besteht hier die "größte Macht", während es bei Ippolit heißt:
Hier unterscheiden sich die Selbstmörder, wenn man mal davon absieht, dass der eine ein Junge ist, der an der Schwindsucht stirbt, und der andere seinen Selbstmord als Beweis der Menschheit hinterlassen will. Trotzdem liegt für Dostojewski im Selbstmord das Bekenntnis zum eigenen Willen.
Ippolit wäre durchaus imstande, die letzten zwei, drei Wochen noch durchzustehen und dann sein Schicksal anzunehmen, aber er rebelliert hier bewusst, weil ihm die Natur ein ungewolltes Zeitpensum aufzwingt.
Vielleicht kann man darin eine Form des Trostes sehen.
Liebe Grüße
Taxine
Ippolits flammende Rede, dass es sich nicht mehr lohne zu leben, wenn es sowieso in wenigen Wochen zu Ende geht, dass er die Bücher wegschmeißt, weil es sich für die wenige Zeit nicht mehr rentiert, sich Wissen anzueignen, und sein Entschluss schließlich dem Ganzen selbst ein Ende bereiten zu wollen, führt in viele Überlegungen.
Was nimmt man mit? Was ist wichtig? Besteht das Recht zum selbstgewählten Tode nicht gerade dann, wenn es sowieso bald vorbei ist, oder sollte man vielmehr die wenige Zeit, wenn es sowieso zu Ende geht, noch auskosten?
Dostojewski greift hier mit den Worten Ippolits die gleiche Überlegung wieder auf, wie wir sie am Anfang über die Henkersmahlzeit des Verurteilten zu lesen bekamen; dass die letzten Augenblicke des Lebens mit etwas zu versüßen den bald Sterbenden keinesfalls glücklicher machen, sondern ihn vielmehr an sein bevorstehendes Schicksal sehr unangenehm erinnern und an das, was er alles zurücklassen muss, wo doch die Christen so sehr nach der Schönheit der letzten Stunden streben oder Myschkin hier für Ippolit die Backsteinwand durch blühende Bäume ersetzen möchte. Da ist es nicht verwunderlich, dass Ippolit aufschreit:
In Antwort auf:
Wie soll ich inmitten all dieser Schönheit, wenn ich in jeder Minute, in jeder Sekunde weiß und jetzt erst recht zu wissen genötigt bin, dass sogar diese winzige Fliege hier (...) an diesem Festmahl und Chorgesang teilnimmt, ihren Platz kennt, ihn liebt und glücklich ist, wogegen ich allein ein Ausgestoßener bin und nur aus Kleinmut das bis jetzt nicht habe begreifen können?
Besonders schön ist seine Wut über die Menschen, die aus den langen Jahren, die noch vor ihnen liegen, nichts machen, die Wut, dass ein Mensch, der noch sechzig Jahre vor sich hat, einfach vor Hunger sterben kann.
In Antwort auf:
Und jeder weist auf seine schäbige Kleidung hin, weist seine schwieligen Hände vor, ärgert sich und schreit: „Wir arbeiten wie die Jochochsen, wir schuften und mühen uns ab, und wir sind hungrig wie die Hunde und arm! Andere arbeiten nicht und mühen sich nicht ab und sind reich!“ (…) Immer die gleiche Litanei und die Tränen in den Augen dazu! Oh, ich habe nicht das geringste Mitleid mit diesen Dummköpfen (…) Wenn er nur lebt, folgt daraus schon, dass all das in seiner Macht steht! Wer ist denn schuld daran, dass er das nicht begreift?
An einem Beispiel den Wert des Lebens gemessen:
In Antwort auf:
Oh, seien Sie versichert, dass Kolumbus nicht damals glücklich war, als er Amerika entdeckt hatte, sondern damals, als er es erst entdecken wollte; seien Sie versichert, dass er den höchsten Augenblick seines Glücksgefühl vielleicht genau drei Tage vor der Entdeckung der Neuen Welt erlebte (…) Hierbei kommt es nicht auf die Neue Welt an oder auf gleich was sonst! Und Kolumbus starb ja auch, fast ohne sei gesehen zu haben, und genau genommen, ohne zu wissen, was er entdeckt hatte.
Hierbei kommt es auf da Leben an, einig und allein auf das Leben, - auf seine Enthüllung, die ununterbrochene und ewigliche, und keineswegs auf das jeweils Enthüllte.
Es ist das Gleiche, wie das angestrebte Ziel. Solange man es im Kopf hat, sich danach sehnt, ist man von einem Glücksgefühl erfüllt, wenn man es aber erreicht hat, dauert der Moment der Freude nur kurz, man ist vielmehr erschöpft und froh, es endlich geschafft zu haben und macht sich schließlich wieder auf die nächste Suche.
Ippolit keucht in seiner Krankheit und weiß, dass er sich nicht klar ausdrückt, dass der Mensch in seiner Eitelkeit und seinem mitleidigen Blick auf ihn nicht erfasst, dass er selbst hier am Tod des Jungen den Wert des eigenen Lebens hinaufsetzen kann.
In Antwort auf:
… aber trotzdem möchte ich hinzufügen, dass bei jedem genialen und neuen Menschengedanken oder einfach sogar bei jedem ernsten Gedanken, der in einem Menschenkopf entsteht, immer ein Etwas zurückbliebt, das sich auf keine Weise anderen Menschen miteilen lässt…
Trotzdem finde ich, hat er den Kern sehr gut getroffen. Der Mensch jammert und jammert, und doch liegt es nur an ihm, was er aus seinem Leben macht. Das Jammern ist einfacher, und er glaubt auch nur an das Recht der Jammerei, weil er gesund und gelangweilt ist, weil der Tod oder der Schmerz nicht in aller Gewalt über seinem Kopf hängt. Denn solche Dinge lassen den Menschen irgendwo immer neu erwachen, weil er sich darauf besinnt, was er verliert.
Und dann, ein schöner Aufruf für die „Gute Tat“:
In Antwort auf:
Hierbei ist das ganze Leben mit seinen zahllosen uns verborgenen Verzweigungen mit im Spiel. Der beste, scharfsinnigste Schachspieler kann nur einige kleine Züge voraussehen; (…) Wie viele Schachzüge des Lebens aber sind uns denn bekannt? Und wie viel ist unbekannt! Indem Sie Ihr Samenkorn oder Ihr Almosen ausstreuen, Ihre Tat vollbringen, geben Sie, in welcher Form es auch sei, einen Teil Ihrer Persönlichkeit hin und nehmen einen Teil der anderen Persönlichkeit in sich auf; in dieser Wechselbeziehung stehen Sie beide zueinander.
(…) Sie werden Ihre Aufgabe schließlich unbedingt als eine Art Wissenschaft betrachten; sie werden ihr ganze Leben absorbieren und kann zugleich Ihr ganzes Leen ausfüllen. Andererseits können alle Ihre Gedanken, alle die Samenkörner, die Sie ausgestreut haben und die von Ihnen selbst vielleicht schon vergessen worden sind, sich verkörpern und heranwachsen; wer sie von Ihnen empfangen hat, wird sie einem anderen weitergeben.
Später dann spricht Dostojewski auch selbst noch einmal das Bild von Holbein an, über die schonungslose Darstellung. Der tote Mensch. Die sichtbare Qual an seinem toten Körper. Und noch drastischer:
In Antwort auf:
… wie konnten sie dann noch glauben, angesichts einer solchen Leiche, dass dieser Märtyrer auferstehen werde? Wie sie überwinden, wenn selbst derjenige ihnen jetzt unterlegen ist, der zu seinen Lebenszeiten auch die Natur überwand, dem sie sich unterwarf, wenn er ausrief: „Talitha kumi!“ (…) Beim Anblick dieses Bildes erschient einem die Natur als ein unbekanntes, riesiges, unerbittliches und stummes Tier, oder richtiger, weit richtiger gesagt, wenn es auch seltsam klingen mag: als irgend eine riesige Maschine neuester Konstruktion, die ohne Sinn und Verstand dieses große und unschätzbare Wesen erfasst, zermalmt und in sich hinein geschluckt hat, taub und gefühllos, - dieses Wesen, das allein soviel wert war wie die ganze Natur samt allen ihren Gesetzen, wie die ganze Erde, die vielleicht nur zu dem Zweck erschaffen ward, damit dieses Wesen auf ihr erschiene! Durch dieses Bild wird gleichsam gerade diese Vorstellung von einer dunklen, unverschämten und sinnlos-ewigen Macht, der alles unterworfen ist, zum Ausdruck gebracht und teilt sich einem unwillkürlich mit.
Das fasst natürlich noch ein Stück besser ins Wort, warum sich durch den Anblick des Bildes der Glaube verliert.
Und im Hinblick auf das "Leben danach" und eine angeblich christliche Belohnung:
In Antwort auf:
Wir erniedrigen die Vorsehung gar zu sehr, wenn wir ihr unsere Begriffe zuschreiben aus Ärger darüber, dass wir sie nicht verstehen können.
Es ist wohl mit allen Dingen so, die der Mensch nicht fassen kann, dass er sich die Dinge mit seiner Ahnung erklärt und diese auch an andere Menschen vermittelt, obwohl er vielleicht gar keine Vorstellung hat, was eigentlich möglich ist.
Die christliche Religion wirbt mit dem Paradies und der Hölle, als hätte sie einen Begriff davon, wie sich die Moleküle nach dem Tode anordnen, in was sie sich wandeln. Aber, es ist ihr ja eigentlich auch egal, was tatsächlich im Danach geschieht; der Zweck dieser Illusionen von Gut und Böse dient nur der Kontrolle des Menschen, der sich dadurch seinen Ängsten und Sünden bewusst wird. Ob er dadurch auch immer "richtig" handelt (wenn er darüber hinaus vergisst, sich auf sich selbst zu besinnen), bleibt fraglich.
Der Wunsch von Ippolit, sich umzubringen, weil es "vielleicht die einzige Tat ist, die" er "nach eigenem Willen anzufangen und zu beenden noch Zeit" hat, schafft wieder Parallelen zu den "Dämonen", wo Kirilloff den Selbstmord auch als Verpflichtung sieht, sich zu erschießen, "weil der wichtigste, erschöpfendste Punkt" seines "Eigenwillens ist", sich selbst zu töten. Die Eigenmacht ist für Kirilloff der höchste Gipfel an Beweis, um zu zeigen, dass der Mensch überhaupt eigenen Willen besitzt und nicht von Gott geleitet wird. Für ihn besteht hier die "größte Macht", während es bei Ippolit heißt:
In Antwort auf:
Es ist keine große Macht, demnach auch kein großer Protest!
Hier unterscheiden sich die Selbstmörder, wenn man mal davon absieht, dass der eine ein Junge ist, der an der Schwindsucht stirbt, und der andere seinen Selbstmord als Beweis der Menschheit hinterlassen will. Trotzdem liegt für Dostojewski im Selbstmord das Bekenntnis zum eigenen Willen.
Ippolit wäre durchaus imstande, die letzten zwei, drei Wochen noch durchzustehen und dann sein Schicksal anzunehmen, aber er rebelliert hier bewusst, weil ihm die Natur ein ungewolltes Zeitpensum aufzwingt.
Vielleicht kann man darin eine Form des Trostes sehen.
Liebe Grüße
Taxine
Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 24.10.2007 22:17 |
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#17
von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
RE: Dostojewski
in Die schöne Welt der Bücher 20.10.2007 01:08von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Im vierten Buch spürt man regelrecht das Vibrieren in der Luft, diese Anspannung, wie kurz vor einer Katastrophe.
Zum Katholizismus sagt Myschkin:
Und vom Katholizismus zum Sozialismus:
Myschkin lehnt die Gefrässigkeit der Systeme, das Anwenden von Gewalt und das offene Predigen der Gier ab, das Geldscheffeln und die schamlose Demonstration der Macht, die nichts mehr mit Demut zu tun hat, er sieht in ihnen nur ein Füllen an Leere und ein Überdecken der Desillusionierung. Der verlorene Mensch wird gegriffen und aufgrund seines Glaubens ausgebeutet. All das hat nichts mehr mit dem Christus zu tun, der sich für die Menschheit opferte.
... und darum irrt er herum, hat seinen inneren Einklang verloren und lässt sich verleiten, wenn nur eine Führung vorhanden ist.
Was den Fürsten auch immer lächerlich erscheinen lässt, fasst die alte Bjelokonskaja gut ins Wort:
Myschkins Rede an die Aristokratie, weil er hoffnungstragend diesen Stand retten möchte, der droht durch dieses falsche und aufgesetzte Verhalten unterzugehen („Seien wir die Vordersten, dann werden wir auch die Anführer sein. Lassen Sie uns Diener werden, um die Lenkenden sein zu dürfen.“) umfasst tiefe und aufrichtige Worte:
Um die Vollkommenheit zu erreichen, muss man zuerst vieles nicht verstehen. Verstehen wir aber gar zu schnell, dann verstehen wir es womöglich gar nicht richtig.
Und erneut im östlichen Denken begriffen:
Hier höre ich auch ein Deuten auf den Vorwurf, das Vorurteil heraus, dass das „Verzeihen“ darauf gegründet ist, dass man seinen drohenden Finger herunternimmt und sich selbst zugesteht, dass man den anderen Menschen nicht zu beurteilen hat, und wenn er etwas tut, was ja den Vorwurf, das Vorurteil auslöst, ihm gerade darum verzeihen muss, dass er es tut. Bei dieser Behauptung wird das Schlechtdenken über andere Menschen, der so oft geschürte Hass, dieses Ausbreiten an Misanthropie zur Farce.
Und, was schimmert noch hindurch? Myschkin ist tatsächlich ein Revolutionär, kann auch aufstampfen und seine Werte verteidigen. Leider fließen seine wie im Fieber ausartenden Reden auf das Gewissen der Menschen, sein Hinweis darauf, dass er den Anfang gemacht hat (sein Verhalten, seine Wahl des guten Glaubens), seine Verteidigung der Christen gegen die kalten Ersatzreligionen letztendlich nur zu einer unverstandenen Gestalt zusammen, die durch das Stehen am Rande verspottet wird, jedoch in den sie umgebenden Menschen sofort Zutrauen erweckt (teilweise, weil sie wissen, dass der Fürst ihnen nie etwas Böses will, teilweise auch, weil sie sich überlegen fühlen und ihn als Gesprächspartner, Beichtvater und (modern ausgedrückt) Therapeuten benötigen). Die Menschen verstehen seine Empörung nicht (im Sinne von: die Dinge verändern sich nun einmal, auch wenn sie schlechter werden, müssen wir sie hinnehmen!), und doch sehen sie, dass der Weg, den er geht, gut ist, aber sie können ihm nicht folgen, ohne sich selbst vor der Masse lächerlich zu machen. Trotzdem erkennen sie die Richtigkeit des Weges, wollen ihn aber nicht beschreiten, drücken sich vielmehr wie ein Teil einer riesigen Knetmasse zurück in den Block der Allgemeinheit. Und an dieser Mauer muss der Fürst dann auch scheitern, weil er diese in so zerbrechlicher Gestalt nicht durchdringen kann.
Und auch wieder in der Verbindung zu den „Dämonen“, wo Kirilloff sagte:
Der Mensch ist unglücklich, weil er nicht weiß, dass er glücklich ist. Nur deshalb. Das ist alles, alles! Wer das erkennt, der wird gleich glücklich sein. sofort, im selben Augenblick.
… schreit hier Myschkin:
Und er gibt auch Hinweise:
Es scheint ganz so, dass der Anfall, der den geistigen Klarblick hervorruft, die völlige Ekstase, das Alles-Sehen zuvor immer den Aufschrei weckt, ein Bedürfnis im Fürsten, sich mitzuteilen, aufzurufen, auf das Unrecht zu deuten. Die Menschen um ihn herum haben es dann natürlich einfach, weil sie sich auf seine Krankheit berufen können, die doch scheinbar so seinen Geist verwirrt. Sie erschrecken und ringen die Hände, statt die Worte Myschkins in sich dringen zu lassen und zu verarbeiten. Und gerade das macht dieses Scheitern Myschkins so traurig und sinnlos, so dass es kein Wunder ist, dass weiterhin die Fehler begangen werden, vor denen der Fürst gewarnt hat (natürlich besonders in Bezug auf die trotzige Aglaja, die später den Anti-Myschkin heiratet und sich zur Fanatikerin entwickelt), und dass dieser nach dem letzten schrecklichen Erlebnis wieder völlig in seinen vorherigen Zustand zurückkehrt.
Dieses Buch hat mich in seiner Spannung und diesem so wundervoll geschaffenen Wesen so mitgerissen, dass ich es äußerst ungern aus der Hand lege. Besonders das letzte Buch verlangt dem Leser eine so gierige Konzentration ab, dass man immer hastiger durch die Geschehnisse blättert, von einer schrecklichen Vorahnung, Anspannung erfüllt, um endlich "erlöst" zu werden, und bleibt dann schließlich auch völlig aufgewühlt zurück. Das Kapitel "Schluss" berichtet noch die letzten fast schon trockenen Nachwirkungen, doch sie ändern nicht, dass der Geist abschweift und immer wieder zu dem vorherigen Kapitelschluss zurückkehren möchte. Endlich begreift man richtig, wie einfach es ist, Mitgefühl für alle Gestalten dieses Buches zu empfinden.
Arme Nastassia, armer Rogoshin, armer, wunderschöner Fürst Myschkin.
Zum Katholizismus sagt Myschkin:
In Antwort auf:
Der Atheismus predigt nur die Negation, der Katholizismus aber geht darüber hinaus: er verkündet einen entstellten Christus, einen von ihm selbst verleumdeten und entweihten, einen entgegengesetzten Christus. Er predigt den Antichrist …
(…) Der römische Katholizismus glaubt, dass die Kirche ohne staatliche Weltmacht hier auf Erden nicht werde bestehen könne, und schreit: Non possumus!
Meiner Ansicht nach ist der römische Katholizismus nicht einmal ein Glaube, sondern nichts weiter als die Fortsetzung des weströmischen Reichsgedankens, und diesem Gedanken hat sich alles in ihm unterzuordnen, vom Glauben angefangen. Der Papst hat sich der Erde, des irdischen Throns bemächtigt und hat das Schwert ergriffen; seitdem geht alles so weiter, nur dass sie zum Schwert noch Lüge, Hinterlist, Betrug, Fanatismus, Aberglauben und Verbrechen hinzugefügt haben, mit den heiligsten, ehrlichsten, naivsten und glühendsten Gefühlen des Volkes gespielt haben, und alles, alles haben sie gegen Geld eingetauscht, gegen banale weltliche Macht.
Und vom Katholizismus zum Sozialismus:
In Antwort auf:
Auch der Sozialismus ist doch eine Ausgeburt des Katholizismus und des katholischen Wesens! Auch er ist, ganz wie sein Bruder, der Atheismus, aus der Verzweiflung hervorgegangen (…), als Ersatz für die verlorengegangene moralische Macht der Religion, um den geistigen Durst der lechzenden Menschheit zu stillen und sie zu retten…
(…) Also wieder nur eine Freiheit durch Gewalt, wieder eine Vereinigung durch Schwert und Blut! „Du sollst nicht glauben an Gott, du sollst kein Eigentum besitzen, Du sollst keine eigene Persönlichkeit sein, fraternité ou la mort! – koste es auch zwei Millionen Köpfe!“
Myschkin lehnt die Gefrässigkeit der Systeme, das Anwenden von Gewalt und das offene Predigen der Gier ab, das Geldscheffeln und die schamlose Demonstration der Macht, die nichts mehr mit Demut zu tun hat, er sieht in ihnen nur ein Füllen an Leere und ein Überdecken der Desillusionierung. Der verlorene Mensch wird gegriffen und aufgrund seines Glaubens ausgebeutet. All das hat nichts mehr mit dem Christus zu tun, der sich für die Menschheit opferte.
In Antwort auf:
Damals waren die Menschen gewissermaßen Menschen mit nur einer Idee, jetzt aber sind sie viel nervöser, vielseitiger, sensitiver, sind Menschen mit zwei, drei Ideen zu gleicher Zeit ... Der jetzige Mensch ist ... geistig breiter ...
... und darum irrt er herum, hat seinen inneren Einklang verloren und lässt sich verleiten, wenn nur eine Führung vorhanden ist.
Was den Fürsten auch immer lächerlich erscheinen lässt, fasst die alte Bjelokonskaja gut ins Wort:
In Antwort auf:
Ich weiß, du bist ein guter Mensch, machst dich aber immer lächerlich! Schenkt man dir drei Kopeken, so dankst du schon, als hätte man dir das Leben gerettet.
Myschkins Rede an die Aristokratie, weil er hoffnungstragend diesen Stand retten möchte, der droht durch dieses falsche und aufgesetzte Verhalten unterzugehen („Seien wir die Vordersten, dann werden wir auch die Anführer sein. Lassen Sie uns Diener werden, um die Lenkenden sein zu dürfen.“) umfasst tiefe und aufrichtige Worte:
In Antwort auf:
Denn das ist doch so, wir sind nun einmal lächerlich, sind leichtsinnig, haben schlechte Angewohnheiten, langweilen uns, verstehen nicht zu schauen, verstehen nicht zu begreifen…
(…) Und Sie, zum Beispiel, Sie fühlen sich doch dadurch nicht gekränkt, dass ich Ihnen ins Gesicht sage, Sie seien lächerlich? Dann aber, wie sollten Sie demnach nicht lebendiges Material sein? Wissen Sie, es will mir scheinen, dass es mitunter sogar ganz gut ist, lächerlich zu sein, ja, dass es sogar besser ist, dann kann man einander leichter verzeihen, leichter auch sich mit einander versöhnen; denn man kann doch nicht alles gleich auf einmal verstehen, kann doch nicht mit der Vollkommenheit anfangen!
Um die Vollkommenheit zu erreichen, muss man zuerst vieles nicht verstehen. Verstehen wir aber gar zu schnell, dann verstehen wir es womöglich gar nicht richtig.
Und erneut im östlichen Denken begriffen:
In Antwort auf:
… denn es ist doch am schwersten, denen zu verzeihen, die Sie mit nichts verletzt haben, und zwar gerade deshalb, weil es nicht geschehen ist und folglich Ihre Beschwerde über sie unbegründet ist…
Hier höre ich auch ein Deuten auf den Vorwurf, das Vorurteil heraus, dass das „Verzeihen“ darauf gegründet ist, dass man seinen drohenden Finger herunternimmt und sich selbst zugesteht, dass man den anderen Menschen nicht zu beurteilen hat, und wenn er etwas tut, was ja den Vorwurf, das Vorurteil auslöst, ihm gerade darum verzeihen muss, dass er es tut. Bei dieser Behauptung wird das Schlechtdenken über andere Menschen, der so oft geschürte Hass, dieses Ausbreiten an Misanthropie zur Farce.
Und, was schimmert noch hindurch? Myschkin ist tatsächlich ein Revolutionär, kann auch aufstampfen und seine Werte verteidigen. Leider fließen seine wie im Fieber ausartenden Reden auf das Gewissen der Menschen, sein Hinweis darauf, dass er den Anfang gemacht hat (sein Verhalten, seine Wahl des guten Glaubens), seine Verteidigung der Christen gegen die kalten Ersatzreligionen letztendlich nur zu einer unverstandenen Gestalt zusammen, die durch das Stehen am Rande verspottet wird, jedoch in den sie umgebenden Menschen sofort Zutrauen erweckt (teilweise, weil sie wissen, dass der Fürst ihnen nie etwas Böses will, teilweise auch, weil sie sich überlegen fühlen und ihn als Gesprächspartner, Beichtvater und (modern ausgedrückt) Therapeuten benötigen). Die Menschen verstehen seine Empörung nicht (im Sinne von: die Dinge verändern sich nun einmal, auch wenn sie schlechter werden, müssen wir sie hinnehmen!), und doch sehen sie, dass der Weg, den er geht, gut ist, aber sie können ihm nicht folgen, ohne sich selbst vor der Masse lächerlich zu machen. Trotzdem erkennen sie die Richtigkeit des Weges, wollen ihn aber nicht beschreiten, drücken sich vielmehr wie ein Teil einer riesigen Knetmasse zurück in den Block der Allgemeinheit. Und an dieser Mauer muss der Fürst dann auch scheitern, weil er diese in so zerbrechlicher Gestalt nicht durchdringen kann.
Und auch wieder in der Verbindung zu den „Dämonen“, wo Kirilloff sagte:
Der Mensch ist unglücklich, weil er nicht weiß, dass er glücklich ist. Nur deshalb. Das ist alles, alles! Wer das erkennt, der wird gleich glücklich sein. sofort, im selben Augenblick.
… schreit hier Myschkin:
In Antwort auf:
… und ist es denn überhaupt möglich unglücklich zu sein? Oh, was bedeutet mein Kummer, was hat mein Leid auf sich, wenn ich imstande bin, glücklich zu sein?
Und er gibt auch Hinweise:
In Antwort auf:
Wissen Sie, ich verstehe nicht, wie man an einem Baum vorübergehen kann und nicht beglückt sein, dass man ihn sieht? Wie mit einem Menschen sprechen und nicht glücklich sein, dass man ihn liebt! (…) Wie viele Dinge begegnen einem auf Schritt und Tritt, die so schön sind, dass selbst ein Mensch, der sich schon ganz verloren hat, sie als schön empfindet? Sehen Sie ein Kind an, schauen Sie Gottes Morgenrot, betrachten Sie einen Grashalm, wie er wächst, schauen Sie in die Augen, die Sie ansehen und Sie lieben…
Es scheint ganz so, dass der Anfall, der den geistigen Klarblick hervorruft, die völlige Ekstase, das Alles-Sehen zuvor immer den Aufschrei weckt, ein Bedürfnis im Fürsten, sich mitzuteilen, aufzurufen, auf das Unrecht zu deuten. Die Menschen um ihn herum haben es dann natürlich einfach, weil sie sich auf seine Krankheit berufen können, die doch scheinbar so seinen Geist verwirrt. Sie erschrecken und ringen die Hände, statt die Worte Myschkins in sich dringen zu lassen und zu verarbeiten. Und gerade das macht dieses Scheitern Myschkins so traurig und sinnlos, so dass es kein Wunder ist, dass weiterhin die Fehler begangen werden, vor denen der Fürst gewarnt hat (natürlich besonders in Bezug auf die trotzige Aglaja, die später den Anti-Myschkin heiratet und sich zur Fanatikerin entwickelt), und dass dieser nach dem letzten schrecklichen Erlebnis wieder völlig in seinen vorherigen Zustand zurückkehrt.
Dieses Buch hat mich in seiner Spannung und diesem so wundervoll geschaffenen Wesen so mitgerissen, dass ich es äußerst ungern aus der Hand lege. Besonders das letzte Buch verlangt dem Leser eine so gierige Konzentration ab, dass man immer hastiger durch die Geschehnisse blättert, von einer schrecklichen Vorahnung, Anspannung erfüllt, um endlich "erlöst" zu werden, und bleibt dann schließlich auch völlig aufgewühlt zurück. Das Kapitel "Schluss" berichtet noch die letzten fast schon trockenen Nachwirkungen, doch sie ändern nicht, dass der Geist abschweift und immer wieder zu dem vorherigen Kapitelschluss zurückkehren möchte. Endlich begreift man richtig, wie einfach es ist, Mitgefühl für alle Gestalten dieses Buches zu empfinden.
Arme Nastassia, armer Rogoshin, armer, wunderschöner Fürst Myschkin.
Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 24.10.2007 22:17 |
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Hallo
Eine Kritik schon im dritten Buch. Dort sagt Gawrila, es geht um Anthropophagie, folgendes:
Ippolit ist ein Nihilist, ein Atheist. Er verkörpert Gott ist tot. Bei solch einer Radikalität müsst sich Ippolit doch schon selber fragen, warum er überhaupt geboren ist. Er verneint das Leben und deswegen sagt er,
Sicher sind Ippolits Ausführungen über Holbeins Bild beeindruckend, doch redet er nicht als Christ, sondern als Atheist. Natürlich hat der Leib Christi, gottgewordenes Fleisch, gelitten. Sogar noch wesentlich mehr als jeder gewöhnliche Mensch, denn er hat ja das Leid der Welt auf sich genommen. Dieser theologische Gedanke wird von Ippolit natürlich nicht in Erwägung gezogen. Auf der anderen Seite ist es ja so, von den christlichen Märtyrern, die sich mit Freude in die Klauen der bestiarum hingegeben haben, um das irdische Leben in ein paradiesisches einzutauschen, wissen wir aber nicht, was in ihren Köpfen vorgegangen ist, als die Zähne des Löwen nur noch drei Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt waren.
Ippolit klagt den Fürsten an, der seine letzten Atemzüge noch "versüßen" will. Für Ippolit ist dieses nur eine Qual:
Hier spricht der Neid. Was für eine Lebenseinstellung ist dagegen die von Sokrates, der sagte, es komme nicht darauf an wie lange man lebt, sondern wie. Für Ippolit ist nicht nur Gott tot sondern sein Leben auch. Vom philosopischen Standpunkt gebe ich dem Lebensverneiner nicht recht, weil es einfach zu depressiv ist. Hinter solchen Gedanken steht auch nicht Dostojewskij selbst, logo.
Liebe Grüße
Martinus
Zitat von Taxine
Zum Katholizismus
Eine Kritik schon im dritten Buch. Dort sagt Gawrila, es geht um Anthropophagie, folgendes:
Zitat von Dostojewskij
Wahrscheinlich, daß im zwölften Jahrhundert nur die Mönche genießbar waren, weil nur die Mönche Fett ansetzen konnten.
Ippolit ist ein Nihilist, ein Atheist. Er verkörpert Gott ist tot. Bei solch einer Radikalität müsst sich Ippolit doch schon selber fragen, warum er überhaupt geboren ist. Er verneint das Leben und deswegen sagt er,
Zitat von Dostojewskij
Ich erkenne keinen Richter über mich an und weiß, daß ich jetzt keiner richterlichen Gewalt mehr unterstehe.
Sicher sind Ippolits Ausführungen über Holbeins Bild beeindruckend, doch redet er nicht als Christ, sondern als Atheist. Natürlich hat der Leib Christi, gottgewordenes Fleisch, gelitten. Sogar noch wesentlich mehr als jeder gewöhnliche Mensch, denn er hat ja das Leid der Welt auf sich genommen. Dieser theologische Gedanke wird von Ippolit natürlich nicht in Erwägung gezogen. Auf der anderen Seite ist es ja so, von den christlichen Märtyrern, die sich mit Freude in die Klauen der bestiarum hingegeben haben, um das irdische Leben in ein paradiesisches einzutauschen, wissen wir aber nicht, was in ihren Köpfen vorgegangen ist, als die Zähne des Löwen nur noch drei Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt waren.
Ippolit klagt den Fürsten an, der seine letzten Atemzüge noch "versüßen" will. Für Ippolit ist dieses nur eine Qual:
Zitat von Dostojewskij
Was soll mir diese ganze Schönheit, wenn ich jede Minute jede Sekunde denken soll und jetzt unter Zwang denken muß, daß sogar diese winzige Fliege, die jetzt vor mir im Sonnenstrahl summt, daß sogar sie an diesem Gastmahl und an diesem Chor teilnimmt, ihren Platz kennt, liebt und glücklich ist, ich dagegen ein Ausgestoßener bin und es nur aus Kleinmut bis jetzt nicht wahrhaben wollte.
Hier spricht der Neid. Was für eine Lebenseinstellung ist dagegen die von Sokrates, der sagte, es komme nicht darauf an wie lange man lebt, sondern wie. Für Ippolit ist nicht nur Gott tot sondern sein Leben auch. Vom philosopischen Standpunkt gebe ich dem Lebensverneiner nicht recht, weil es einfach zu depressiv ist. Hinter solchen Gedanken steht auch nicht Dostojewskij selbst, logo.
Liebe Grüße
Martinus
„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
zuletzt bearbeitet 25.10.2007 15:12 |
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#19
von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
RE: Dostojewski
in Die schöne Welt der Bücher 21.10.2007 12:44von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Hallo Martinus,
aus meiner Sicht steckt in Ippolits Gedanken mehr Dostojewski und Myschkin, als man annehmen möchte. Myschkin wiederholt später genau die gleichen Gedanken, die wir hier mit der Fliege und dem sich Ausgestoßen-Fühlen beide zitiert haben. Ippolit ist Nihilist und hat somit auch kein Mitgefühl für die Menschen (und man bedenke: Er stirbt eben!), aber er stellt sein eigenes Ableben diesem sinnlosen Vor-Sich-Hinleben der Menschen gegenüber, was nicht direkt Neid ist, sondern einfach nur die Hinterfragung, warum ein Mensch, der so viel Leben noch vor sich hat, es mit der ständigen Klage und seiner Armut verbringt, wenn es an ihm selbst liegt, dagegen etwas zu tun. (Wenn schon Gott ablehnen, dann muss der Mensch sich auf sich selbst besinnen!)
Ippolit hat einen sehr klaren Blick auf die Dinge, nur versteht er es nicht, sie richtig zu formulieren. Es steckt auch nicht so viel Verneinung in ihm, wie er vorgibt, weil er ja trotzdem verliebt ist, trotzdem Myschkin über die Dinge aufklärt, trotzdem später über sein Ableben spaßt.
Wenn ich mich in diesen Menschen hineinversetze, dann kann ich seine Aufruhe und sein Verbittertsein sehr gut verstehen. Der baldige und in jedem Auge sinnlose Tod, gegen den man machtlos ist, steht erschreckend und wirklich vor einem. Auch sind die Gedanken Ippolits über das Versüßen des Lebens vor dem Tode die gleichen Gedanken, wie sie der Verurteilte hat, wenn er seine Henkersmahlzeit genießen soll. Es erinnert eben unangenehm daran, was man verliert.
Myschkin selbst sagt später, dass der Atheismus nicht so schlimm ist wie der Katholizismus.
Das Bild von Holbein war auch etwas Erschütterndes, weil in den Heiligenbildern Christus immer als schönes, vollkommenes Wesen dargestellt wurde. Holbein aber zeigt den abgezerrten, mißhandelten (menschlichen) Körper... Es ist kein Auferstehender, sondern eine Leiche.
Liebe Grüße
Taxine
aus meiner Sicht steckt in Ippolits Gedanken mehr Dostojewski und Myschkin, als man annehmen möchte. Myschkin wiederholt später genau die gleichen Gedanken, die wir hier mit der Fliege und dem sich Ausgestoßen-Fühlen beide zitiert haben. Ippolit ist Nihilist und hat somit auch kein Mitgefühl für die Menschen (und man bedenke: Er stirbt eben!), aber er stellt sein eigenes Ableben diesem sinnlosen Vor-Sich-Hinleben der Menschen gegenüber, was nicht direkt Neid ist, sondern einfach nur die Hinterfragung, warum ein Mensch, der so viel Leben noch vor sich hat, es mit der ständigen Klage und seiner Armut verbringt, wenn es an ihm selbst liegt, dagegen etwas zu tun. (Wenn schon Gott ablehnen, dann muss der Mensch sich auf sich selbst besinnen!)
Ippolit hat einen sehr klaren Blick auf die Dinge, nur versteht er es nicht, sie richtig zu formulieren. Es steckt auch nicht so viel Verneinung in ihm, wie er vorgibt, weil er ja trotzdem verliebt ist, trotzdem Myschkin über die Dinge aufklärt, trotzdem später über sein Ableben spaßt.
Wenn ich mich in diesen Menschen hineinversetze, dann kann ich seine Aufruhe und sein Verbittertsein sehr gut verstehen. Der baldige und in jedem Auge sinnlose Tod, gegen den man machtlos ist, steht erschreckend und wirklich vor einem. Auch sind die Gedanken Ippolits über das Versüßen des Lebens vor dem Tode die gleichen Gedanken, wie sie der Verurteilte hat, wenn er seine Henkersmahlzeit genießen soll. Es erinnert eben unangenehm daran, was man verliert.
Myschkin selbst sagt später, dass der Atheismus nicht so schlimm ist wie der Katholizismus.
Das Bild von Holbein war auch etwas Erschütterndes, weil in den Heiligenbildern Christus immer als schönes, vollkommenes Wesen dargestellt wurde. Holbein aber zeigt den abgezerrten, mißhandelten (menschlichen) Körper... Es ist kein Auferstehender, sondern eine Leiche.
Liebe Grüße
Taxine
Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 24.10.2007 22:18 |
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#20
von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
RE: Dostojewski
in Die schöne Welt der Bücher 24.10.2007 21:36von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Aufzeichnungen aus dem Untergrund/Kellerloch
Hab mir Abenteuer ausgedacht und das Leben zurechtgedichtet,
um doch wenigstens auf diese Weise zu leben.
Nach der Lektüre von Dostojewskis "Aufzeichnungen aus einem Untergrund" behauptete Nietzsche, der russische Romancier sei der einzige Psychologe gewesen, von dem er etwas gelernt habe, er gehöre insofern zu den schönsten Glücksfällen seines Lebens. Die Einsichten, die er dem russischen Autor verdankt (bzw. bei ihm bestätigt sieht), beziehen sich hauptsächlich auf die Frage nach der Genesis moralischer Wertungen.
Vorab wird die Vermutung geäußert, dass dieser innere Monolog womöglich mit zusammengebissenen Zähnen verfasst wurde. Und das trifft es wohl auf den Punkt.
Hier sehen wir einen ehemaligen Beamten, der sich ganz langsam in einen zornigen Angriff auf Mensch und Sein steigert.
Meine Späßchen sind vielleicht etwas abgeschmackt, sind uneben, wirr und voll von Misstrauen gegen mich selbst. Aber das kommt doch daher, dass ich mich selbst nicht achte. Kann denn ein erkennender Mensch sich überhaupt noch irgendwie achten?
Solche Gedanken scheinen aus solchen Voraussetzungen zu ergehen:
Aus diesem doch eher boshaften Blick auf sich selbst, entsteht auch ein allgemeiner Hass auf den Menschen. Er spricht sich selbst die eigene Veränderung ab, gibt die Macht, Herr über sich selbst zu sein, gerne ab, weil hier möglicherweise die Furcht besteht, dass die Änderung ins Nichts führt, weil er nicht weiß, in was er sich hier verändern soll.
Von der Bosheit kommt der Erzähler zum Rachegefühl und projiziert dieses Riesenempfinden direkt in eine Maus, um die ganze Sinnlosigkeit solcher Gefühle zu demonstrieren, denn hier ist jemand der nicht an seine ausgeführte Rache glaubt, sich aber in Gedanken so lange und ausführlich in seinen Hass hineinsteigert, dass er darüber letztendlich mehr leidet, als der, der das Rachegefühl ausgelöst hat. Das sind für den Leser bekannte Gedanken.
In Selbstzweifel verfallend vergleicht der Erzähler:
Mir scheint, dass der Berichtende hier in seiner Auseinandersetzung mit der Menschheit sich selbst sucht.
Und dann wird es interessant:
Der Erzähler zweifelt hier ebenso:
Henry Thomas Buckle behauptete, der Mensch werde durch die Kultur milder und folglich weniger blutdürstig und immer unfähiger zum Krieg. Der Erzähler glaubt hier an eine Theorie, die nur aus der Logik entstehen konnte.
Wo zunächst der Erzähler von sich behauptet:
... wird er dann aber widersprüchlich, weil er die Vernunft über den eigenen Willen stellt. Er wertet den Menschen hier böse ab und behauptet, dass dieser "um das Recht zu haben, sich sogar das Dümmste zu wünschen", lieber auf die Pflicht verzichtet, "sich einzig und allein Kluges wünschen zu müssen"…
Da staunt man nicht schlecht. Für ihn ist der Mensch = ein Wesen auf zwei Beinen, das undankbar ist.
Schnell wird seine Auslegung verwirrend, besteht dieser doch auf die Vernunft noch vor dem freien Willen. Individualismus ist in seinen Augen überschätzt, der Mensch ist dumm, der Mensch ist schlecht, und handelt alleine aus einem gemeinen, niederträchtigen Wesen heraus und um sich selbst zu beweisen, dass er im Recht ist, auch mal gegen die eigenen gesetzten Ziele. Ja, er würde sogar in Kauf nehmen, verrückt zu werden, nur um ja keine Vernunft mehr zu haben. Der Mensch muss sich doch beweisen, dass er ein Mensch ist.
Dann räumt er ein, dass er vielleicht nur zähneknirschend scherzt.
Doch schließlich bereinigt er seine Ansichten mit einer ganz wunderbaren Auseinandersetzung über den Menschen und seinen Fluch, ein Ziel haben zu müssen. Diese Gedanken sind so reich, dass ich sie hier im Gesamtbild festhalten möchte:
Besser kann man es vielleicht gar nicht formulieren.
Trotz allem erscheint der Erzähler hier wahrhaftig einem Kellerloch entsprungen, abgewandt von der Welt, der sich aus seiner Einsamkeit heraus in einem wütend gespuckten und gleichzeitig auch hilflosen Monolog über die Welt und die Menschheit verliert.
Hab mir Abenteuer ausgedacht und das Leben zurechtgedichtet,
um doch wenigstens auf diese Weise zu leben.
Nach der Lektüre von Dostojewskis "Aufzeichnungen aus einem Untergrund" behauptete Nietzsche, der russische Romancier sei der einzige Psychologe gewesen, von dem er etwas gelernt habe, er gehöre insofern zu den schönsten Glücksfällen seines Lebens. Die Einsichten, die er dem russischen Autor verdankt (bzw. bei ihm bestätigt sieht), beziehen sich hauptsächlich auf die Frage nach der Genesis moralischer Wertungen.
Vorab wird die Vermutung geäußert, dass dieser innere Monolog womöglich mit zusammengebissenen Zähnen verfasst wurde. Und das trifft es wohl auf den Punkt.
Hier sehen wir einen ehemaligen Beamten, der sich ganz langsam in einen zornigen Angriff auf Mensch und Sein steigert.
Meine Späßchen sind vielleicht etwas abgeschmackt, sind uneben, wirr und voll von Misstrauen gegen mich selbst. Aber das kommt doch daher, dass ich mich selbst nicht achte. Kann denn ein erkennender Mensch sich überhaupt noch irgendwie achten?
Solche Gedanken scheinen aus solchen Voraussetzungen zu ergehen:
In Antwort auf:
Der Genuss liegt hier gerade in dem allzu grellen Erkennen der eigenen Erniedrigung; entsteht daraus, dass man schon selbst fühlt, an der letzten Wand angelangt zu sein, dass es zwar scheußlich ist ,aber doch auch nicht anders sein kann; dass es für dich keinen Ausweg mehr gibt, dass du nie mehr ein anderer Mensch werden kannst…
Aus diesem doch eher boshaften Blick auf sich selbst, entsteht auch ein allgemeiner Hass auf den Menschen. Er spricht sich selbst die eigene Veränderung ab, gibt die Macht, Herr über sich selbst zu sein, gerne ab, weil hier möglicherweise die Furcht besteht, dass die Änderung ins Nichts führt, weil er nicht weiß, in was er sich hier verändern soll.
Von der Bosheit kommt der Erzähler zum Rachegefühl und projiziert dieses Riesenempfinden direkt in eine Maus, um die ganze Sinnlosigkeit solcher Gefühle zu demonstrieren, denn hier ist jemand der nicht an seine ausgeführte Rache glaubt, sich aber in Gedanken so lange und ausführlich in seinen Hass hineinsteigert, dass er darüber letztendlich mehr leidet, als der, der das Rachegefühl ausgelöst hat. Das sind für den Leser bekannte Gedanken.
In Antwort auf:
Es heißt: der Mensch rächt sich, weil er darin Gerechtigkeit sieht. Also hat er doch eine Grundlage gefunden, und zwar: die Gerechtigkeit. Also ist er allseitig beruhigt und folglich rächt er sich, da er überzeugt ist, eine anständige und gerechte Tat zu vollbringen, ruhig und mit gutem Erfolg. Ich jedoch sehe hierin keine Gerechtigkeit, und eine Tugend kann ich hierin erst recht nicht entdecken; wollte ich mich aber dann trotzdem noch rächen, so könnte es allenfalls aus Bosheit geschehen.
In Selbstzweifel verfallend vergleicht der Erzähler:
In Antwort auf:
Ich kannte einen Herrn, der sein Leben lang stolz darauf war, dass er sich auf Bordeauxweine verstand. Er hielt das für eine positive Würde und zweifelte nie an sich.
Mir scheint, dass der Berichtende hier in seiner Auseinandersetzung mit der Menschheit sich selbst sucht.
Und dann wird es interessant:
In Antwort auf:Würde der Mensch nicht so orientierungslos durch die Welt irren, wäre sein Wissen um den Traum und auch die erkennbare Möglichkeit der Traumerfüllung vorhanden, würde es dann wirklich weniger Verbrechen, Frust und Hass in der Welt geben?
Wissen Sie vielleicht, wer es zum ersten Male ausgesprochen hat, dass der Mensch nur deswegen Schändlichkeiten begehe, weil er seine wahren Interessen nicht kenne, und dass, wenn man ihm seine eigentlichen, normalen Interessen erklärte, er sofort aufhören würde, Schändlichkeiten zu begehen, denn einmal aufgeklärt über seinen Vorteil, würde er natürlich nur im Guten seinen Vorteil erkennen…
Der Erzähler zweifelt hier ebenso:
In Antwort auf:
O reines, unschuldiges Kindlein! Wann ist es denn jemals in den vergangenen Jahren geschehen, dass der Mensch einzig und allein um des eigenen Vorteils willen seine Taten vollbracht hat? Was mit all diesen Millionen von Tatsachen anfangen, die da bezeugen, dass die Menschen wissentlich, das heißt bei voller Erkenntnis ihrer wirklichen Vorteile, diese doch zurücksetzten und sich auf einem anderen Weg begaben, aufs Gradewohl in die Gefahr, von niemandem und durch nichts dazu gezwungen, als hätten sie gerade die Vorteile verschmäht und eigenwillig und verstockt einen anderen, schweren unsinnigen Weg gesucht und nahezu im Dunkeln tappend?
Henry Thomas Buckle behauptete, der Mensch werde durch die Kultur milder und folglich weniger blutdürstig und immer unfähiger zum Krieg. Der Erzähler glaubt hier an eine Theorie, die nur aus der Logik entstehen konnte.
In Antwort auf:… und widerspricht heftig:
Der Mensch aber hat solch eine Vorliebe für das Systematisieren und die abstrakten Schlussfolgerungen, dass er bereit ist, die Wahrheit absichtlich zu entstellen, bereit, mit den Augen nicht zu sehen, mit den Ohren nicht zu hören, nur damit seine Logik recht behalte.
In Antwort auf:
Und was macht denn die Kultur milder in uns? Die Kultur arbeitet im Menschen nur die Vielschichtigkeit der Empfindungen aus…
(…) Und gerade durch die Entwicklung dieser Vielseitigkeit wird der Mensch womöglich auch noch im Blutvergießen Genuss finden.
Wo zunächst der Erzähler von sich behauptet:
In Antwort auf:
… die Vernunft (…) ist und bleibt nur Vernunft und genügt nur dem Vernunftteil des Menschen; das Wollen dagegen ist die Offenbarung des ganzen Lebens, das heißt des gesamten menschlichen Lebens, auch einschließlich der Vernunft, und in allen seinen Heimsuchungen.
(…) Denn ich zum Beispiel will doch selbstverständlich leben, um meine ganze Lebenskraft zu befriedigen, nicht aber, um bloß meiner Vernunft Genüge zu tun, also irgendeinem zwanzigsten Teil meiner ganzen Lebenskraft.
Was weiß schon die Vernunft? Die Vernunft weiß nur das, was sie bereits erfahren hat (…), die menschliche Natur jedoch handelt stets als Ganzes, mit allem, was in ihr ist, bewusst und unbewusst, und wenn sie auch flunkert, so lebt sie doch.
... wird er dann aber widersprüchlich, weil er die Vernunft über den eigenen Willen stellt. Er wertet den Menschen hier böse ab und behauptet, dass dieser "um das Recht zu haben, sich sogar das Dümmste zu wünschen", lieber auf die Pflicht verzichtet, "sich einzig und allein Kluges wünschen zu müssen"…
Da staunt man nicht schlecht. Für ihn ist der Mensch = ein Wesen auf zwei Beinen, das undankbar ist.
Schnell wird seine Auslegung verwirrend, besteht dieser doch auf die Vernunft noch vor dem freien Willen. Individualismus ist in seinen Augen überschätzt, der Mensch ist dumm, der Mensch ist schlecht, und handelt alleine aus einem gemeinen, niederträchtigen Wesen heraus und um sich selbst zu beweisen, dass er im Recht ist, auch mal gegen die eigenen gesetzten Ziele. Ja, er würde sogar in Kauf nehmen, verrückt zu werden, nur um ja keine Vernunft mehr zu haben. Der Mensch muss sich doch beweisen, dass er ein Mensch ist.
Dann räumt er ein, dass er vielleicht nur zähneknirschend scherzt.
Doch schließlich bereinigt er seine Ansichten mit einer ganz wunderbaren Auseinandersetzung über den Menschen und seinen Fluch, ein Ziel haben zu müssen. Diese Gedanken sind so reich, dass ich sie hier im Gesamtbild festhalten möchte:
In Antwort auf:
Also gut: der Mensch ist ein vornehmlich schöpferisches Tier, das verurteilt ist, bewusst zu einem Ziel zu streben, und sich mit Ingenieurkunst zu befassen, das heißt sich ewig und ununterbrochen einen Weg zu bahnen, wenn auch einerlei wohin.
Nun aber will er sich vielleicht gerade deswegen zuweilen aus dem Staube machen oder sich seitwärts in die Büsche schlagen, weil er dazu verurteilt ist, sich diesen Weg zu bahnen, und meinetwegen auch noch aus dem anderen Grunde, weil ihm, wie dumm der unmittelbare und tätige Mensch im allgemeinen auch sein mag, zuweilen doch der Gedanke kommt, dass dieser Weg, wie es sich erweist, fast immer einerlei wohin führt, und dass die Hauptsache durchaus nicht ist, wohin er führt, sondern, dass er überhaupt nur führt, auf dass sich das artige Kind nicht, die Ingenieurarbeit verschmähend, dem verderblichen Müßiggang ergebe, der, wie allgemein bekannt, der Vater aller Laster ist.
Der Mensch liebt es, sich als Schöpfer zu erweisen und Wege zu bahnen, das ist unbestreitbar. Warum aber liebt er bis zur Leidenschaft ebenso Zerstörung und Chaos? (…)
Liebt er Zerstörung und Chaos vielleicht deswegen so sehr (…), weil er sich instinktiv fürchtet, das Ziel zu erreichen und das zu erbauende Gebäude zu vollenden?
(…) vielleicht liebt er dieses Gebäude nur aus der Entfernung, nicht aber in der Nähe? Vielleicht liebt er nur, es zu erschaffen, nicht aber in ihm zu leben (…)
Der Mensch aber ist ein leichtsinniges und garstiges Geschöpf und liebt vielleicht gleich dem Schachspieler nur den Prozess des Strebens zum Ziel, nicht aber das Ziel an und für sich.
… vielleicht liegt auch das ganze Erdenziel, zu dem die Menschheit strebt, nur in dieser ununterbrochenen Fortdauer des Strebens zum Ziel, mit anderen Worten: im Leben selbst, nicht aber im eigentlichen Ziel…
Nehmen wir an, dass der Mensch nicht anderes tut, als (…) suchen, in diesem Suchen Ozeane überschwimmt, das Leben opfert, jedoch es zu finden, es wirklich zu finden, sich, bei Gott, gewissermaßen fürchtet. Er fühlt doch, dass ihm, wenn er es gefunden hat, nichts mehr zu suchen übrig bleiben wird.
Besser kann man es vielleicht gar nicht formulieren.
Trotz allem erscheint der Erzähler hier wahrhaftig einem Kellerloch entsprungen, abgewandt von der Welt, der sich aus seiner Einsamkeit heraus in einem wütend gespuckten und gleichzeitig auch hilflosen Monolog über die Welt und die Menschheit verliert.
Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 28.10.2007 14:33 |
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zwischendurch noch einmal zurück zu "Der Idiot"
Roman durch, trotzdem das Gefühl, nicht damit fertiggeworden zu sein. Wie vor zwölf Jahren nach der Erstlektüre nach zuschlagen des Buches Betroffenheit. In ein paar Jahren muss es wieder gelesen werden. Es gibt eben Bücher, mit denen man nie fertig wird. Bei jeder Lektüre eröffnen sich neue Aspekte des Werkes.
Was ist nun abschließend über den Fürsten zu sagen?. Gutmütig, zaghaft, ja sogar verlegen, schüchtern. Man denke an die Szenerie, die Frage Aglajas, ob er sie nun heirate. Oh je, wie duckst der Fürst dort herum. Der Fürst ist ein guter Mensch, ein sehr guter, man möge sich wünschen, solch einen Menschen zu begegnen. Der Fürst ist aber nicht vollkommen, er ist zu zaghaft, um etwas in der Welt verändern zu können, um die Welt besser zu machen, um eine Tragödie zu verhindern. Aus dieser zugegebenen engen Sichtweise versagt er natürlich. Darum ist er nicht Christus. Er ist ein guter Christ, der aus Mitleid liebt und von der Gesellschaft aufgrund seiner Naivität schief angesehen wird, der die Schuld anderer auf sich nimmt. Ein „Sonderling“, heißt es auch. Solche Menschen muss es natürlich geben, damit die Welt weiß, was es heißt, ein guter Mensch zu sein. Die Tragik liegt ja auch gerade darin, dass ein vereinzelt guter Mensch wie Myschkin die Welt nicht ändern kann. Er ist die Liebe (Agape), das ist es. Mir kommen die Tränen, wenn ich Lisawetas letze Worte über den Fürsten lese.
Natürlich darf dem Fürsten nicht die Schuld für die Tragödie angelastet werden. Tja, wer hat Schuld? Tozkij, der Natassjas Leben versaut hat? Natassja fühlt sich selber schuldig an ihrem Dilemma, obwohl sie für das Handeln Tozkijs nicht verantwortlich gemacht werden kann. Dostojewskij erweist sich hier wieder einmal als großer Psycholog. Sie wurde beschmutzt und fühlt sich dreckig und wertlos, hin - und hergerissen.
Und Ippolit gibt mir insofern einige Rätsel auf, weil er einerseits die christlichen Perspektiven des Jenseits ablehnt, viel später aber, da sein Tod naht, doch das Paradies erwähnt. Die Frage des Selbstmords hat Dostojewskij schließlich gut gelöst. Bei Sokrates war es eine ganz andere Situation, denn er fühlte sich verpflichtet, ein Gesetz des Staates zu befolgen.
Liebe Grüße
Martinus
Roman durch, trotzdem das Gefühl, nicht damit fertiggeworden zu sein. Wie vor zwölf Jahren nach der Erstlektüre nach zuschlagen des Buches Betroffenheit. In ein paar Jahren muss es wieder gelesen werden. Es gibt eben Bücher, mit denen man nie fertig wird. Bei jeder Lektüre eröffnen sich neue Aspekte des Werkes.
Was ist nun abschließend über den Fürsten zu sagen?. Gutmütig, zaghaft, ja sogar verlegen, schüchtern. Man denke an die Szenerie, die Frage Aglajas, ob er sie nun heirate. Oh je, wie duckst der Fürst dort herum. Der Fürst ist ein guter Mensch, ein sehr guter, man möge sich wünschen, solch einen Menschen zu begegnen. Der Fürst ist aber nicht vollkommen, er ist zu zaghaft, um etwas in der Welt verändern zu können, um die Welt besser zu machen, um eine Tragödie zu verhindern. Aus dieser zugegebenen engen Sichtweise versagt er natürlich. Darum ist er nicht Christus. Er ist ein guter Christ, der aus Mitleid liebt und von der Gesellschaft aufgrund seiner Naivität schief angesehen wird, der die Schuld anderer auf sich nimmt. Ein „Sonderling“, heißt es auch. Solche Menschen muss es natürlich geben, damit die Welt weiß, was es heißt, ein guter Mensch zu sein. Die Tragik liegt ja auch gerade darin, dass ein vereinzelt guter Mensch wie Myschkin die Welt nicht ändern kann. Er ist die Liebe (Agape), das ist es. Mir kommen die Tränen, wenn ich Lisawetas letze Worte über den Fürsten lese.
Natürlich darf dem Fürsten nicht die Schuld für die Tragödie angelastet werden. Tja, wer hat Schuld? Tozkij, der Natassjas Leben versaut hat? Natassja fühlt sich selber schuldig an ihrem Dilemma, obwohl sie für das Handeln Tozkijs nicht verantwortlich gemacht werden kann. Dostojewskij erweist sich hier wieder einmal als großer Psycholog. Sie wurde beschmutzt und fühlt sich dreckig und wertlos, hin - und hergerissen.
Und Ippolit gibt mir insofern einige Rätsel auf, weil er einerseits die christlichen Perspektiven des Jenseits ablehnt, viel später aber, da sein Tod naht, doch das Paradies erwähnt. Die Frage des Selbstmords hat Dostojewskij schließlich gut gelöst. Bei Sokrates war es eine ganz andere Situation, denn er fühlte sich verpflichtet, ein Gesetz des Staates zu befolgen.
Liebe Grüße
Martinus
„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
zuletzt bearbeitet 26.10.2007 07:42 |
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#22
von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
RE: Dostojewski
in Die schöne Welt der Bücher 26.10.2007 14:03von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Und wieder weiter mit den "Aufzeichnungen aus dem Untergrund":
Sich im Leid suhlen ... Schon aus der Bibel erfährt der Mensch, dass Leid erlöst. Das verdeutlicht der Erzähler nun mit einem Bericht aus seiner Vergangenheit. Denn:
Ohne ein reines Herz aber wird man niemals zu voller, rechter Erkenntnis gelangen.
Der Erzähler ist von einer erschreckenden Verachtung gegen sich selbst besessen und erhebt aus dieser Unsicherheit (diesem Spiel ?) die kleinsten Ereignisse zu bösartigen Angriffen gegen sich selbst. So packt ihn ein Offizier ohne nachzudenken an den Schultern und schiebt ihn zur Seite, um an ihm vorbeizukommen, und löst damit einen von nun an gut genährten Hass aus. Der Erzähler verfolgt den Unbekannten, erhebt sein Rachegefühl zum einzigen Lebensinhalt und steigert sich so sehr hinein, dass er entweder eine Entschuldigung benötigt oder sich auf der Stelle in einem Duell verlieren möchte. All das verfolgt er natürlich ebenso nur in der Überlegung.
Dass dieser Hass (diese Aufgabe) nur mit dem Entgegenkommen des Offiziers verlöschen kann, dem diese harmlose Geste nicht einmal aufgefallen ist, zeigt, dass der Erzähler keinen anderen Weg mehr sieht, ja darum bettelt, endlich durch eine einfach Geste erlöst und befreit zu werden. Erfolgt diese Geste nicht, explodiert das Gesteigerte in Unberechenbarkeit.
Weil es eine so große Belastung geworden ist, genügt eine Entschuldigung, um sofort ein Vergeben und Vergessen zu bewirken. Ja, es führt noch weiter, der Erzähler würde (beim Verständnis des anderen) Freundschaft schließen.
Das Wesen des Erzählers wird hier deutlicher:
Er empfindet Genuss in der Demütigung, im Erniedrigtwerden, allerdings ist dieses aus seinem eigenen Denken erschaffen, nicht wirklich (also ein rein geistiger, innerer Prozess).
Das wird sichtbar in diesem Widerspruch, wenn der Erzähler sagt:
Das Selbstverachten ist ein Mittel für ihn, um sich in eine Form der Selbstmarter zu steigern, während er gleichzeitig seinen Geist hochschätzt. Es ist ein Lustgefühl für ihn, sich klein zu machen und zwischen anderen diese Qual zu verspüren und auch Rettung, sich aus dieser Erniedrigung in das "Schöne und Erhabene" zu flüchten. Er sagt bei der Verfolgung des Offiziers:
Ob es nun Demut ist, oder die Freude an der Demütigung, der Berichtende sucht Erlösung. Auch wird das besonders schön durch die Form seiner Rache sichtbar. Er beschließt, den Offizier, der ihn nicht kennt und nicht sieht, anzurempeln. Für diesen kleinen Akt, dessen Planung ihn in pure Euphorie versetzt, vollführt er einen riesigen Aufwand. So muss die richtige Kleiderwahl getroffen werden, wofür er sich ein ganzes Monatsgehalt auszahlen lässt, denn wenn er seine Rache schon auf diese Weise ausführt, muss alles auf "höherer Ebene" geschehen, also perfekt verlaufen. Da das Geld nicht ausreicht, muss er den Rest borgen (man bedenke, wofür das alles!!!). Dieses Geldleihen wird zur nächsten Tortour, zu einer "schmachvollen" und "quälenden" Angelegenheit, zudem bei einem "positiven Menschen", der nie Geld verleiht. (Fast erscheint es, als ob sich der Erzähler ganz absichtlich Schwierigkeitsgrade einbaut.)
Schließlich ist alles vorbereitet, doch der Mut verlässt den armen Burschen. (Das ist auch kein Wunder, wenn man eine Sache so krampfhaft beschließt und der ganze, zittrige Gedanke darauf ausgerichtet ist.) Kurz vor dem besagten und absichtlich herbeizuführenden Zusammenprall ändert er sein Vorhaben, während der Offizier ahnungslos und stolz an ihm vorübergeht. Und erst, als er endlich seine Rache fallenlässt, einfach beschließt aufzugeben, gelingt das Unternehmen, freilich, ohne dass der Unbekannte so richtig Notiz davon genommen hätte. Aber, das genügt. Der Protagonist kann sich nun mit Freude einreden, dass der Offizier nur so getan hat, als ob er nichts mitbekommen hat, auch das ist ein nährender Gedanke, und es stört ihn somit keinesfalls, dass er bei diesem Stoß schlechter davon gekommen ist und mehr Schmerz erlitten hat. Das Ziel ist erreicht, die Würde gerettet.
Dostojewski versteht es hier ganz phantastisch, diese Sinnlosigkeit der Rache in ein Gefühl und Ereignis zu packen. Ebenso die kleinen Zugeständnisse, die sich ein von Rache erfüllter Mensch macht, wenn sein Unternehmen mißlingt.
Solch ein "Leben" lässt sich nur mit der Phantasie aufrecht erhalten, die oben schon erwähnte Flucht in das "Schöne und Erhabene", dass egal welche kleine Rolle man in der Wirklichkeit spielt, die Rolle in Gedanken mächtig und strahlend ist.
... ein "edles Schlupfloch" vor der Gewöhnlichkeit und dem Alltäglichen. Auch so kann man sich eine Bedeutung verschaffen, sicherlich nur als Illusion und darum nicht erfüllend genug.
Es erscheint mir überhaupt, dass darin Dostojewskis Absicht lag, zu verdeutlichen, wie ein Mensch, der seine Handlung durch das Phantasieren ersetzt, völlig egal, ob im Sinne einer Rache oder einer Liebe, seiner Vernunft und dem wirklichen Leben allmählich entgleitet. Im Traum zu lieben, ohne je wirklich gelebt zu haben, in Traum eine Genugtuung zu planen, ohne sie je in diesem Ausmaß zu erfahren, ersetzt das Gefühl durch eine Vorstellung des Gefühls und kann somit keine langanhaltende Befriedigung bewirken.
Aus dem Kellerloch, der Vereinsamung, dem Rückzug vor der Welt gerät ein Mensch in ein abstraktes Denken von der Welt. Das alles muss sich dann auch in einen Aufschrei an die Welt entladen. Und das stellt in meinen Augen der hier geführte innere Monolog dar, der in diesem Verlauf unerhört bleibt und damit genau das darstellt, was er im Schrei beinhaltet. Er ist nur Ersatz für den echten Aufruf.
In Antwort auf:
Und warum sind Sie so fest, so feierlich überzeugt, dass ausschließlich das Normale und Praktische, mit einem Wort, dass nur das Wohlergehen für den Menschen vorteilhaft sei? Sollte sich die Vernunft nicht vielleicht doch täuschen in dem, was sie Vorteile nennt? Denn es wäre doch möglich, dass der Mensch nicht nur das Wohlergehen liebt! Vielleicht bringt ihm das Leid ebensoviel Gewinn wie das Wohlergehen? Und der Mensch liebt zuweilen wirklich das Leiden, bis zur Leidenschaft kann er es lieben, und das ist Tatsache.
Sich im Leid suhlen ... Schon aus der Bibel erfährt der Mensch, dass Leid erlöst. Das verdeutlicht der Erzähler nun mit einem Bericht aus seiner Vergangenheit. Denn:
Ohne ein reines Herz aber wird man niemals zu voller, rechter Erkenntnis gelangen.
Der Erzähler ist von einer erschreckenden Verachtung gegen sich selbst besessen und erhebt aus dieser Unsicherheit (diesem Spiel ?) die kleinsten Ereignisse zu bösartigen Angriffen gegen sich selbst. So packt ihn ein Offizier ohne nachzudenken an den Schultern und schiebt ihn zur Seite, um an ihm vorbeizukommen, und löst damit einen von nun an gut genährten Hass aus. Der Erzähler verfolgt den Unbekannten, erhebt sein Rachegefühl zum einzigen Lebensinhalt und steigert sich so sehr hinein, dass er entweder eine Entschuldigung benötigt oder sich auf der Stelle in einem Duell verlieren möchte. All das verfolgt er natürlich ebenso nur in der Überlegung.
Dass dieser Hass (diese Aufgabe) nur mit dem Entgegenkommen des Offiziers verlöschen kann, dem diese harmlose Geste nicht einmal aufgefallen ist, zeigt, dass der Erzähler keinen anderen Weg mehr sieht, ja darum bettelt, endlich durch eine einfach Geste erlöst und befreit zu werden. Erfolgt diese Geste nicht, explodiert das Gesteigerte in Unberechenbarkeit.
Weil es eine so große Belastung geworden ist, genügt eine Entschuldigung, um sofort ein Vergeben und Vergessen zu bewirken. Ja, es führt noch weiter, der Erzähler würde (beim Verständnis des anderen) Freundschaft schließen.
Das Wesen des Erzählers wird hier deutlicher:
In Antwort auf:
… Dass heißt, ich spazierte dort durchaus nicht, sondern empfand bloß unzählige Qualen und Demütigungen und fühlte die ganze Zeit, wie mir die Galle überlief, aber wahrscheinlich brauchte ich gerade das.
Er empfindet Genuss in der Demütigung, im Erniedrigtwerden, allerdings ist dieses aus seinem eigenen Denken erschaffen, nicht wirklich (also ein rein geistiger, innerer Prozess).
Das wird sichtbar in diesem Widerspruch, wenn der Erzähler sagt:
In Antwort auf:
… dass ich vor diesen Menschen eine Fliege war, eine ganz gemeine, unnütze Fliege, wenn ich auch klüger war als alle, entwickelter, edler – das versteht sich von selbst – so doch eine ihnen allen fortwährend ausweichende Fliege, die von allen erniedrigt und von allen beleidigt wurde.
Das Selbstverachten ist ein Mittel für ihn, um sich in eine Form der Selbstmarter zu steigern, während er gleichzeitig seinen Geist hochschätzt. Es ist ein Lustgefühl für ihn, sich klein zu machen und zwischen anderen diese Qual zu verspüren und auch Rettung, sich aus dieser Erniedrigung in das "Schöne und Erhabene" zu flüchten. Er sagt bei der Verfolgung des Offiziers:
In Antwort auf:Er berauscht sich an seinem Hass wie auch an seiner Selbstverachtung.
… ich berauschte mich an meinem Hass, wenn ich ihn beobachtete…
Ob es nun Demut ist, oder die Freude an der Demütigung, der Berichtende sucht Erlösung. Auch wird das besonders schön durch die Form seiner Rache sichtbar. Er beschließt, den Offizier, der ihn nicht kennt und nicht sieht, anzurempeln. Für diesen kleinen Akt, dessen Planung ihn in pure Euphorie versetzt, vollführt er einen riesigen Aufwand. So muss die richtige Kleiderwahl getroffen werden, wofür er sich ein ganzes Monatsgehalt auszahlen lässt, denn wenn er seine Rache schon auf diese Weise ausführt, muss alles auf "höherer Ebene" geschehen, also perfekt verlaufen. Da das Geld nicht ausreicht, muss er den Rest borgen (man bedenke, wofür das alles!!!). Dieses Geldleihen wird zur nächsten Tortour, zu einer "schmachvollen" und "quälenden" Angelegenheit, zudem bei einem "positiven Menschen", der nie Geld verleiht. (Fast erscheint es, als ob sich der Erzähler ganz absichtlich Schwierigkeitsgrade einbaut.)
Schließlich ist alles vorbereitet, doch der Mut verlässt den armen Burschen. (Das ist auch kein Wunder, wenn man eine Sache so krampfhaft beschließt und der ganze, zittrige Gedanke darauf ausgerichtet ist.) Kurz vor dem besagten und absichtlich herbeizuführenden Zusammenprall ändert er sein Vorhaben, während der Offizier ahnungslos und stolz an ihm vorübergeht. Und erst, als er endlich seine Rache fallenlässt, einfach beschließt aufzugeben, gelingt das Unternehmen, freilich, ohne dass der Unbekannte so richtig Notiz davon genommen hätte. Aber, das genügt. Der Protagonist kann sich nun mit Freude einreden, dass der Offizier nur so getan hat, als ob er nichts mitbekommen hat, auch das ist ein nährender Gedanke, und es stört ihn somit keinesfalls, dass er bei diesem Stoß schlechter davon gekommen ist und mehr Schmerz erlitten hat. Das Ziel ist erreicht, die Würde gerettet.
Dostojewski versteht es hier ganz phantastisch, diese Sinnlosigkeit der Rache in ein Gefühl und Ereignis zu packen. Ebenso die kleinen Zugeständnisse, die sich ein von Rache erfüllter Mensch macht, wenn sein Unternehmen mißlingt.
Solch ein "Leben" lässt sich nur mit der Phantasie aufrecht erhalten, die oben schon erwähnte Flucht in das "Schöne und Erhabene", dass egal welche kleine Rolle man in der Wirklichkeit spielt, die Rolle in Gedanken mächtig und strahlend ist.
In Antwort auf:
Entweder Held oder Schmutz, eine Mitte gab's nicht. Das war's ja, was mich verdarb, denn im Schmutz beruhigte ich mich damit , dass ich zu anderen Zeiten wiederum Held war, der Held aber den Schmutz zur Null macht.
... ein "edles Schlupfloch" vor der Gewöhnlichkeit und dem Alltäglichen. Auch so kann man sich eine Bedeutung verschaffen, sicherlich nur als Illusion und darum nicht erfüllend genug.
Es erscheint mir überhaupt, dass darin Dostojewskis Absicht lag, zu verdeutlichen, wie ein Mensch, der seine Handlung durch das Phantasieren ersetzt, völlig egal, ob im Sinne einer Rache oder einer Liebe, seiner Vernunft und dem wirklichen Leben allmählich entgleitet. Im Traum zu lieben, ohne je wirklich gelebt zu haben, in Traum eine Genugtuung zu planen, ohne sie je in diesem Ausmaß zu erfahren, ersetzt das Gefühl durch eine Vorstellung des Gefühls und kann somit keine langanhaltende Befriedigung bewirken.
Aus dem Kellerloch, der Vereinsamung, dem Rückzug vor der Welt gerät ein Mensch in ein abstraktes Denken von der Welt. Das alles muss sich dann auch in einen Aufschrei an die Welt entladen. Und das stellt in meinen Augen der hier geführte innere Monolog dar, der in diesem Verlauf unerhört bleibt und damit genau das darstellt, was er im Schrei beinhaltet. Er ist nur Ersatz für den echten Aufruf.
Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 26.10.2007 16:21 |
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#23
von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
RE: Dostojewski
in Die schöne Welt der Bücher 28.10.2007 14:17von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Ganz erschütternd ist gegen Ende der Erzählung die Zusammenkunft mit den ehemaligen Schulfreunden, die der Erzähler so sehr verachtet und die ihn durch seine eigene Verachtung ebenso wenig schätzen. Hier artet dieses Traumgebilde, diese „verkehrte Welt“ in ein Dilemma aus, was letztendlich bewirkt, dass der Protagonist sich so sehr in seiner Wut verfängt, dass er schon fast ohnmächtig beschließt, bis zum bitteren Ende gehen zu müssen (selbst eine Verbannung nach Sibirien in Kauf nimmt), um sich darüber dann sein ganzes Versagen zu erklären und vor allen Dingen dann auch vor den anderen Menschen zu rechtfertigen.
Durch diesen ganzen Irrsinn, den er sich hier auflädt, indem er sich selbst einer für alle so unangenehmen Situation ausliefert, wird das ganze Lesen zur Anspannung.
Der eigene Wille verliert sich zum unaufhaltsamen Trieb, der durch nichts und niemanden gebremst werden kann und sich dabei doch nur aus dieser grausamen Einsamkeit nährt.
Im Gespräch mit der Prostituierten, die der Erzähler wieder auf den rechten Weg bringen möchte, wird diese „Romantik“ deutlich, in der er lebt. Seine Rede ist aufrichtig und wahrhaft, trotzdem fürchtet er sich danach, dass er hier erfolgreich war, das Mädchen überzeugt hat und sie ihn schließlich in seiner Wohnung aufsucht, wo er vom romantischen Helden, der ihre Seele gerettet hat, zum armen Mann in der Kellerwohnung schrumpft. Sein Griff aus der Phantasie eines angewandten edlen Herzens verlischt in der Wirklichkeit.
Mit echten Tatsachen konfrontiert sagt der Erzähler:
Und er verallgemeinert auch, denn in seinen Augen zieht der Mensch eine fiktive Phantasiewelt immer dem echten Leben vor.
Der Mensch ist nicht fähig, seine eigene "Macht" zu erkennen:
Kein Wunder, dass man nach solchen Sätzen Dostojewski mit gefurchter Stirn zu schätzen lernt. Was mich ein bisschen wundert, ist, dass Nietzsche aus dieser Schrift so viel Nutzen gezogen hat. Ist ihm der "Aufschrei" des Menschen aus dem Untergrund, der am Ende sagt: Ich mag nicht mehr aus dem Untergrund schreiben! entgangen? Oder hat er genau diese Art zu denken auf den allgemeinen Menschen projiziert?
Der Allmensch, zu dem sich der Mensch erhebt, wo er sich in Gedanken zum "perfekten" über alles stehenden, mächtigen Menschen macht, während er in der Wirklichkeit versagt, erinnert mich stark an den Übermenschen, den Nietzsche später entwickelt.
Ich aber verstehe Dostojewski hier so, dass der ganze Charakter dieser Erzählung, - dieser Beichte, seine Grausamkeit nur durch seinen Rückzug vor der Welt entwickelt, durch den er dann unsicher wird (siehe den Zusammenbruch vor dem gefallenen und wieder auferstandenen Mädchen Lisa), und dass dieser Rückzug nur in der Phantasie ertragbar geworden ist, wobei sich das "lebendige", also echte Leben neben dieser Welt langsam verliert. Wird der Mensch dann trotzdem mit der Wirklichkeit konfrontiert, entwickelt er aus der Unsicherheit Aggressionen, wird grausam. Wenn die echte Welt also durch eine Traumwelt abgelöst wird, verkommt diese allmählich, weil der Mensch hier nur "erfüllt" (ohne Liebe zum Leben, eher wie eine Pflicht), während er die Phantasie immer vorzieht, weil er sie kontrollieren kann, weil sie einfacher und angenehmer ist, als die Wirklichkeit. Wo er hier Held ist, versagt er aus Angst im echten Leben.
Die Grundaussage bleibt: Statt die Welt zu verbessern, klagen wir sie an und ergreifen die Flucht. Wen sollte es dann noch wundern, wenn darüber das echte Leben zur Last gerät.
Wir erheben uns lieber zu einem Ideal in einem Traum, in unseren Vorstellungen, als "lebendig" in der Welt nach den eigenen Idealen zu handeln.
Der Übermensch aber ist nichts anderes als ein erdachtes Ideal, welches der Erzähler in diesen Aufzeichnungen doch gerade anprangert.
Eine sehr gelungene, beklemmende Erzählung. Sie hinterlässt viel Raum zum Nachdenken.
Durch diesen ganzen Irrsinn, den er sich hier auflädt, indem er sich selbst einer für alle so unangenehmen Situation ausliefert, wird das ganze Lesen zur Anspannung.
Der eigene Wille verliert sich zum unaufhaltsamen Trieb, der durch nichts und niemanden gebremst werden kann und sich dabei doch nur aus dieser grausamen Einsamkeit nährt.
Im Gespräch mit der Prostituierten, die der Erzähler wieder auf den rechten Weg bringen möchte, wird diese „Romantik“ deutlich, in der er lebt. Seine Rede ist aufrichtig und wahrhaft, trotzdem fürchtet er sich danach, dass er hier erfolgreich war, das Mädchen überzeugt hat und sie ihn schließlich in seiner Wohnung aufsucht, wo er vom romantischen Helden, der ihre Seele gerettet hat, zum armen Mann in der Kellerwohnung schrumpft. Sein Griff aus der Phantasie eines angewandten edlen Herzens verlischt in der Wirklichkeit.
Mit echten Tatsachen konfrontiert sagt der Erzähler:
In Antwort auf:
Das „lebendige Leben“ bedrückte mich aus Ungewohntheit dermaßen, dass ich nach Atem rang.
Und er verallgemeinert auch, denn in seinen Augen zieht der Mensch eine fiktive Phantasiewelt immer dem echten Leben vor.
In Antwort auf:
Denn wir haben uns doch alle vom Leben entwöhnt, alle lahmen wir, ein jeder mehr oder weniger. (...) Sind wir doch sogar schon so weit gekommen, dass wir das wirkliche "lebendige Leben" für Mühe, für eine Last, beinahe für Frondienst halten, und im geheimen sind wir uns vollkommen einig, dass es besser ist, literarisch zu sein.
Der Mensch ist nicht fähig, seine eigene "Macht" zu erkennen:
In Antwort auf:
So blicken Sie doch aufmerksamer hin! Wir wissen ja nicht einmal, wo das Lebendige jetzt lebt, was es eigentlich ist (...) Man versuche es doch: lasst uns allein, nehmt uns die Bücher, und wir würden uns sofort verlieren und verirren, würden nicht wissen, an wen uns anschließen, an was uns halten, was lieben und was hassen, was hochachten und was verachten. Es ist uns ja sogar schon lästig, Menschen zu sein, Menschen mit wirklichen, eigenem Leib und Blut; wir schämen uns dessen, halten es für Schande und drängen uns dazu, irgendwelche noch nie dagewesenen Allmenschen zu sein.
Kein Wunder, dass man nach solchen Sätzen Dostojewski mit gefurchter Stirn zu schätzen lernt. Was mich ein bisschen wundert, ist, dass Nietzsche aus dieser Schrift so viel Nutzen gezogen hat. Ist ihm der "Aufschrei" des Menschen aus dem Untergrund, der am Ende sagt: Ich mag nicht mehr aus dem Untergrund schreiben! entgangen? Oder hat er genau diese Art zu denken auf den allgemeinen Menschen projiziert?
Der Allmensch, zu dem sich der Mensch erhebt, wo er sich in Gedanken zum "perfekten" über alles stehenden, mächtigen Menschen macht, während er in der Wirklichkeit versagt, erinnert mich stark an den Übermenschen, den Nietzsche später entwickelt.
Ich aber verstehe Dostojewski hier so, dass der ganze Charakter dieser Erzählung, - dieser Beichte, seine Grausamkeit nur durch seinen Rückzug vor der Welt entwickelt, durch den er dann unsicher wird (siehe den Zusammenbruch vor dem gefallenen und wieder auferstandenen Mädchen Lisa), und dass dieser Rückzug nur in der Phantasie ertragbar geworden ist, wobei sich das "lebendige", also echte Leben neben dieser Welt langsam verliert. Wird der Mensch dann trotzdem mit der Wirklichkeit konfrontiert, entwickelt er aus der Unsicherheit Aggressionen, wird grausam. Wenn die echte Welt also durch eine Traumwelt abgelöst wird, verkommt diese allmählich, weil der Mensch hier nur "erfüllt" (ohne Liebe zum Leben, eher wie eine Pflicht), während er die Phantasie immer vorzieht, weil er sie kontrollieren kann, weil sie einfacher und angenehmer ist, als die Wirklichkeit. Wo er hier Held ist, versagt er aus Angst im echten Leben.
Die Grundaussage bleibt: Statt die Welt zu verbessern, klagen wir sie an und ergreifen die Flucht. Wen sollte es dann noch wundern, wenn darüber das echte Leben zur Last gerät.
Wir erheben uns lieber zu einem Ideal in einem Traum, in unseren Vorstellungen, als "lebendig" in der Welt nach den eigenen Idealen zu handeln.
Der Übermensch aber ist nichts anderes als ein erdachtes Ideal, welches der Erzähler in diesen Aufzeichnungen doch gerade anprangert.
Eine sehr gelungene, beklemmende Erzählung. Sie hinterlässt viel Raum zum Nachdenken.
Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 28.10.2007 20:51 |
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#24
von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
RE: Dostojewski
in Die schöne Welt der Bücher 11.11.2007 15:43von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Heute ist der 186. Geburtstag von Fjodor M. Dostojewski.
(Ich nehme an, ihn wird das eher weniger interessieren.)
(Ich nehme an, ihn wird das eher weniger interessieren.)
Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 11.11.2007 15:47 |
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Dostojewski: "Die Sanfte"
Zitat von Dostojewski
...Solange sie hier liegt, ist ja noch alles gut: jeden Augenblick kann ich zu ihr gehen und sie ansehen...Aber morgen, wenn man sie fortträgt, wie...wie soll ich dann allein bleiben?
Ein Pfandleiher heiratet ein völlig verarmtes sechzehnjähriges Mädchen, um von ihr verehrt zu werden, schließlich habe er sie ja aus der Armut geholt, außerdem von ihren entsetzlich bösen Tanten befreit, unter denen das Mädchen wie eine Sklavin behandelt worden war. Ihre Ehe mit dem wesentlich älteren Pfandleiher erweist sich aber als Katastrophe.
Der Protagonist, ehemals ein Offizier, der unehrenhaft aus der Armee entlassen wird, treibt sich völlig verarmt auf der Straße herum, bis eine kleine Erbschaft es ihm ermöglicht, seinen Lebensunterhalt als Pfandleiher aufzubauen. Dieser Pfandleiher heiratet nun das Mädchen, um in ihr Selbstbestätigung zu finden, weil er sich innerlich noch als Versager fühlt. Es scheint, er will die Strenge, die er beim Militär erfahren hat, zu Hause fortsetzen und mit unerhörter egoistischer Machtgier die Scham übertünchen, die ihm eine Narbe in seiner Seele geschlagen hat. Völlig überbläht und selbstherrlich:
Zitat von Dostojewski
...ich bin's, dem sie eine Wohltat erweisen würde, nicht umgekehrt -
...
Im Herzen aber wollte ich, daß sie mich anbetete.
Er will das, weil er eben selber unglücklich war:
Zitat von Dostojewski
Oh, auch ich war doch unglücklich! Ich war von allen verstoßen, verworfen und vergessen worden, und keiner, kein einziger wußte das!
Als Pfandleiher hat er außerdem die Möglichkeit, sich an der Gesellschaft zu rächen. Völlig abgedreht von der Realität, im Wahn seiner Rache, merkt er es erst zu spät, dass er das sanftmütige Wesen, seine Frau, die trotz ihrer Armut nie ihren Stolz nie verloren hat, regelrecht aus dem Leben gedrückt hat. In dem Dostojewski das Verhalten der Frau umschreibt, lässt seinen Leser in die Seele der Frau blicken. Es ist so, ich stelle es mir so bildhaft vor, als wenn jemand einem Vögelchen die Kehle zudrückt. Ja, solch eine schaurige Wirkung transportiert die Geschichte.
Der Pfandleiher wollte sie nach seinen Vorstellungen Formen, macht sie aber zum seelischen Krüppel. Eine tiefe Seelenschau.....am Ende bleibt der Mann wieder allein. Die grausame Einsamkeit erreicht ihn wieder.
Ja, eine sehr ergreifende Geschichte.
Liebe Grüße
Martinus
„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
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#26
von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
RE: Dostojewski
in Die schöne Welt der Bücher 13.01.2009 17:08von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Ich komme sowieso nie von ihm los. Einmal einen Blick in die Briefe geworfen, und schon treibt es mich wieder in seiner Literatur. Wiederholt und immer wieder neu begeistert, bleibe ich zurück, schaue ehrfürchtig auf diesen Mann, wie er ehrfürchtig in die Welt geblickt hat.
Gide schreibt über die Briefe Dostojewskis, man erwartet einen Gott und findet einen armen, kranken, sich unablässig mühenden Menschen.
Dostojewski sei kein Briefeschreiber, heißt es im Vorwort, weil die Dinge, über die er schreibt, zumeist aus der finanziellen Krise heraus verfasst wurden. Aber gerade das ist doch interessant daran, nicht der stete Gedankengang über Literatur und Kunst, sondern das Nackte im Menschen, sein wahres Abbild, dass in Zeiten des Hungers und der eigenen Schwächen nicht an diese Dinge denken kann. Es ist nicht ganz so, dass alles banal und schnell geschrieben ist, auch wenn Dostojewski selbst nur allzu oft betont:
"Briefe sind Unsinn, nur Apotheker schreiben Briefe!"
... wobei er hier Gogol zitiert, aus seinen "Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen".
Zu Beginn seiner Briefe, in jungen Jahren, besonders in den Briefen an den Bruder philosophiert er viel, führt das Streitgespräch über die Kunst und die Literatur. Da rattert ein köstlicher Denkapparat, diese „Maschine Verstand“, mit der er die Welt und die Poesie betrachtet.
Was erwarten die Menschen nur immer, wenn sie in die intim privaten Briefe großer Köpfe blicken? Erwarten sie die ständige Erneuerung kolossaler Gedanken? Ein ewiger Reigen an Ideen, die sich an den Händen halten und im Tanz um die Muse kreisen, als wäre sie selbstverständlich, immer ein loderndes Licht zwischen den Denkvorgängen des Schriftstellers? Das ist mir schon öfter aufgefallen, dass Enttäuschung aufkommt, sobald ein Schriftsteller im Alltag auf einmal ein ganz alltäglicher Mensch wird. Die Erwartung an die Schatztruhe der Gedanken in Briefen ist hoch, und darunter waren sicherlich einige, die gute Briefe schrieben, die in jeden Brief, den sie schrieben, schon etwas von dieser Ahnung hineinlegten, dass vielleicht einmal andere Augen darauf blicken würden, die an Freunde schrieben, indem sie an viele schrieben (z. B. Sartre in Tagebuch und Briefform, weil er wusste, dass nicht nur Beauvoir, sondern auch etliche seiner anderen Geliebten und die Welt einen Blick darauf werfen könnten), aber in diesen Briefen steckt das Künstliche, der Nachgeschmack der Berechnung, und sei es im kleinsten Satz, sei es im weggelassenen Aufschrei oder gestrichenen Satzfetzen, der vielleicht etwas an Schwäche offenbart. All das ist das blanke Werk eines Schriftstellers, der glänzen, der sich von seiner besten Seite zeigen möchte. Da ist mir der Alltag eines Dostojewskis doch lieber, auch wenn ein guter Briefwechsel sicherlich ebenso Begeisterung hervorrufen kann. Nur ist er eben ein Werk, nicht wirklich, nicht der nackte Mensch, wie er tatsächlich war. Und, wer will schon immer von einem Gott lesen?
Es ist bedauerlich, wie Dostojewski während seiner Verbannung in seinen Briefen um die Gunst des Bruders kämpfen muss, der ihm nicht schreibt. Er bettelt um Zuwendung, betont, dass er an den Bruder glaubt, der ihn dort im Lager zurücklässt und sich selbst vor ihm zurückzieht. Dostojewski versucht in einem inoffiziellem Brief zu erzählen, was er erlebt, um das Herz des Bruders zu rühren, er erzählt nicht gefühlsduselig, sondern so, wie es ist, mit dem Versuch, den anderen zu überzeugen.
Man hat so viel Mitgefühl mit dem Mann, der alle Mittel versucht, um ein Wort zu vernehmen, von dem, der ihn verlassen hat. Er erzählt, er bittet in einer (für den Leser) mächtigen Ausführlichkeit. "Um Gottes Willen" ist ein sehr häufiger Ausspruch Dostojewskis. Ich meine, es ist ein Brief, und zum Glück weiß man, dass daraus auch später ein Buch geworden ist (Aufzeichnungen aus dem Totenhaus). Dieses Leid der Umstände und das Schweigen des Bruders sind sehr bewegend. Davon abgesehen, dass die brüderliche Hilfe bei dieser Herzlichkeit, die zuvor zwischen ihnen geherrscht hat und in der russischen Familie eigentlich üblich ist, ganz natürlich wäre, ja Bedingung, so bittet Dostojewski um Geld, indem er immer wieder betont, dass es dem Bruder nicht zum Schaden sein soll, dass er es ihm, sobald er wieder schreiben kann, zurückzahlen wird. Diese Notwendigkeit der Rechtfertigung, vielleicht, weil er gewohnt ist, Schulden zu machen und sich erklären zu müssen. Als ob er hier selbst zu einer Investition geworden ist, die er preisen muss, um sie an den Mann zu bringen, ähnlich, wie er dem Bruder zuvor den Selbstdruck schmackhaft machen wollte, an dem er sich mit einem Viertel beteiligen sollte, damit Dostojewski nicht immer von den Buchhändlern ausgenommen werden würde. Der Bruder hat das Geld nicht geschickt, weil es ihm wohl selbst nicht besonders gut ging. Auch hatte er eine Familie zu ernähren. Dort preiste Dostojewski die Vorteile, wenn er etwas Geld, das er zurückbekommen sollte, auslieh, wie er jetzt sich selbst und sein Können preist, um überleben zu können.
Dostojewski ist sehr ehrfürchtig. Trotz, dass er ungerechter Weise (wobei er selbst seine Schuld eingesteht) zum Tode verurteilt, begnadigt und verbannt wurde, ist er dem Zaren treu und dankt ihm (auch im Brief). Man sieht hier eine Form der "buddhistisch" angehauchten, christlichen und leidenden Seele. Es ist nicht abzustreiten, dass das Leid erst sichtbar macht, was man am Leben hat. Ein Mensch, der nie gelitten hat, wird das Leben nie zu schätzen wissen, wird fast gedankenlos vor sich hin leben. Vielleicht ist das sogar das Dilemma vieler Menschen, warum sie auch nicht begreifen, dass man ein Recht darauf hat, das Leben zu genießen, glücklich sein zu wollen usw. Die Behauptung allerdings, das Leid sollte ein Dauerzustand sein oder als normal angesehen werden, streite ich ab und sehe es eher wie Anais Nin, die so schön sagte:
Denn, wer durch Leid die Liebe zum Sein erkannt hat und sich immernoch quält, der liebt sich selbst nicht genügend, um in der Welt zu existieren, um sich selbst und dadurch anderen etwas geben zu können. Ein Leben des Schmerzes ist vergeudet, insbesondere, wenn es durch die seelische Selbstfolter herbeigeführt wird. Dostojewski ist ein Mensch, der durch sein Schicksal erkannt hat, was er war (unreif), was das Leben ist und was er möchte. Dafür ist er dankbar, warum er verzeihen kann, warum ihn nicht die Wut durchdringt, was in solch einem Fall vielleicht normal wäre. Er ist überhaupt ein sich unterwerfender Mensch. Er weiß um seine Schwächen, glaubt sich auf die Hilfe anderer verlassen zu müssen. Er hat keine Scheu, unterwürfig aufzutreten, gar zu betteln (was sich mit seiner Spielsucht nachher noch verstärkt, wo er manchmal geradezu unverfroren „in liebenswürdigen Worten“ verlangt.) Die Entwicklung zur Sucht war in seinem Wesen übrigens schon erkennbar, denn er fordert oft von anderen, wobei er beim Spiel die Grenzen vielleicht auch nur darum überschreitet und ausreizt, weil er im Hinterkopf die Möglichkeit hat, bei anderen um Geld zu bitten. Seine Angewohnheit, Schulden zu machen, verhilft ihm zu einem Abschalten vor dem Spiel.
Sartre hat das in "Das Sein und das Nichts" gut ins Wort gefasst:
Das trifft auf Dostojewski in jeder Hinsicht zu. Auch spricht dafür sein eigenes Werk "Der Spieler". Sein ganzes Wesen ist das ständige Sich-selbst-Zurechtweisen, das bereits das Versagen in sich trägt, weil er ein ehrfürchtiger, aber schwacher Mensch ist, der die Welt bewundert, und sich selbst darin als klein wahrnimmt. Er heiratet eine Witwe mit Kind nur aus Mitgefühl, aus dem Liebe erwächst. Nur im Schreiben ist sein Wesen stark, das heißt auch unruhig und rasend, voller Leidenschaft und Schatten, mit einem scharfen Verstand, während es im Leben ruhig und schwach ist. Das sind interessante Gegensätze. Als ob er sich erst im Schreiben zum starken Menschen entwickelt. Darum lebt er dafür, während das echte Leben für ihn nichts als Kummer bedeutet.
Das, was Gide die Banalität in Dostojewskijs Briefen nennt, wird im Laufe der Zeilen durch die Geldsorgen sichtbar. Er rät seinem Bruder zu einem außergewöhnlichen Vorgang, um die Großmutter um eine große Summe zu bitten. Dieser ganze Handlungsablauf ist von Dostojewski so gestaltet, als würde er einen Roman entwerfen, ein Plan, der sich auf das echte Leben kaum anwenden lässt.
Durch die ewige Angewohnheit, Schulden zu machen, verrückt in seinem Kopf der Bezug zur Welt und zu den Menschen. Er redet von Wahrheit, dass der Bruder den Verwandten vorwerfen soll, sie würden sonst ein Menschenleben auf dem Gewissen haben, eine schreckliche Sünde begehen und ähnliches. Es ist erschreckend, wie er seinen Plan entwirft, und wie könnte man ihm dann verzeihen, wenn er doch längst kein Kind mehr ist, denn es sind recht kindliche Gedanken und Vorstellungen. Der Bruder geht auf seine Vorschläge zum Glück nicht ein. Auch lügt er gerne, verdreht Zeiten, vertröstet Verleger, von denen er Geld geliehen hat. Ein spannender Mensch voller Zwiespalt.
Zu "Der Doppelgänger":
Es gibt, glaube ich, wenige Romane, die so rasend, mit so unruhiger Stimmung verfasst wurden. Beeindruckend, die Spannung, die Dostojewski erzeugt, dieses Anteilnehmenlassen an der Unruhe des Herumirrenden, seine Zerfahrenheit, die auf den Leser übergeht, ihn aufwühlt und ihn nötigt, immer mehr wissen zu wollen, die Dinge aufzuklären, zu erfahren, was da genau geschieht. Er wird zum Komplizen gemacht, der ständig durchdenkt, was da genau geschieht. Denn so oder so, nichts liegt offen, alles bleibt in der Verwirrung des Protagonisten verschlossen.
Goljädkin mietet sich für einen Tag eine edle Equipage, zwingt sich selbst und den Diener in elegante Kleidung und macht sich auf den Weg in die Stadt, wobei ihm in anderer Kutsche der Chef seiner Abteilung begegnet, dessen Neugierde ihn unangenehm berührt, worauf er beschließt, diesen nicht zu grüßen, sondern so zu tun, als wäre er ein Anderer, nur einer, der ihm ähnlich sieht. Als die Kutsche vorüberzieht, und er wieder für sich ist, fährt ihm der Schreck durch die Glieder, denn in neuer Klarheit wird ihm bewusst, wie seltsam er gehandelt hat. So beginnt der Roman und deutet schon darauf hin, dass Goljädkin keine Kontrolle über sich hat.
Er gehört zu den Menschen, die von sich sagen:
Im Gespräch mit dem Arzt erfährt der Leser dann, dass Goljädkin in einem schlimmen Dilemma steckt. Was genau passiert ist, was da in seinem Inneren tobt, wird nicht ganz offensichtlich, ich hatte die Vermutung, dass er bei der Arbeit übergangen wurde, dass der Neffe des Chefs die Beförderung statt seiner erhalten hat. Seitdem eilt er konfus durch die Welt, will seine "Feinde" besiegen, deckt sich mit Einkäufen zu, die er nur organisiert, nicht bezahlt oder gar kauft, lässt sich durch die Stadt fahren und wartet ungeduldig, bis es Zeit zu einem Diner wird, dass ein angesehener Staatsrat und Gönner Goljädkins geben wird. Doch dann geschieht etwas Tragisches, er wird vom Diner (und dem Diener) abgewiesen, ihm wird mitgeteilt, dass man ihn nicht empfangen will. Ab hier wird dann alles konfus.
Es ist faszinierend, wie Dostojewskij hier Verwirrung stiftet, indem er viele Dinge nur andeutet. Der Leser kriecht in den Kopf des Protagonisten, kann sich nur anhand der Verwirrung Goljädkins mögliche Vorgänge zusammenbasteln. Etwas erkennt man auch den Zug des Kellerlochbewohners, der noch nicht existiert, dieses rastlose Wesen, der hinter allem etwas vermutet, der sich rächen möchte, der betont, dass ihm die Maske, die Gesellschaft nicht reizt, während er sich zurückgestoßen fühlt, wenn er nicht erwünscht ist, und doch all das hinter einer mächtigen Maske verbirgt.
Durch den heimlichen Zutritt zum gegebenen Fest, wobei Goljädkin dann mitten im Geschehen ist und von allen angestarrt wird, zerbricht etwas in ihm. Er befindet sich an der Grenze zum Wahnsinn. Einerseits ist er von einem Verfolgungswahn gepackt, schon vorher, sieht in allen Feinde, wohl durch seinen Rückzug vor der Welt begründet, und trifft dann, nach dem Zusammenbruch und dem Rauswurf, auf seinen eigenen Doppelgänger, ein schizophrener Akt, der nur angedeutet wird. Man überlegt hier ständig, was genau passiert, weil der Doppelgänger in seine Wohnung geht und dort auf ihn wartet, weil sich Traum und Wirklichkeit vermischen, alles irgendwie vor den Augen schwankt, verschleiert oder verwirrt. Was bleibt, ist nur noch Innenblick Goljädkins.
Vielleicht hat sich Goljädkin, durch den Verlust seines Gönners, der ihm sein Wohlwollen versagt (was ja eigentlich nicht wirklich geschieht, nur die Verwirrung Goljädkins darstellen soll), den Doppelgänger seiner selbst erschafft, durch den wiederum er zu dessen Gönner wird, damit sich selbst einen neuen Gönner verschafft. Eine Art, sich selbst höher zu stellen, indem er einem fremden und mittellosen Menschen hilft, während er sich eigentlich selbst helfen möchte.
Dass ihn die anderen Menschen auch sehen, muss nicht darauf hindeuten, dass der Doppelgänger wirklich ist, denn auch das Umfeld Goljädkins kann in dessen Kopf und Phantasie kreiert sein und stattfinden.
Er sitzt sich selbst gegenüber, was deutlich wird, weil auch der andere in einer Notlage ist, seine Feinde fürchtet. Vielleicht erschafft er sich selbst mehrere Jahre vorher, um sich zu betrachten und darüber zu reflektieren, was es über seine jetzige Situation aussagt.
Auch, dass er sich über das „Gespräch“ mit dem Doppelgänger auf einmal wohlfühlt und das Leben genießt, indem er den Rat des Arztes befolgt und "den guten Tropfen" genießt, kein Kostverächter mehr ist, zeigt, dass dahinter etwas anderes liegt, als ein wirklicher Mensch. Vielleicht musste er ihn erschaffen, um endlich neu reagieren zu können, aus einem alten Trott ausbrechen zu können. Sein Rückzug vor der Welt lag vielleicht daran, dass er die Arbeit längst verloren hat (warum sonst sollte er seinen Chef nicht grüßen und sich zu einem Anderen erklären), damit waren seine Feinde geboren, und das einzige, was ihm blieb, war die Erschaffung eines Freundes, der, weil alle anderen Feinde sind, aber sein Gesicht und seine Geschichte tragen musste. Die Geldsumme am Anfang des Romans deutet ebenso darauf hin, dass er die Arbeit schon vor dem Beginn des Romans verloren hat, hinausgeschmissen wurde (vielleicht darum auch das Sinnbild des Balles, wo er nicht mehr willkommen war, weil er nicht mehr Mitarbeiter war). Sie kann Abfindung gewesen sein, denn er leistet sich auf einmal Dinge, die er sich vorher nicht geleistet hat, weil sein Leben sich schlagartig verändert hat, eine größere Summe ins Haus gekommen ist, die ihn für einen Moment das Gefühl gibt, reich zu sein. Ebenso der Gedanke beim Einkauf, als die großen Scheine gewechselt wurden und dann zu kleinen wurden, die aber in größerer Anzahl den Geldbeutel dicker machten. Daran ist zu erkennen, dass er die kleinen Scheine gewohnt war. Auch gibt er das meiste Geld nicht aus, sondern macht nur das Versprechen einer Anzahlung auf einen Kauf.
Die Reaktion des Dieners deutet auch auf die Schizophrenie des Protagonisten hin, allerdings nicht deutlich. Vielleicht macht er gezwungenermaßen das „Spiel“ seines Herrn mit, dass dieser ihm zuvor erklärt hat, wie er zu reagieren habe, wenn er den „anderen Herrn“ erwähnt. All das sind Überlegungen, die man als Leser anstellen kann, während man im Text weitertreibt.
Die nächste Ungereimtheit ist die Unterscheidung Dostojewskis mit Goljädkin der Ältere und der Jüngere. Damit kommt der Verdacht auf, dass der Ältere sich hier durch den Jüngeren noch einmal verständlich macht, warum er hinausgeschmissen wurde. Auch scheint seine Verwirrung Grund gewesen zu sein, die er aber in klaren Gedanken betrachtet, dass daraus der Jüngere entsteht, als es ihm noch gesundheitlich besser ging. Die Kollegen fragen ihn, ob es ihm gut geht oder können mit seiner Art zu reden nicht umgehen. Es scheint ein Konkurrenzkampf zwischen den beiden Ichs von Goljädkin: das alte und das neue Ich.
Dann kehrt sich der Doppelgänger auch noch gegen ihn, verrät ihn, wird zum Feind. All das wirkt wie ein Selbsthass oder die drohende Gefahr des Verfolgungswahns.
Dass Goljädkin sich in irgendeiner Art und Weise schon vor dem Ball kompromittiert hat, wird sichtbar durch die Reaktion seiner Kollegen, die zwar unter ihm arbeiten, ihn aber auslachen, als er das Wort an sie richtet. Zudem scheint der Büroalltag im Konkurrenzkampf zwischen Alt und Jung nur noch Fiktion zu sein, weil vieles darin wie ein böser Albtraum wirkt.
Natürlich klärt sich, wenn man sich auf diese Sichtweise Goljädkins eingelassen hat, einiges für den Leser auf.
Es ist, als würde Goljädkin mit dem Engel und dem Teufel auf der Schulter ringen, als ob der Ältere seine guten Werte beinhaltet, während der Jüngere all das verkörpert, was er ablehnt, den Verrat, das Falsche, die Maske.
Ob Goljädkin der Jüngere letztendlich wirklich existiert hat, bleibt ungewiss, denn einmal entdeckt Goljädkin selbst die Veränderung, dass sein Doppelgänger zu einem jungen, ihm fremden Beamten wird. Vielleicht ist der Neuangestellte ein bedrohliches Bild, auf das er seine Ängste projiziert hat. Auch wird der Arzt einmal zu der Bedrohung des Doppelgesichts, später dann zu dem Gesicht der Gefahr, der Teufel, der ihn holt, weil er ahnt, dass er nun eingewiesen wird. Dass Goljädkin der Jüngere in jedem Fall ein Wahngebilde ist, ist unbestreitbar.
Unbestreitbar ist auch, dass der Roman ein Meisterwerk ist, ein tief psychologisch angelegter und gehetzter Lauf, dem sich der Leser nicht entziehen kann, in den er hineingezerrt, von dem er verschlungen und voller Unruhe wieder ausgespuckt wird. Ein offenes Werk, eine Glanzleistung.
Warum Dostojewskijs Werk als schwere Kost gilt, habe ich jetzt begriffen. Es geht nicht um den tiefen Inhalt oder den philosophischen Sinn, sondern um das Rastlose. Seine Romane sind voller Emotion, Unruhe, Wahnsinn, der sich ganz allmählich auf den Leser übertragen kann, der selbst rastlos wird, die Zeilen immer rasender in sich aufnimmt und lange aufgewühlt zurückbleibt.
Gide schreibt über die Briefe Dostojewskis, man erwartet einen Gott und findet einen armen, kranken, sich unablässig mühenden Menschen.
Dostojewski sei kein Briefeschreiber, heißt es im Vorwort, weil die Dinge, über die er schreibt, zumeist aus der finanziellen Krise heraus verfasst wurden. Aber gerade das ist doch interessant daran, nicht der stete Gedankengang über Literatur und Kunst, sondern das Nackte im Menschen, sein wahres Abbild, dass in Zeiten des Hungers und der eigenen Schwächen nicht an diese Dinge denken kann. Es ist nicht ganz so, dass alles banal und schnell geschrieben ist, auch wenn Dostojewski selbst nur allzu oft betont:
"Briefe sind Unsinn, nur Apotheker schreiben Briefe!"
... wobei er hier Gogol zitiert, aus seinen "Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen".
Zu Beginn seiner Briefe, in jungen Jahren, besonders in den Briefen an den Bruder philosophiert er viel, führt das Streitgespräch über die Kunst und die Literatur. Da rattert ein köstlicher Denkapparat, diese „Maschine Verstand“, mit der er die Welt und die Poesie betrachtet.
Was erwarten die Menschen nur immer, wenn sie in die intim privaten Briefe großer Köpfe blicken? Erwarten sie die ständige Erneuerung kolossaler Gedanken? Ein ewiger Reigen an Ideen, die sich an den Händen halten und im Tanz um die Muse kreisen, als wäre sie selbstverständlich, immer ein loderndes Licht zwischen den Denkvorgängen des Schriftstellers? Das ist mir schon öfter aufgefallen, dass Enttäuschung aufkommt, sobald ein Schriftsteller im Alltag auf einmal ein ganz alltäglicher Mensch wird. Die Erwartung an die Schatztruhe der Gedanken in Briefen ist hoch, und darunter waren sicherlich einige, die gute Briefe schrieben, die in jeden Brief, den sie schrieben, schon etwas von dieser Ahnung hineinlegten, dass vielleicht einmal andere Augen darauf blicken würden, die an Freunde schrieben, indem sie an viele schrieben (z. B. Sartre in Tagebuch und Briefform, weil er wusste, dass nicht nur Beauvoir, sondern auch etliche seiner anderen Geliebten und die Welt einen Blick darauf werfen könnten), aber in diesen Briefen steckt das Künstliche, der Nachgeschmack der Berechnung, und sei es im kleinsten Satz, sei es im weggelassenen Aufschrei oder gestrichenen Satzfetzen, der vielleicht etwas an Schwäche offenbart. All das ist das blanke Werk eines Schriftstellers, der glänzen, der sich von seiner besten Seite zeigen möchte. Da ist mir der Alltag eines Dostojewskis doch lieber, auch wenn ein guter Briefwechsel sicherlich ebenso Begeisterung hervorrufen kann. Nur ist er eben ein Werk, nicht wirklich, nicht der nackte Mensch, wie er tatsächlich war. Und, wer will schon immer von einem Gott lesen?
Es ist bedauerlich, wie Dostojewski während seiner Verbannung in seinen Briefen um die Gunst des Bruders kämpfen muss, der ihm nicht schreibt. Er bettelt um Zuwendung, betont, dass er an den Bruder glaubt, der ihn dort im Lager zurücklässt und sich selbst vor ihm zurückzieht. Dostojewski versucht in einem inoffiziellem Brief zu erzählen, was er erlebt, um das Herz des Bruders zu rühren, er erzählt nicht gefühlsduselig, sondern so, wie es ist, mit dem Versuch, den anderen zu überzeugen.
Man hat so viel Mitgefühl mit dem Mann, der alle Mittel versucht, um ein Wort zu vernehmen, von dem, der ihn verlassen hat. Er erzählt, er bittet in einer (für den Leser) mächtigen Ausführlichkeit. "Um Gottes Willen" ist ein sehr häufiger Ausspruch Dostojewskis. Ich meine, es ist ein Brief, und zum Glück weiß man, dass daraus auch später ein Buch geworden ist (Aufzeichnungen aus dem Totenhaus). Dieses Leid der Umstände und das Schweigen des Bruders sind sehr bewegend. Davon abgesehen, dass die brüderliche Hilfe bei dieser Herzlichkeit, die zuvor zwischen ihnen geherrscht hat und in der russischen Familie eigentlich üblich ist, ganz natürlich wäre, ja Bedingung, so bittet Dostojewski um Geld, indem er immer wieder betont, dass es dem Bruder nicht zum Schaden sein soll, dass er es ihm, sobald er wieder schreiben kann, zurückzahlen wird. Diese Notwendigkeit der Rechtfertigung, vielleicht, weil er gewohnt ist, Schulden zu machen und sich erklären zu müssen. Als ob er hier selbst zu einer Investition geworden ist, die er preisen muss, um sie an den Mann zu bringen, ähnlich, wie er dem Bruder zuvor den Selbstdruck schmackhaft machen wollte, an dem er sich mit einem Viertel beteiligen sollte, damit Dostojewski nicht immer von den Buchhändlern ausgenommen werden würde. Der Bruder hat das Geld nicht geschickt, weil es ihm wohl selbst nicht besonders gut ging. Auch hatte er eine Familie zu ernähren. Dort preiste Dostojewski die Vorteile, wenn er etwas Geld, das er zurückbekommen sollte, auslieh, wie er jetzt sich selbst und sein Können preist, um überleben zu können.
Dostojewski ist sehr ehrfürchtig. Trotz, dass er ungerechter Weise (wobei er selbst seine Schuld eingesteht) zum Tode verurteilt, begnadigt und verbannt wurde, ist er dem Zaren treu und dankt ihm (auch im Brief). Man sieht hier eine Form der "buddhistisch" angehauchten, christlichen und leidenden Seele. Es ist nicht abzustreiten, dass das Leid erst sichtbar macht, was man am Leben hat. Ein Mensch, der nie gelitten hat, wird das Leben nie zu schätzen wissen, wird fast gedankenlos vor sich hin leben. Vielleicht ist das sogar das Dilemma vieler Menschen, warum sie auch nicht begreifen, dass man ein Recht darauf hat, das Leben zu genießen, glücklich sein zu wollen usw. Die Behauptung allerdings, das Leid sollte ein Dauerzustand sein oder als normal angesehen werden, streite ich ab und sehe es eher wie Anais Nin, die so schön sagte:
Zitat von Nin
Schmerz sollte man beherrschen, nicht in ihm schwelgen.
Denn, wer durch Leid die Liebe zum Sein erkannt hat und sich immernoch quält, der liebt sich selbst nicht genügend, um in der Welt zu existieren, um sich selbst und dadurch anderen etwas geben zu können. Ein Leben des Schmerzes ist vergeudet, insbesondere, wenn es durch die seelische Selbstfolter herbeigeführt wird. Dostojewski ist ein Mensch, der durch sein Schicksal erkannt hat, was er war (unreif), was das Leben ist und was er möchte. Dafür ist er dankbar, warum er verzeihen kann, warum ihn nicht die Wut durchdringt, was in solch einem Fall vielleicht normal wäre. Er ist überhaupt ein sich unterwerfender Mensch. Er weiß um seine Schwächen, glaubt sich auf die Hilfe anderer verlassen zu müssen. Er hat keine Scheu, unterwürfig aufzutreten, gar zu betteln (was sich mit seiner Spielsucht nachher noch verstärkt, wo er manchmal geradezu unverfroren „in liebenswürdigen Worten“ verlangt.) Die Entwicklung zur Sucht war in seinem Wesen übrigens schon erkennbar, denn er fordert oft von anderen, wobei er beim Spiel die Grenzen vielleicht auch nur darum überschreitet und ausreizt, weil er im Hinterkopf die Möglichkeit hat, bei anderen um Geld zu bitten. Seine Angewohnheit, Schulden zu machen, verhilft ihm zu einem Abschalten vor dem Spiel.
Sartre hat das in "Das Sein und das Nichts" gut ins Wort gefasst:
Zitat von Sartre Das Sein und das Nichts
Was der Spieler in diesem Augenblick erfasst, ist wieder der permanente Bruch des Determinismus, das Nichts, das ihn von sich selbst trennt: ich hätte so sehr gewünscht, nicht mehr zu spielen; erst gestern hatte ich ein synthetisches Erfassen der Situation (drohender Ruin, Verzweiflung meiner Angehörigen) als einer, die mir verbietet zu spielen. Es schien mir, dass ich auf diese Weise so etwas wie eine reale Schranke zwischen dem Spiel und mir errichtet hätte, und nun merke ich plötzlich, dass dieses synthetische Erfassen nur noch eine Ideenerinnerung, eine Gefühlserinnerung ist...
Diese Furcht, meine Familie zu betrüben, muss ich wiederfinden.
(...)
Ich bin allein und nackt vor der Versuchung wie am Tag vorher, und nachdem ich geduldig Barrieren und Mauern errichtet habe, nachdem ich mich in den magischen Kreis eines Entschlusses eingeschlossen habe, merke ich mit Angst, dass nichts mich hindert zu spielen.
Das trifft auf Dostojewski in jeder Hinsicht zu. Auch spricht dafür sein eigenes Werk "Der Spieler". Sein ganzes Wesen ist das ständige Sich-selbst-Zurechtweisen, das bereits das Versagen in sich trägt, weil er ein ehrfürchtiger, aber schwacher Mensch ist, der die Welt bewundert, und sich selbst darin als klein wahrnimmt. Er heiratet eine Witwe mit Kind nur aus Mitgefühl, aus dem Liebe erwächst. Nur im Schreiben ist sein Wesen stark, das heißt auch unruhig und rasend, voller Leidenschaft und Schatten, mit einem scharfen Verstand, während es im Leben ruhig und schwach ist. Das sind interessante Gegensätze. Als ob er sich erst im Schreiben zum starken Menschen entwickelt. Darum lebt er dafür, während das echte Leben für ihn nichts als Kummer bedeutet.
Das, was Gide die Banalität in Dostojewskijs Briefen nennt, wird im Laufe der Zeilen durch die Geldsorgen sichtbar. Er rät seinem Bruder zu einem außergewöhnlichen Vorgang, um die Großmutter um eine große Summe zu bitten. Dieser ganze Handlungsablauf ist von Dostojewski so gestaltet, als würde er einen Roman entwerfen, ein Plan, der sich auf das echte Leben kaum anwenden lässt.
Durch die ewige Angewohnheit, Schulden zu machen, verrückt in seinem Kopf der Bezug zur Welt und zu den Menschen. Er redet von Wahrheit, dass der Bruder den Verwandten vorwerfen soll, sie würden sonst ein Menschenleben auf dem Gewissen haben, eine schreckliche Sünde begehen und ähnliches. Es ist erschreckend, wie er seinen Plan entwirft, und wie könnte man ihm dann verzeihen, wenn er doch längst kein Kind mehr ist, denn es sind recht kindliche Gedanken und Vorstellungen. Der Bruder geht auf seine Vorschläge zum Glück nicht ein. Auch lügt er gerne, verdreht Zeiten, vertröstet Verleger, von denen er Geld geliehen hat. Ein spannender Mensch voller Zwiespalt.
Zu "Der Doppelgänger":
Es gibt, glaube ich, wenige Romane, die so rasend, mit so unruhiger Stimmung verfasst wurden. Beeindruckend, die Spannung, die Dostojewski erzeugt, dieses Anteilnehmenlassen an der Unruhe des Herumirrenden, seine Zerfahrenheit, die auf den Leser übergeht, ihn aufwühlt und ihn nötigt, immer mehr wissen zu wollen, die Dinge aufzuklären, zu erfahren, was da genau geschieht. Er wird zum Komplizen gemacht, der ständig durchdenkt, was da genau geschieht. Denn so oder so, nichts liegt offen, alles bleibt in der Verwirrung des Protagonisten verschlossen.
Goljädkin mietet sich für einen Tag eine edle Equipage, zwingt sich selbst und den Diener in elegante Kleidung und macht sich auf den Weg in die Stadt, wobei ihm in anderer Kutsche der Chef seiner Abteilung begegnet, dessen Neugierde ihn unangenehm berührt, worauf er beschließt, diesen nicht zu grüßen, sondern so zu tun, als wäre er ein Anderer, nur einer, der ihm ähnlich sieht. Als die Kutsche vorüberzieht, und er wieder für sich ist, fährt ihm der Schreck durch die Glieder, denn in neuer Klarheit wird ihm bewusst, wie seltsam er gehandelt hat. So beginnt der Roman und deutet schon darauf hin, dass Goljädkin keine Kontrolle über sich hat.
Er gehört zu den Menschen, die von sich sagen:
Zitat von Dostojewski
Eine Maske trage ich nur, wenn ich mich maskiere, gehe aber nicht tagtäglich mit einer solchen unter die Menschen.
Im Gespräch mit dem Arzt erfährt der Leser dann, dass Goljädkin in einem schlimmen Dilemma steckt. Was genau passiert ist, was da in seinem Inneren tobt, wird nicht ganz offensichtlich, ich hatte die Vermutung, dass er bei der Arbeit übergangen wurde, dass der Neffe des Chefs die Beförderung statt seiner erhalten hat. Seitdem eilt er konfus durch die Welt, will seine "Feinde" besiegen, deckt sich mit Einkäufen zu, die er nur organisiert, nicht bezahlt oder gar kauft, lässt sich durch die Stadt fahren und wartet ungeduldig, bis es Zeit zu einem Diner wird, dass ein angesehener Staatsrat und Gönner Goljädkins geben wird. Doch dann geschieht etwas Tragisches, er wird vom Diner (und dem Diener) abgewiesen, ihm wird mitgeteilt, dass man ihn nicht empfangen will. Ab hier wird dann alles konfus.
Es ist faszinierend, wie Dostojewskij hier Verwirrung stiftet, indem er viele Dinge nur andeutet. Der Leser kriecht in den Kopf des Protagonisten, kann sich nur anhand der Verwirrung Goljädkins mögliche Vorgänge zusammenbasteln. Etwas erkennt man auch den Zug des Kellerlochbewohners, der noch nicht existiert, dieses rastlose Wesen, der hinter allem etwas vermutet, der sich rächen möchte, der betont, dass ihm die Maske, die Gesellschaft nicht reizt, während er sich zurückgestoßen fühlt, wenn er nicht erwünscht ist, und doch all das hinter einer mächtigen Maske verbirgt.
Durch den heimlichen Zutritt zum gegebenen Fest, wobei Goljädkin dann mitten im Geschehen ist und von allen angestarrt wird, zerbricht etwas in ihm. Er befindet sich an der Grenze zum Wahnsinn. Einerseits ist er von einem Verfolgungswahn gepackt, schon vorher, sieht in allen Feinde, wohl durch seinen Rückzug vor der Welt begründet, und trifft dann, nach dem Zusammenbruch und dem Rauswurf, auf seinen eigenen Doppelgänger, ein schizophrener Akt, der nur angedeutet wird. Man überlegt hier ständig, was genau passiert, weil der Doppelgänger in seine Wohnung geht und dort auf ihn wartet, weil sich Traum und Wirklichkeit vermischen, alles irgendwie vor den Augen schwankt, verschleiert oder verwirrt. Was bleibt, ist nur noch Innenblick Goljädkins.
Vielleicht hat sich Goljädkin, durch den Verlust seines Gönners, der ihm sein Wohlwollen versagt (was ja eigentlich nicht wirklich geschieht, nur die Verwirrung Goljädkins darstellen soll), den Doppelgänger seiner selbst erschafft, durch den wiederum er zu dessen Gönner wird, damit sich selbst einen neuen Gönner verschafft. Eine Art, sich selbst höher zu stellen, indem er einem fremden und mittellosen Menschen hilft, während er sich eigentlich selbst helfen möchte.
Dass ihn die anderen Menschen auch sehen, muss nicht darauf hindeuten, dass der Doppelgänger wirklich ist, denn auch das Umfeld Goljädkins kann in dessen Kopf und Phantasie kreiert sein und stattfinden.
Er sitzt sich selbst gegenüber, was deutlich wird, weil auch der andere in einer Notlage ist, seine Feinde fürchtet. Vielleicht erschafft er sich selbst mehrere Jahre vorher, um sich zu betrachten und darüber zu reflektieren, was es über seine jetzige Situation aussagt.
Auch, dass er sich über das „Gespräch“ mit dem Doppelgänger auf einmal wohlfühlt und das Leben genießt, indem er den Rat des Arztes befolgt und "den guten Tropfen" genießt, kein Kostverächter mehr ist, zeigt, dass dahinter etwas anderes liegt, als ein wirklicher Mensch. Vielleicht musste er ihn erschaffen, um endlich neu reagieren zu können, aus einem alten Trott ausbrechen zu können. Sein Rückzug vor der Welt lag vielleicht daran, dass er die Arbeit längst verloren hat (warum sonst sollte er seinen Chef nicht grüßen und sich zu einem Anderen erklären), damit waren seine Feinde geboren, und das einzige, was ihm blieb, war die Erschaffung eines Freundes, der, weil alle anderen Feinde sind, aber sein Gesicht und seine Geschichte tragen musste. Die Geldsumme am Anfang des Romans deutet ebenso darauf hin, dass er die Arbeit schon vor dem Beginn des Romans verloren hat, hinausgeschmissen wurde (vielleicht darum auch das Sinnbild des Balles, wo er nicht mehr willkommen war, weil er nicht mehr Mitarbeiter war). Sie kann Abfindung gewesen sein, denn er leistet sich auf einmal Dinge, die er sich vorher nicht geleistet hat, weil sein Leben sich schlagartig verändert hat, eine größere Summe ins Haus gekommen ist, die ihn für einen Moment das Gefühl gibt, reich zu sein. Ebenso der Gedanke beim Einkauf, als die großen Scheine gewechselt wurden und dann zu kleinen wurden, die aber in größerer Anzahl den Geldbeutel dicker machten. Daran ist zu erkennen, dass er die kleinen Scheine gewohnt war. Auch gibt er das meiste Geld nicht aus, sondern macht nur das Versprechen einer Anzahlung auf einen Kauf.
Die Reaktion des Dieners deutet auch auf die Schizophrenie des Protagonisten hin, allerdings nicht deutlich. Vielleicht macht er gezwungenermaßen das „Spiel“ seines Herrn mit, dass dieser ihm zuvor erklärt hat, wie er zu reagieren habe, wenn er den „anderen Herrn“ erwähnt. All das sind Überlegungen, die man als Leser anstellen kann, während man im Text weitertreibt.
Die nächste Ungereimtheit ist die Unterscheidung Dostojewskis mit Goljädkin der Ältere und der Jüngere. Damit kommt der Verdacht auf, dass der Ältere sich hier durch den Jüngeren noch einmal verständlich macht, warum er hinausgeschmissen wurde. Auch scheint seine Verwirrung Grund gewesen zu sein, die er aber in klaren Gedanken betrachtet, dass daraus der Jüngere entsteht, als es ihm noch gesundheitlich besser ging. Die Kollegen fragen ihn, ob es ihm gut geht oder können mit seiner Art zu reden nicht umgehen. Es scheint ein Konkurrenzkampf zwischen den beiden Ichs von Goljädkin: das alte und das neue Ich.
Dann kehrt sich der Doppelgänger auch noch gegen ihn, verrät ihn, wird zum Feind. All das wirkt wie ein Selbsthass oder die drohende Gefahr des Verfolgungswahns.
Dass Goljädkin sich in irgendeiner Art und Weise schon vor dem Ball kompromittiert hat, wird sichtbar durch die Reaktion seiner Kollegen, die zwar unter ihm arbeiten, ihn aber auslachen, als er das Wort an sie richtet. Zudem scheint der Büroalltag im Konkurrenzkampf zwischen Alt und Jung nur noch Fiktion zu sein, weil vieles darin wie ein böser Albtraum wirkt.
Natürlich klärt sich, wenn man sich auf diese Sichtweise Goljädkins eingelassen hat, einiges für den Leser auf.
Es ist, als würde Goljädkin mit dem Engel und dem Teufel auf der Schulter ringen, als ob der Ältere seine guten Werte beinhaltet, während der Jüngere all das verkörpert, was er ablehnt, den Verrat, das Falsche, die Maske.
Ob Goljädkin der Jüngere letztendlich wirklich existiert hat, bleibt ungewiss, denn einmal entdeckt Goljädkin selbst die Veränderung, dass sein Doppelgänger zu einem jungen, ihm fremden Beamten wird. Vielleicht ist der Neuangestellte ein bedrohliches Bild, auf das er seine Ängste projiziert hat. Auch wird der Arzt einmal zu der Bedrohung des Doppelgesichts, später dann zu dem Gesicht der Gefahr, der Teufel, der ihn holt, weil er ahnt, dass er nun eingewiesen wird. Dass Goljädkin der Jüngere in jedem Fall ein Wahngebilde ist, ist unbestreitbar.
Unbestreitbar ist auch, dass der Roman ein Meisterwerk ist, ein tief psychologisch angelegter und gehetzter Lauf, dem sich der Leser nicht entziehen kann, in den er hineingezerrt, von dem er verschlungen und voller Unruhe wieder ausgespuckt wird. Ein offenes Werk, eine Glanzleistung.
Warum Dostojewskijs Werk als schwere Kost gilt, habe ich jetzt begriffen. Es geht nicht um den tiefen Inhalt oder den philosophischen Sinn, sondern um das Rastlose. Seine Romane sind voller Emotion, Unruhe, Wahnsinn, der sich ganz allmählich auf den Leser übertragen kann, der selbst rastlos wird, die Zeilen immer rasender in sich aufnimmt und lange aufgewühlt zurückbleibt.
Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 13.01.2009 17:43 |
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#27
von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
RE: Dostojewski
in Die schöne Welt der Bücher 23.01.2009 15:53von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Die „Erinnerungen“ von Anna Grigorjewna Dostojewskij sind sehr aufschlussreich. Natürlich ist sie auch voreingenommen, und ab und zu bekommt man den Eindruck, dass sie -abergläubisch - bestimmte Dinge übertreibt, mit Pathos behaftet, die Dinge zueinander führt, die dann herrlich zusammenpassen, einige Situationen übertreibt oder gar erfindet, aber diese Momente sind nicht unangenehm, zeigen eher ihre Gefühle und erschaffen den Schriftsteller noch einmal lebendig für jeden Leser. Sie liebte ihn schließlich und vergötterte ihn, schuf ein wunderbares Bild von ihm. Um so tragischer sind die letzten Seiten, wo ein in ihrer Familie ein und ausgehender Schriftsteller, nämlich Strachoff, in einem offenen (damit in Zeitschriften abgedruckten) Brief an Tolstoi (als dessen Freund er galt) von Dostojewskis unruhiger Seele berichtete, von seinen tierischen Leidenschaften, der sich daneben auch noch mit Abscheulichkeiten brüstete oder sich gerühmt hätte, dass er ein kleines Mädchen im Dampfbad missbraucht habe, das ihm seine Gouvernante zugeführt hatte.
Nach dem liebevollen Bericht der Frau Dostojewskis, die ihn als gütigen, manchmal eifersüchtigen, aber nie bösartigen oder düsteren Menschen zeigt, war ich über diese Diffamierungen sehr erstaunt, gerade, wenn man in den Dämonen die „Andeutungen“ liest, mit denen sich die Beichte Stawrogins auseinandersetzt. Was mir in "Die Dämonen" viel tragischer erschien, war, dass Stawrogin wusste, dass das Mädchen sich umbrachte und im Nebenzimmer ruhig und fast genüsslich abwartete, bis sie endlich starb, dabei mit dem Wissen, dass er sie in den Selbstmord getrieben hatte. Die Charaktere so ausdrucksstark zu entwerfen, ist eine wahre Kunst, man muss sich daher tief in so einen Geist hineinversetzen. Trotzdem kann es sein, dass Dostojewski genau das konnte.
Ich kann mir vorstellen, dass Dostojewski viele seiner Romane mit einer gewissen Kenntnis über die Dinge schrieb, so ist Strachoffs Bericht an Tolstoi, wo er sagt, dass er von einem tiefen Ekel vor Dostojewskij ergriffen sei, als er dessen Biographie verfasste, sehr seltsam. Anna Grigorjewna widerlegt diese Gerüchte natürlich, indem sie erzählt, Dostojewskij hätte mehrere Entwürfe für die Beichte gemacht, unter anderem auch eine, nach einem wahren Fall, die in genanntem Dampfbad stattfand und wirklich durch eine Gouvernante in die Wege geleitet wurde. Freunde Dostojewskijs, die er mit dieser Szene konfrontierte (unter anderem auch Strachoff, warum er auch behauptete, Dostojewskij hätte diese Szene häufig mit Genuss vor Freunden vorgelesen), erklärten aber, dass der Schriftsteller, würde er diese Szene benutzen, die Schuld von Stawrogin auf die Gouvernante übertragen würde, was der düsteren Gestalt nicht zugute kommen würde, darum hat er sie auch verworfen. Dass hier Entwurf und eine angebliche Lüsternheit Dostojewskij übereinstimmen, könnte darauf hindeuten, dass Strachoff in seinem Neid über die Beliebtheit Dostojewskijs, sowohl bei der russischen Bevölkerung wie auch in den Augen Tolstois, den er hier wohl auf den Zahn fühlen wollte, den Charakter Dostojewskijs verfälschte. Andererseits wird seine Frau nicht alles über ihn erfahren haben, auch hat sie in ihren Erinnerungen einiges weggelassen, zum Beispiel, dass sie ins Ausland flüchteten, weil die Schulden zu hoch waren. Sie beschrieb es als eine Entscheidung, vor der Familie davonzulaufen, die sie täglich bedrängte, als einen kurzen Ausflug, der sich dann leider auf vier Jahre ausdehnte. Auch gab sie in den Zeilen öfter zu, dass sie ihren Mann oft nicht verstand, nicht alles kannte, sein Wesen nicht zu ergründen verstand, und wenn er einmal aus sich herausging und etwas von sich berichtete, dann war es für sie wie ein Fest, dann wurde die kleinste Anekdote daraus gewebt.
Diese Zwischengedanken zeigen vielleicht, wie interessant die "Erinnerungen" der Anna Grigorjewna sind. Ich freue mich sehr, dass auch ihr Blick auf ihren Mann für uns noch in Buchformat erhalten geblieben ist.
Nach dem liebevollen Bericht der Frau Dostojewskis, die ihn als gütigen, manchmal eifersüchtigen, aber nie bösartigen oder düsteren Menschen zeigt, war ich über diese Diffamierungen sehr erstaunt, gerade, wenn man in den Dämonen die „Andeutungen“ liest, mit denen sich die Beichte Stawrogins auseinandersetzt. Was mir in "Die Dämonen" viel tragischer erschien, war, dass Stawrogin wusste, dass das Mädchen sich umbrachte und im Nebenzimmer ruhig und fast genüsslich abwartete, bis sie endlich starb, dabei mit dem Wissen, dass er sie in den Selbstmord getrieben hatte. Die Charaktere so ausdrucksstark zu entwerfen, ist eine wahre Kunst, man muss sich daher tief in so einen Geist hineinversetzen. Trotzdem kann es sein, dass Dostojewski genau das konnte.
Ich kann mir vorstellen, dass Dostojewski viele seiner Romane mit einer gewissen Kenntnis über die Dinge schrieb, so ist Strachoffs Bericht an Tolstoi, wo er sagt, dass er von einem tiefen Ekel vor Dostojewskij ergriffen sei, als er dessen Biographie verfasste, sehr seltsam. Anna Grigorjewna widerlegt diese Gerüchte natürlich, indem sie erzählt, Dostojewskij hätte mehrere Entwürfe für die Beichte gemacht, unter anderem auch eine, nach einem wahren Fall, die in genanntem Dampfbad stattfand und wirklich durch eine Gouvernante in die Wege geleitet wurde. Freunde Dostojewskijs, die er mit dieser Szene konfrontierte (unter anderem auch Strachoff, warum er auch behauptete, Dostojewskij hätte diese Szene häufig mit Genuss vor Freunden vorgelesen), erklärten aber, dass der Schriftsteller, würde er diese Szene benutzen, die Schuld von Stawrogin auf die Gouvernante übertragen würde, was der düsteren Gestalt nicht zugute kommen würde, darum hat er sie auch verworfen. Dass hier Entwurf und eine angebliche Lüsternheit Dostojewskij übereinstimmen, könnte darauf hindeuten, dass Strachoff in seinem Neid über die Beliebtheit Dostojewskijs, sowohl bei der russischen Bevölkerung wie auch in den Augen Tolstois, den er hier wohl auf den Zahn fühlen wollte, den Charakter Dostojewskijs verfälschte. Andererseits wird seine Frau nicht alles über ihn erfahren haben, auch hat sie in ihren Erinnerungen einiges weggelassen, zum Beispiel, dass sie ins Ausland flüchteten, weil die Schulden zu hoch waren. Sie beschrieb es als eine Entscheidung, vor der Familie davonzulaufen, die sie täglich bedrängte, als einen kurzen Ausflug, der sich dann leider auf vier Jahre ausdehnte. Auch gab sie in den Zeilen öfter zu, dass sie ihren Mann oft nicht verstand, nicht alles kannte, sein Wesen nicht zu ergründen verstand, und wenn er einmal aus sich herausging und etwas von sich berichtete, dann war es für sie wie ein Fest, dann wurde die kleinste Anekdote daraus gewebt.
Diese Zwischengedanken zeigen vielleicht, wie interessant die "Erinnerungen" der Anna Grigorjewna sind. Ich freue mich sehr, dass auch ihr Blick auf ihren Mann für uns noch in Buchformat erhalten geblieben ist.
Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 23.01.2009 17:19 |
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#28
von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
RE: Dostojewski
in Die schöne Welt der Bücher 26.01.2009 18:13von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
DIE ERNIEDRIGTEN UND BELEIDIGTEN
Ich, das wisst ihr, ich bin kein Gelehrter, ich verstehe nur zu fühlen.
Hier treffen wir auf einen Roman, der noch nicht völlig ausgereift, jedoch trotzdem packend ist. Man hat das Gefühl, Dostojewskij gerät etwas ins Schwatzen, weil er viele Gespräche und Momente mit Wiederholungen und Gefühlsausbrüchen würzt. weil er viele Gefühle in Worten oft vorwegnimmt, dass die kommende Handlung dann für den Leser keinerlei Überraschung birgt (ganz im Gegensatz zu seinem vorher geschriebenen Roman „Der Doppelgänger“). Überhaupt besteht der ganze Roman aus Gesprächen, was mir allerdings gut gefällt, weil sich durch die Worte die Charaktere schön herauskristallisieren.
Es heißt über den Roman, dass Dostojewskij hier seine eigenen Erfahrungen mit einer schmerzlich stürmischen und leidenschaftlichen Liebe zu einer Frau verarbeitet hat. Als seine erste Frau an der Schwindsucht gestorben war, eine Witwe, die er aus Mitgefühl geheiratet hatte, lernte er Polina Suslowa kennen und verliebte sich in sie. Im Auge des Fürsten Walkowskij zeigt Dostojewskij, wie er sie wahrgenommen hat. Als der Ich-Erzähler mit dem Fürsten in einem nervenaufreibenden Gespräch am Tisch sitzt, bei dem der Fürst unter anderem verkündet:
… berichtet der Fürst auch von einer „verruchten Frau“, um seine These von Schein und Sein zu untermalen:
Diese nun soll dem Abbild der Suslowa durchaus entsprechen. Dostojewskij scheint also einer sehr herrschsüchtigen und schillernden Persönlichkeit begegnet zu sein, während sie gleichzeitig kindlich und naiv sein konnte. (Hier ist vielleicht auch etwas in Katjas Charakter geflossen.)
Die Suslowa aber konnte sich mit Dostojewskijs Charakter nicht abfinden, sie empfand ihn, der sie unterwerfen wollte, als empörend und demütigend. Während er von der idealen Liebe schrieb, erwies er sich als ein alltäglicher Rohling im Bett. Als er nach Wiesbaden fuhr, um zu spielen, verliebte sich die junge Frau dann auch schnell in einen feurigen, spanischen Medizinstudenten und erklärte dem Schriftsteller bei seiner Rückkehr:
„Du kommst etwas zu spät!“
Dostojewskij erklärte ihr später in einem Brief:
Nun gut. Im „Ewigen Gatten“ sind übrigens auch Momente dieser tragischen Liebe verarbeitet. Aber, zurück zum Roman.
Er öffnet sich in viele Ebenen, die alle irgendwann miteinander verfließen. Hier ist der Ich-Erzähler, der alle Begegnungen zueinander führt und einige Züge Dostojewskijs trägt. Er ist in Natascha verliebt, die die Tochter von Nikolai Ssergejewitsch und Anna Andrejewna ist. Beide sind sie als Kinder gemeinsam aufgewachsen, weil Nikolai und Anna den Ich-Erzähler Iwan Petrowitsch, kurz Wanja, bei sich aufgenommen haben. Sie besitzen ein Stück Land, das an das Land des Fürsten Walkowskij angrenzt, und wie die Umstände sich fügen, wird Nikolai dessen Verwalter. Der Fürst selbst hat einen Sohn Aljoscha, wohl Dostojewskijs erster Entwurf des „lieben Menschen“, nur ist er nicht nur lieb, sondern auch sehr kindlich und naiv (man könnte sagen, fast schon dumm (nicht ganz so schön, wie Fürst Myschkin)). Während sich also Wanja ganz langsam in Natascha verliebt, verliebt diese sich in den zarten Aljoscha und brennt mit ihm durch, verlässt dabei ihre Eltern und stürzt diese damit ins Unglück, weil Nikolai Ssergejewitsch gerade vom Fürsten verklagt wird, der diesem vorwirft, er hätte durch seine Schlampigkeit Geld hinterzogen. So ist es umso tragischer, dass seine Tochter Natascha, während Nikolai sich gegen falsche Anschuldigungen wehren muss und durch die Anklage vielleicht sein Land verlieren wird, ausgerechnet auch noch mit dem Sohn des verhassten Fürsten durchbrennt. Hier steht er, der Erniedrigte, der Beleidigte, und stößt einen Fluch auf all die aus, die sich gegen ihn verschworen haben.
Als Nebenstrang, der dann ins Geschehen führt, mit dem die Geschichte auch beginnt, wird die Begegnung des Ich-Erzählers mit dem alten Smith und seinem ebenso alten Hund Asorka erzählt. Beide sind unnahbar und sterben kurz hintereinander. Weil Wanja neugierig ist, findet er heraus, wo der alte Smith gewohnt hat und bezieht dessen Wohnung, eine alte und schäbige Dachkammer. Einerseits fühlt er sich hier wohl, weil er ein Dichter ist (Dostojewskijs eigene Erfahrungen werden gespiegelt, der erste Roman ist veröffentlicht, er schreibt auf Vorschuss… usw.), andererseits, weil ihn interessiert, wer Smith war und ob vielleicht jemand kommen wird, um sich nach ihm zu erkundigen. Schließlich hat er Glück und ein kleines Mädchen sucht ihn auf, ein schreckhaftes und zorniges Kind, das seine Enkelin ist. Hinter diesem Kind verbirgt sich eine tragische Geschichte, die sich letztendlich mit der Geschichte Nataschas und ihrem „erniedrigten und beleidigten“ Vater deckt.
Natascha schließlich, für die der Ich-Erzähler Wanja alles tut, für die er Berater ist, während er gleichzeitig auch Berater für alle anderen wird, einerseits für die armen, verlassenen Eltern, andererseits für Aljoscha, der naive Bursche, der Natascha nicht nur betrügt, sondern von seinem Vater, dem hinterhältigen Fürsten, auch noch einer besseren Partie zugeführt wird, eine, die drei Millionen Rubel besitzt, und in die sich Aljoscha aufgrund ihrer Schönheit und Kindlichkeit verliebt, ohne es zu bemerken, wird so dann selbst gedemütigt. Hier wird dem Leser die Verzweiflung Nataschas gezeigt, die trotz ihrer Liebe zu Aljoscha erkennt, dass sie bereits eine verlassene Frau ist. Der Fürst selbst hat die Begegnung zwischen seinem Sohn und Katja, jener reichen Schönheit, bewusst neutral gelenkt, und während Aljoscha noch denkt, er würde alles für Natascha tun, indem er mit Katja ein schwesterliches „Vertrauen“ eingeht, so ist er längst verloren, längst unsterblich in die Andere verliebt, ohne es zu wissen, und zeigt es lediglich durch seine Handlung.
Dostojewskij entwirft hier unzählige Charaktere, die der Leser einerseits wirklich lieb gewinnt, andererseits wirklich verachtet. Man ist hin und her gerissen in seiner Zuneigung/Ablehnung. Diese Verzweiflung aller Menschen, in dieser ausweglosen Situation, ist gut gelungen. Er zeigt Aljoscha zudem oft nur von außen, in seinen Taten und Worten, ohne seinen Charakter zu durchleuchten, wie er es bei einigen der anderen Figuren tut, wodurch diese Figur einfach nur „ist“. Nur durch das Erkennen der anderen Figuren wird Aljoschas Zerrissenheit dann wieder zu offensichtlich, und ich kann nicht genau sagen, ob es der Handlung nun dient oder nicht, ob dadurch die Gefühle des Lesers verstärkt oder ganz im Gegenteil verringert werden.
Dass der Roman keinen offenen Handlungsverlauf aufzeigt, ist allerdings offensichtlich. Dostojewskij verrät mit jeder Situation, was passiert ist, was geschehen wird, wie die Figuren denken und was in ihrem Inneren vorgeht. Er zerlegt sie psychologisch und lässt den Leser nicht selbständig denken, was ich schade finde. Trotzdem ist es ein sehr emotionaler Roman, voller Gefühle und Gefühlsausbrüche, das versöhnt wieder mit dem Schriftsteller, der schreiben musste, um seinen Vorschuss abzuarbeiten, der einen Teil nach dem nächsten einreichte, ohne ihn noch einmal überarbeiten zu können. Und, was man ihm immer wieder lassen muss: Er versteht den Menschen in einen wahren Charakter zu kleiden. Er versteht, seine Figuren in unangenehmem, wie auch liebenswertem Wesen zu zeigen, dass der Leser ein wirkliches Gefühl für sie gewinnt. Und das, finde ich, das ist wirklich eine wahre Kunst.
Oh, mögen wir Erniedrigte, mögen wir Beleidigte sein, was tut das? – aber wir sind doch wieder beisammen! Und mögen sie doch, mögen sie doch triumphieren, die Stolzen und Hochmütigen, die uns erniedrigt und beleidigt haben! Mögen sie nur Steine auf uns werfen! (…) Wir werden Hand in Hand gehen…
Ich, das wisst ihr, ich bin kein Gelehrter, ich verstehe nur zu fühlen.
Hier treffen wir auf einen Roman, der noch nicht völlig ausgereift, jedoch trotzdem packend ist. Man hat das Gefühl, Dostojewskij gerät etwas ins Schwatzen, weil er viele Gespräche und Momente mit Wiederholungen und Gefühlsausbrüchen würzt. weil er viele Gefühle in Worten oft vorwegnimmt, dass die kommende Handlung dann für den Leser keinerlei Überraschung birgt (ganz im Gegensatz zu seinem vorher geschriebenen Roman „Der Doppelgänger“). Überhaupt besteht der ganze Roman aus Gesprächen, was mir allerdings gut gefällt, weil sich durch die Worte die Charaktere schön herauskristallisieren.
Es heißt über den Roman, dass Dostojewskij hier seine eigenen Erfahrungen mit einer schmerzlich stürmischen und leidenschaftlichen Liebe zu einer Frau verarbeitet hat. Als seine erste Frau an der Schwindsucht gestorben war, eine Witwe, die er aus Mitgefühl geheiratet hatte, lernte er Polina Suslowa kennen und verliebte sich in sie. Im Auge des Fürsten Walkowskij zeigt Dostojewskij, wie er sie wahrgenommen hat. Als der Ich-Erzähler mit dem Fürsten in einem nervenaufreibenden Gespräch am Tisch sitzt, bei dem der Fürst unter anderem verkündet:
Zitat von Dostojewskij in Die Beleidigten und Erniedrigten
… also, wenn es möglich wäre, dass ein jeder von uns sein ganzes Innenleben schilderte, jedoch so, dass er nicht nur das, was er um keinen Preis anderen Menschen sagen, nicht nur das, was er nicht einmal seinem besten Freunde verraten würde, sondern sogar das, was er sich selbst kaum zu gestehen wagt, einmal mit größter Wahrheitstreue schilderte, - dann würde sich doch in der Welt ein solcher Gestank verbreiten, dass wir alle ersticken müssten.
… berichtet der Fürst auch von einer „verruchten Frau“, um seine These von Schein und Sein zu untermalen:
Zitat von Dostojewskij Die Beleidigten und Erniedrigten
Nein, eine verderblichere Frau als sie gab es auf der ganzen Welt nicht… Sie war derart wollüstig, dass selbst ein Marquis de Sade noch von ihr hätte lernen können … Ja, sie war ein Teufel in Menschengestalt, aber zugleich von bestrickender Schönheit.
Diese nun soll dem Abbild der Suslowa durchaus entsprechen. Dostojewskij scheint also einer sehr herrschsüchtigen und schillernden Persönlichkeit begegnet zu sein, während sie gleichzeitig kindlich und naiv sein konnte. (Hier ist vielleicht auch etwas in Katjas Charakter geflossen.)
Die Suslowa aber konnte sich mit Dostojewskijs Charakter nicht abfinden, sie empfand ihn, der sie unterwerfen wollte, als empörend und demütigend. Während er von der idealen Liebe schrieb, erwies er sich als ein alltäglicher Rohling im Bett. Als er nach Wiesbaden fuhr, um zu spielen, verliebte sich die junge Frau dann auch schnell in einen feurigen, spanischen Medizinstudenten und erklärte dem Schriftsteller bei seiner Rückkehr:
„Du kommst etwas zu spät!“
Dostojewskij erklärte ihr später in einem Brief:
Zitat von Dostojewskij in seinen Briefen
„Du verziehst mir nie, dass du dich mir einmal hingegeben hast, und rächst dich dafür. Ein echt weiblicher Wesenszug.“
Nun gut. Im „Ewigen Gatten“ sind übrigens auch Momente dieser tragischen Liebe verarbeitet. Aber, zurück zum Roman.
Er öffnet sich in viele Ebenen, die alle irgendwann miteinander verfließen. Hier ist der Ich-Erzähler, der alle Begegnungen zueinander führt und einige Züge Dostojewskijs trägt. Er ist in Natascha verliebt, die die Tochter von Nikolai Ssergejewitsch und Anna Andrejewna ist. Beide sind sie als Kinder gemeinsam aufgewachsen, weil Nikolai und Anna den Ich-Erzähler Iwan Petrowitsch, kurz Wanja, bei sich aufgenommen haben. Sie besitzen ein Stück Land, das an das Land des Fürsten Walkowskij angrenzt, und wie die Umstände sich fügen, wird Nikolai dessen Verwalter. Der Fürst selbst hat einen Sohn Aljoscha, wohl Dostojewskijs erster Entwurf des „lieben Menschen“, nur ist er nicht nur lieb, sondern auch sehr kindlich und naiv (man könnte sagen, fast schon dumm (nicht ganz so schön, wie Fürst Myschkin)). Während sich also Wanja ganz langsam in Natascha verliebt, verliebt diese sich in den zarten Aljoscha und brennt mit ihm durch, verlässt dabei ihre Eltern und stürzt diese damit ins Unglück, weil Nikolai Ssergejewitsch gerade vom Fürsten verklagt wird, der diesem vorwirft, er hätte durch seine Schlampigkeit Geld hinterzogen. So ist es umso tragischer, dass seine Tochter Natascha, während Nikolai sich gegen falsche Anschuldigungen wehren muss und durch die Anklage vielleicht sein Land verlieren wird, ausgerechnet auch noch mit dem Sohn des verhassten Fürsten durchbrennt. Hier steht er, der Erniedrigte, der Beleidigte, und stößt einen Fluch auf all die aus, die sich gegen ihn verschworen haben.
Als Nebenstrang, der dann ins Geschehen führt, mit dem die Geschichte auch beginnt, wird die Begegnung des Ich-Erzählers mit dem alten Smith und seinem ebenso alten Hund Asorka erzählt. Beide sind unnahbar und sterben kurz hintereinander. Weil Wanja neugierig ist, findet er heraus, wo der alte Smith gewohnt hat und bezieht dessen Wohnung, eine alte und schäbige Dachkammer. Einerseits fühlt er sich hier wohl, weil er ein Dichter ist (Dostojewskijs eigene Erfahrungen werden gespiegelt, der erste Roman ist veröffentlicht, er schreibt auf Vorschuss… usw.), andererseits, weil ihn interessiert, wer Smith war und ob vielleicht jemand kommen wird, um sich nach ihm zu erkundigen. Schließlich hat er Glück und ein kleines Mädchen sucht ihn auf, ein schreckhaftes und zorniges Kind, das seine Enkelin ist. Hinter diesem Kind verbirgt sich eine tragische Geschichte, die sich letztendlich mit der Geschichte Nataschas und ihrem „erniedrigten und beleidigten“ Vater deckt.
Natascha schließlich, für die der Ich-Erzähler Wanja alles tut, für die er Berater ist, während er gleichzeitig auch Berater für alle anderen wird, einerseits für die armen, verlassenen Eltern, andererseits für Aljoscha, der naive Bursche, der Natascha nicht nur betrügt, sondern von seinem Vater, dem hinterhältigen Fürsten, auch noch einer besseren Partie zugeführt wird, eine, die drei Millionen Rubel besitzt, und in die sich Aljoscha aufgrund ihrer Schönheit und Kindlichkeit verliebt, ohne es zu bemerken, wird so dann selbst gedemütigt. Hier wird dem Leser die Verzweiflung Nataschas gezeigt, die trotz ihrer Liebe zu Aljoscha erkennt, dass sie bereits eine verlassene Frau ist. Der Fürst selbst hat die Begegnung zwischen seinem Sohn und Katja, jener reichen Schönheit, bewusst neutral gelenkt, und während Aljoscha noch denkt, er würde alles für Natascha tun, indem er mit Katja ein schwesterliches „Vertrauen“ eingeht, so ist er längst verloren, längst unsterblich in die Andere verliebt, ohne es zu wissen, und zeigt es lediglich durch seine Handlung.
Dostojewskij entwirft hier unzählige Charaktere, die der Leser einerseits wirklich lieb gewinnt, andererseits wirklich verachtet. Man ist hin und her gerissen in seiner Zuneigung/Ablehnung. Diese Verzweiflung aller Menschen, in dieser ausweglosen Situation, ist gut gelungen. Er zeigt Aljoscha zudem oft nur von außen, in seinen Taten und Worten, ohne seinen Charakter zu durchleuchten, wie er es bei einigen der anderen Figuren tut, wodurch diese Figur einfach nur „ist“. Nur durch das Erkennen der anderen Figuren wird Aljoschas Zerrissenheit dann wieder zu offensichtlich, und ich kann nicht genau sagen, ob es der Handlung nun dient oder nicht, ob dadurch die Gefühle des Lesers verstärkt oder ganz im Gegenteil verringert werden.
Dass der Roman keinen offenen Handlungsverlauf aufzeigt, ist allerdings offensichtlich. Dostojewskij verrät mit jeder Situation, was passiert ist, was geschehen wird, wie die Figuren denken und was in ihrem Inneren vorgeht. Er zerlegt sie psychologisch und lässt den Leser nicht selbständig denken, was ich schade finde. Trotzdem ist es ein sehr emotionaler Roman, voller Gefühle und Gefühlsausbrüche, das versöhnt wieder mit dem Schriftsteller, der schreiben musste, um seinen Vorschuss abzuarbeiten, der einen Teil nach dem nächsten einreichte, ohne ihn noch einmal überarbeiten zu können. Und, was man ihm immer wieder lassen muss: Er versteht den Menschen in einen wahren Charakter zu kleiden. Er versteht, seine Figuren in unangenehmem, wie auch liebenswertem Wesen zu zeigen, dass der Leser ein wirkliches Gefühl für sie gewinnt. Und das, finde ich, das ist wirklich eine wahre Kunst.
Oh, mögen wir Erniedrigte, mögen wir Beleidigte sein, was tut das? – aber wir sind doch wieder beisammen! Und mögen sie doch, mögen sie doch triumphieren, die Stolzen und Hochmütigen, die uns erniedrigt und beleidigt haben! Mögen sie nur Steine auf uns werfen! (…) Wir werden Hand in Hand gehen…
Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 26.01.2009 18:22 |
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Hallo Taxine,
deine Ausführungen machen wieder Lust auf Dostojewskij. Von den letzt genannten Werken habe ich "Der Doppelgänger" und "Der ewige Gatte", wobei "Der Doppelgänger" jetzt erstmal Vorrang hat (und dann weiter....)
Liebe Grüße
mArtinus
„Wäre die Erde eine Bank, dann hättet Ihr sie bestimmt schon gerettet!" (Greenpeace)
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#30
von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
RE: Dostojewski
in Die schöne Welt der Bücher 27.01.2009 16:25von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Oh ja, Martinus. Wenn du dich an den "Ewigen Gatten" machst, sag bescheid. Da mach' ich mit.
Bin gespannt, wie "Der Doppelgänger" auf dich wirkt.
Die Einleitung in diesem Ordner muss übrigens widerrufen werden. In der Biographie von Geir Kjetsaa erfährt man, dass Dostojewskijs Vater nun doch nicht von leibeigenen Bauern ermordet wurde. Es gibt zwei Dokumente, in denen sichtbar wird, dass der Mann an einem Schlaganfall gestorben ist, als er auf dem Weg zu seinen Bauern war. Damit wird Freuds Analyse über Dostojewskij, nämlich dass er an Hystereoepilepsie gelitten hätte, hinfällig. Seine Diagnose berief sich auf den Mord des Vaters, durch den Dostojewskij so belastet war, dass dadurch seine Epilepsie ausgelöst wurde. Auch gibt Freud an, dass es ein Schuldgefühl wäre, das sich dann in Sibirien verringert hätte, weil hier das Schuldgefühl durch das Leid der Wirklichkeit für diesen Zeitraum ausgelöscht wurde.
Tatsächlich wusste Dostojewskij wahrscheinlich, dass sein Vater nicht durch Bauern (dieses Gerücht wurde später in die Welt gesetzt, auch gab es damals viele Bauernaufstände, warum man den Dingen genauer nachging) ermordet wurde. Seine Epilepsie brach erst in Sibirien aus, weil er vorher, hätte er schon einen Anfall gehabt, von der Militärakademie geflogen wäre. Dort machte man nämlich kurzen Prozess mit all denen, die nicht tauglich waren, und unter hundert Mitanwärtern wäre ein Anfall sicherlich bekannt geworden. Auch berichtet Dostojewskij in seinen Briefen erst dann von seiner Epilepsie, als er in Sibirien war.
Bin gespannt, wie "Der Doppelgänger" auf dich wirkt.
Die Einleitung in diesem Ordner muss übrigens widerrufen werden. In der Biographie von Geir Kjetsaa erfährt man, dass Dostojewskijs Vater nun doch nicht von leibeigenen Bauern ermordet wurde. Es gibt zwei Dokumente, in denen sichtbar wird, dass der Mann an einem Schlaganfall gestorben ist, als er auf dem Weg zu seinen Bauern war. Damit wird Freuds Analyse über Dostojewskij, nämlich dass er an Hystereoepilepsie gelitten hätte, hinfällig. Seine Diagnose berief sich auf den Mord des Vaters, durch den Dostojewskij so belastet war, dass dadurch seine Epilepsie ausgelöst wurde. Auch gibt Freud an, dass es ein Schuldgefühl wäre, das sich dann in Sibirien verringert hätte, weil hier das Schuldgefühl durch das Leid der Wirklichkeit für diesen Zeitraum ausgelöscht wurde.
Tatsächlich wusste Dostojewskij wahrscheinlich, dass sein Vater nicht durch Bauern (dieses Gerücht wurde später in die Welt gesetzt, auch gab es damals viele Bauernaufstände, warum man den Dingen genauer nachging) ermordet wurde. Seine Epilepsie brach erst in Sibirien aus, weil er vorher, hätte er schon einen Anfall gehabt, von der Militärakademie geflogen wäre. Dort machte man nämlich kurzen Prozess mit all denen, die nicht tauglich waren, und unter hundert Mitanwärtern wäre ein Anfall sicherlich bekannt geworden. Auch berichtet Dostojewskij in seinen Briefen erst dann von seiner Epilepsie, als er in Sibirien war.
Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 27.01.2009 16:27 |
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