HirngespinsteAustausch zwischen Literatur und Kunst |
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Ein Norweger, mal etwas Neues. Und ein Nobelpreisträger (1920 für sein Buch "Segen der Erde").
Am 4. August 1859 wird Knut Hamsun in Garmostræde (Lom) als Knud Pedersen geboren.
Seine ersten literarischen Versuche unternahm Hamsun Ende der 70er Jahre des 19. Jahrhunderts und wanderte zu Beginn der 80-er Jahre nach Amerika aus, vermochte dort aber nie richtig Fuß zu fassen. Der American Way of Life stieß ihn von vornherein ab. Dies wird auch in mehreren Essays aus jener Zeit deutlich.
Gestorben ist er am 19. Februar 1952 in Nørholm.
1890 erschien Hamsuns erster Roman „Hunger” (original: "Sult"), mit dem er seine literarische Anerkennung erreichte. Und mit diesem beschäftige ich mich gerade.
Inhalt:
(Einband)
In Antwort auf:
"Mein verwirrter Zustand ging mit mir durch und gab mir die wahnsinnigsten Einflüsterungen, denen ich der Reihe nach gehorchte."
So beschreibt sich der Erzähler auf dem Höhepunkt seines verbissenen Kampfes ums Überleben inmitten der Großstadt Oslo. Sein Artikel werden von den Zeitungen nicht angenommen, seine finanziellen Mittel sind völlig erschöpft, bis auf das Nötigste ist alles zum Pfandleiher getragen. Nur mühsam kann er hier und da etwas Geld ergattern und kommt schließlich bis an den Rand des Hungertodes.
Hamsun und sein „Hunger“ hat mich sofort gepackt. Die Sprache, die Dramatik, der Versuch des Überlebens des Schreiberlings.
Hier läuft der Protagonist durch die Strassen und kämpft mit knurrendem Magen, mit nichts in der Tasche, immernoch um seine Würde, hilft einem Krüppel, besteht darauf, dass der Pfandleiher ein gutes Bild von ihm hat.
Wie bei Genet, die Würde der Armen, die Würde, als Mensch betrachtet zu werden.
Sehr bildlich und gut vorstellbar:
In Antwort auf:
Ich hatte es ganz deutlich bemerkt, immer wenn ich längere Zeit hungerte, war es gleichsam, als rinne mein Gehirn langsam aus dem Kopf und als würde er leer. Das Haupt wurde leicht und abwesend, ich fühlte seine Schwere nicht mehr auf meinen Schultern, und ich hatte das Gefühl, dass meine Augen allzu weit geöffnet glotzten, wenn ich jemand ansah.
In Antwort auf:
Ich fühlte mich selbst wie ein kriechendes Tier im Untergang, von der Zerstörung ergriffen, mitten in dieser schlafbereiten Allwelt.
Der Protagonist träumt davon, seine schiftlichen Auseinandersetzungen mit Welt und Philosophie an eine Zeitungsredaktion zu verkaufen, um so sein Brot zu verdienen. Verschiedene Bewerbungen in normalen Berufen scheiterten bereits durch sein schäbiges Äußeres. Doch noch verliert er nicht die Hoffnung, leckt stattdessen über das Ausgeblichene seiner schwarzen Hosen, damit sie neuer aussehen und macht weiter. Aber, wer friert und hungert, dem fällt es schwerer, sich auf seine eigenen Gedanken zu konzentrieren.
Gerade dieses Erzwingen-Wollen der Schreiberei wird hier von Hamsun so herrlich dargestellt. Das „Ich muss… ich muss“ ist völlig fatal. Die Kreativität kommt in Schüben, nicht auf Wunsch oder auf Grund von Drohungen.
Als er dann sein Zimmer verlassen muss, sein letztes Hab und Gut zusammensucht, das aus einer geliehenen Decke besteht, ist ihm dieser Anblick so peinlich, dass er sich die Decke in Papier einwickeln lässt, damit es besser aussieht. Und als er dann schläft, wagt er diese nicht einmal zu benutzen. Dagegen wieder der Kontrast, denn bei solchen Dingen ist er penibel, während es ihn nicht kümmert, wenn er vornehmen Damen einen Streich spielt oder wild fluchend die Strasse hinaufgeht.
Aus Würde wird Stolz, dem Hunger zum Trotze gibt er sich als ein "verirrter Jornalist" aus, damit er eine Unterkunft als Obdachloser beziehen kann, was verhindert, dass er eine Essensmarke erhält, denn scheinbar geht es ihm ja gut, er hat am Vorabend nur zu viel gefeiert und seinen Schlüssel verloren.
Ein ganz sehnlicher Wunsch danach, seine Armut zu verbergen, beherrscht sein Denken, und von Hunger geschwächt ergeht er sich in absurde Vorstellungen und Halluzinationen.
Völlig genial dargestellt, dieser langsame Verfall. Schrecklich in seiner Authenzität.
Ich werde sicher noch einiges von ihm lesen. "Mysterien", "Auf überwachsenen Pfaden", "Segen der Erde", u. a.
Art & Vibration
meine Hamsun-Lektüre begann ebenfalls mit "Hunger". Der Hunger ist hier wahrlich in Worte gemeißelt, mir jedenfalls in schöner Erinnerung geblieben.
In den "Mysterien" geht es auch um einen Außenseiter. Der Herr Nagel tritt äußerst exzentrisch und provokant in einem Küstenstädtchen auf. Er schockiert damit die Leute des Ortes. Verliebt sich einige Male... der Leser mag sich ein wenig an Goethes Werther erinnern. Der Roman ist wohl ein allgemeiner Protest an das alltägliche, vielleicht langweilige Dasein. Hier ein Mensch, der damit überhaupt nicht zurechtkommt, schon sein knallgelber Anzug fällt auf. Kurz gesagt: Ein Werk gegen den Geist der sog. Normalität. So manch Literaturgelehrter entdeckt Bezug zu Dostojewski (jetzt beißt du an ). Ich denke hier werden Parallelen zu Dostojewski hergestellt, weil Hamsun die Psychologie in der Dichtung gefordert hatte. Der große Russe ist ja auch ein großer Psycholog.
Also, Taxine, der Martinus wünscht sich da mal eine nochmalige Lektüre, weil so manches vergessen im Untergrund. Ich habe noch den Roman Pan ungelesen im Regale. Wünschen's einen Bericht? Ist allerdings in Frakturschrift (aber das schaffe ich schon). Ich ergreife mal die Gelegenheit und lese es einfach mal durch, gelle?
Liebe Grüße
Martinus
Ja, ich beiße... kräftig! Da muss ich mir natürlich ein Bild machen. "Mysterien" soll auch um die Unmöglichkeit handeln, in einem fremden Land Fuß zu fassen. Aber, wenn man den Inhalt von "Segen der Erde" mit Dostojewski (und z.B. Sibirien) vergleicht, dann sind hier schon ähnliche Themen gewählt.
Unbedingt, werter Martinus. Berichten's!!!
Ich hatte letztens Erzählungen von ihm in der Hand. Fester Einband für wenig Geld. Würde mich auch interessieren.
In Antwort auf:
Das eigene Innere jedes einzelnen Menschen ist die Quelle der Trauer oder der Freude ...
(Knut Hamsun /"Pan")
Hier noch mehr Hamsun- Zitate
"Hunger" hat mir auch gefallen, obwohl mir der Protagonist am Anfang nicht sehr sympathisch war. Ich wollte ihn für seinen falschen Stolz manchmal "würgen".
"Pan" fand ich auch gut.
In Antwort auf:
In den letzten Tagen dachte und dachte ich an des Nordlandsommers ewigen Tag. Ich sitze hier und denke an ihn und an eine Hütte, in der ich wohnte, und an den Wald hinter der Hütte, und ich mache mich daran, einiges niederzuschreiben, um die Zeit zu verkürzen und um meines Vergnügens willen.
... so beginnt der Roman und breitet dann eine besinnlich, schwermütige Stimmung über den Leser. Stille und Einsamkeit und eine tragische Liebesgeschichte.
Hamsuns Gestalten sind irgendwie immer Sonderlinge und Außenseiter, mit einer ganz eigenen Ansicht von der Welt. Die meisten flüchten sich in Tagträume. In "Hunger" artet es ja sogar in Zwangsvorstellungen aus.
Bei "Pan" glaubt Leutnant Thomas Glahn an die Beseelung der Natur, und wenn er durch die Wälder streift, spürt er überall die Anwesenheit von "Pan", Schutzgott der Ziegen, Hirten und Jäger. Dann lernt er Edvarda kennen...
In allen Büchern steckt eine seltsame Traurigkeit.
Mit Grüßen
Ferro
RE: Knut Hamsun
in Die schöne Welt der Bücher 15.08.2007 23:27von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Hallo Ferro.
In "Hunger" zum Beispiel folgender Satz:
In Antwort auf:
Dieser magere, zerbissene Finger sah so traurig aus!
Unsympathisch ist er mir nicht, aber manchmal fiebert man so sehr mit, weil eine plötzliche Handlung, ein übersteigertes Schuldgefühl alles wieder in einen Sumpf an Ödnis zurückwirft, dass man schon so ein bisschen durch die Zähne zischt.
Zum Beispiel, als er eine Kerze erbetteln möchte, um etwas Licht zum Schreiben zu haben, und der Angestellte ihm das falsche Wechselgeld herausgibt, weil er annimmt, er hätte schon Geld von ihm erhalten.
Hier streicht er es ein, gönnt sich mit kleinem, schlechten Gewissen ein Rumsteak, erbricht sich danach (meine Güte, da zittert man wirklich mit), trifft eine seltsame, mysteriöse Frau, die ihn küsst, um am nächsten Tag dann von einem Bier so unendlich betrunken zu werden, dass die Schuld ihn auffrisst, das wenige Geld so schwer in seiner Tasche wiegt, dass er losrennt und es einer Wildfremden in die Hand drückt, damit sein Gewissen wieder rein ist.
Soweit, so gut. Aber dann, steigt er in eine Kutsche, lässt den Kutscher hier und dorthinfahren, um ihn dann um den Fahrpreis zu prellen. Wirkt auf mich wie eine kleine Rache an der falschen Person. Ebenso hätte er, wenn schon das schlechte Gewissen pocht (ich finde ja, Hunger rechtfertigt ein bisschen Einfallsreichtum), auch in den Laden gehen können, um unbemerkt das restliche Geld dort liegen zu lassen. Dass er hier einen armen Kutscher übers Ohr haut, fand ich auch ärgerlich.
Wie gesagt, man leidet wirklich mit.
Liebe Grüße
Taxine
Art & Vibration
Hallo Ferro,
du hast die Stimmung zu "Pan" sehr schön zusammengefasst. Die zentralen Sätze des Romans sind folgende:
In Antwort auf:
Sie haben recht damit, daß ich nicht gut mit Menschen verkehren kann. Sein sie barmherzig; Sie verstehen mich nicht, ich wohne am liebsten im Wald, das ist meine Freude. Hier in meiner Einsamkeit schadet es niemand, daß ich bin, wie ich bin; aber wenn ichmit anderen zusammen komme, muß ich alle meine Mühe anwenden, um so zu sein, wie ich sollte.
Im Schoße der Natur ist er glücklich und fühlt sich vollkommen er selbst. Unter Menschen ist er beeinträchtigt, weil er mit anderen Menschen konfrontiert wird, und fühlt, sich den gesellschaftlichen Verhältnissen anpassen zu müssen, dafür muss er aber ein Stück seiner Selbst einbüßen. So kann es für den Leutnant natürlich nicht rosig ausgehen, als er sich in das junge Mädchen Edvarda verliebt. Er wird enttäuscht. Wie die Liebe im Frühling aufblüht, so erkaltet sie, wenn es auf den Herbst zugeht. Insofern ist diese Liebesgeschichte in den Zyklus der Natur eingebunden. Leben heißt nicht nur einsames Glück im Paradies zu haben, sondern Schmerzen gehören dazu. Darum wäre ein kompletter Rückzug in die einsamen Wälder auch nicht natürgemäß. Zur Konfrontation mit der Gesellschaft muss es also kommen, und das hier mit einem tragischen Ende, auch wenn die Begegnung mit Edvarda sehr zart beginnt. Nachdem das Mädchen ihn erstmals besucht hatte, schlug ihm ein fremder Hauch in der Hütte entgegen;
In Antwort auf:Die Naturschilderungen Hamsuns sind wirklich großartig. Sehr feinfühlig nachempfunden, wie die Handlung sich allmählich zur Tragik weitet. Leutnant Glahns Verhalten in der Öffentlichkeit mutet manchmal doch etwas seltsam an, doch der Wirkung und Stimmung des Romans konnte ich mich nicht entziehen.
als ich eintrat, war ich gleichsam nicht länger allein dort.
Liebe Grüße
Martinus
Hallo Martinus,
ganz wunderbar hast du hier das Buch geschildert. Danke.
Mir scheint auch, dass Hamsun es ganz fantastisch versteht, aus der Sicht einer Person zu schreiben, sie zu verfolgen und zu betrachten und agieren zu lassen.
"Pan" werde ich wohl auch noch lesen, aber zuerst "Mysterien".
Liebe Grüße
Taxine
(Minimales Schnaufen)
Ich wusste es. Sobald man Hamsun erwähnt, (zum Glück nicht hier, weil hier die Literatur betrachtet wird) erscheinen immer die, die ihn wahrscheinlich nicht einmal gelesen haben, aber seine "Einstellung" kennen, die hier Wertung abgeben, zu der sie nicht berechtigt sind. Schnell mal knappes Biografisches nachgelesen und schon steht die Meinung. Hauptsache ein Blabla in den Raum gelassen, am besten noch mit erhobenem Finger.
Hamsun hat Hitler gemocht und auch den Nationalsozialismus befürwortet. Das ist schlimm, ja.
Aber, muss man ihn dafür gleich in eine Schublade stecken? Abtun? Eine Diskussion über ihn als Mensch führen, wo es um seine Bücher geht? Wo seine Literatur vor allen Dingen völlig andere Themen behandelt?
Thomas Mann brauchte auch seine Zeit, bis er das "System" durchschaut hat.
Die Vergangenheit ist ein Knochen, an dem immer wieder mit Vorliebe genagt wird. Hin und her wird gewälzt, statt sich auf das Jetzt zu konzentrieren.
Es ist ein schwieriges Thema, zugegeben.
Das eine System löst das nächste ab, und in allen steckt das Gift.
In Nachhinein ist es einfach zu sagen, wer falsch gedacht und gehandelt hat. Das Mittendrin bleibt immer ein "verschleierter Blick".
Auch heute gibt es ein Mittendrin, und die Menschen empören sich nur da, wo sie sich empören sollen.
Wenn man über Literatur spricht, dann steht der Mensch, der da schreibt, zunächst hinter seinen Zeilen, nicht hinter seiner Zeit. Seine Einstellung, seine Irrtümer und Fehltritte wären nur zu berücksichtigen, wenn er darüber geschrieben hätte.
Da Hamsun andere Schriften verfasst hat, muss man seine Literatur von ihm als Menschen trennen. Darum ärgert es mich auch, wenn aus einem guten Buch eine politische Diskussion entfacht wird.
Wir können im Nachhinein nur über die Literatur urteilen, nicht über den Menschen, wie falsch er auch immer gelegen haben mag.
Manchmal wünschte ich mir, dass alle Politik, alle Vergangenheit, alle Fehler aus der literarischen Diskussion verbannt werden könnten, dass man sich ausschließlich auf die Zeilen konzentriert und über die Gedanken im Buch reflektiert. Doch scheint das nicht machtbar zu sein.
Fakt bleibt: Die Bücher Hamsuns sind ganz wunderbar geschrieben.
RE: Knut Hamsun
in Die schöne Welt der Bücher 15.08.2007 23:29von Taxine • Admin | 6.696 Beiträge
Hier steht Nagel als Fremder in einer kleinen Stadt und treibt sein Spiel mit dem Menschen, tut Gutes und verachtet den, der Gutes tut und der darüber die Brust reckt, beschimpft Tolstoi und die großen Denker, trägt einen Geigenkasten mit sich, in dem er seine Wäsche transportiert, und hat ein halbes Fläschchen Gift im Gepäck, für den Fall der Fälle.
Eine ganz außergewöhnliche Gestalt schimmert hier in Literatur, man ist völlig hin und her gerissen, zwischen Mögen und Hinterfragen. Ein Mann, der sich selbst nicht hoch einschätzt, so hat es den Anschein, der aber auftritt, als wäre er über alles erhaben .
Was mir an Hamsuns Stil gefällt, ist seine Art, eine Situation einfach in Pracht zu beschreiben, ohne tiefer zu gehen. Er zeigt den Menschen, wie er ist, und so manche Szene wird durch das Gespräch belebt, weil durch das Wort hier der Mensch ins Bild gefasst wird.
Nagel und seine Eigenheiten sind großartige Einfälle. Zum Beispiel erfahren wir gleich am Anfang, dass er mit seinem Wesen in Güte spielt und sich selbst immer schlechter darstellt, als er ist. Und das, aus Berechnung.
In Antwort auf:
Man pfuscht überall rein, man rettet Menschen. Doch Gott weiß, ob das meinerseits ein Verdienst war!
Das steht ja schon herrlich so da, aber wir erfahren, dass Nagel einen Mann vor dem Ertrinken gerettet hat, der sich umbringen wollte. Rettung oder Leidverlängerung? Die Rettungsmedaille im Gepäck, um den eigenen Namen darauf hinwegzukratzen. Im Zweifel, ob die Handlung nun richtig war, aber, wie wir weiter erfahren, ist es ein normaler Trieb des Menschen, zu helfen und zu geben (darum auch der Vorwurf später gegen Tolstoi).
In Antwort auf:
Ich rettete ihm das Leben wie ein roher und rücksichtsloser Bär, na und?
Sehr schön war Nagels Empörung über Menschen, die immer nur zitieren und dahinter keine Meinung haben.
„Ein großer Mann sagte einst…“
Eine ganz fantastische Szene hier, als eine Frau hier ständig große Männer zitiert, bis Nagel der Kragen platzt:
In Antwort auf:
Meine liebe Frau, antwortete ich, und ich beuge ehrerbietig mein Haupt, meine leibe Frau, wie halbgebildet, du großer Gott, wie geistig schlicht gewirkt das klingt, was Sie da sagten. Entschuldigung übrigens, dass ich so direkt bin; doch wenn Sie statt einer Frau ein Mann wären, würde ich bei meiner Seligkeit beeiden, dass Sie ein Mann der Liberalen seien. Ich putze nicht alle großen Männer herunter, aber ich beurteile doch nicht die Größe eines Mannes nach dem Umfang der Bewegung, die er zustande gebracht hat, ich beurteile ihn von mir selbst ausgehend, ausgehend vom Ermessen meines eigenen kleinen Hirns, meines seelischen Urteilsvermögens. Ich beurteile ihn sozusagen nach dem Geschmack, den seine Tätigkeit in meinem Mund hinterlässt. Es ist keine Wichtigtuerei, es ist ein Ausschlag der subjektiven Logik meines Blutes. Es kommt nicht vor allen darauf an, eine Bewegung hervorzurufen (… ). Es geht keineswegs darum, zwischen Haufen Anwälten, Journalisten oder galiläischen Fischern Aufruhr zu veranstalten oder eine Schrift über Napoleon le petit herauszugeben.
(… )
Die großen Männer sind vortreffliche Konversationsthemen, doch der erhabene Mann, die erhabenen Männer, die Herren, die Weltgeister zu Pferde, die müssen sich sogar scharf besinnen, um zu wissen, wen man meint, wenn von den großen Männern die Rede ist. So bleibt denn der große Mann übrig, mit dem Haufen, der wertlosen Majorität, dem Anwalt, der Lehrerin, dem Journalisten und dem Kaiser von Brasilien als Bewunderer.
…oder ein großer Denker sagte:
Zu leben ist Krieg gegen die Trolle im Gewölbe von Herz und Hirn.
Und danach erklärt Nagel der Dame wütend:
In Antwort auf:
Meiner Meinung nach, meine Dame, ist nicht der am größten, der im Umsetzen am flinkesten war, selbst wenn es jetzt und immer dieser ist, der in der Welt den meisten Spektakel macht. Nein, die Stimme meines Blutes sagt, am größten ist der, der das Dasein mit dem meisten Grundwert, dem meisten positiven Profit angereichert hat. Der große Terrorist ist am größten, diese Dimension, das unerhörte Hebewerk, das Planeten wuchten kann.
Und, um deutlicher zu werden:
In Antwort auf:
Nein, ich veranschlage überhaupt die Umsatzfähigkeit, die Verkündergabe sehr gering, diese rein formelle Begabung im Maul jederzeit ein Wort parat zu haben.
Manch ein Mensch existiert nur von seinen Bonmots oder liest, um Zitate zu sammeln.
Nagels Faszination für eine verlobte, unereichbare Pfarrerstochter ist teilweise grotesk, weil er sich in allen Schichten seines Selbst offenbart. Aber, überhaupt sein Blick ins Meer der Damen ist ganz köstlich, wenn er seine kleinen Spiele treibt:
In Antwort auf:
Wollen wir mal sehen, aus welchem Holz sie geschnitzt ist, dieses Drontheimer Mädchen mit Augen voll Geschlecht.
Nagel macht mit exzentrischen Reden und Erzählungen von sich reden und will dabei nur die Dame seines Herzens beeindrucken. (Aber, das scheint mir noch nicht alles zu sein, denn er treibt irgendwie auch ein Spiel mit sich selbst.) Er lernt die Kleinstadt mit ihren Leuten kennen, den Arzt, der alles Mystische ablehnt und gerne mal einen über den Durst trinkt. Schön, sein Wesen hier ins Wort gefasst:
In Antwort auf:
Als Arzt gehörte es zu seinen Obliegenheiten, den Leuten die Seele löffelweise zu entfernen.
Bei diesen feuchtfröhlichen Festen herrscht immer Ausgelassenheit und gegenseitiges Emporheben. Und wo man als Leser gerade aus dem „Hunger“ getaucht ist, so kehrt man in kurzer Rückerinnerung auch wieder nach Kristiania zurück, wobei die Stadt von allen in ihrem Glanz und ihrer Fülle an Künstlern und Denkern gerühmt wird, während Nagel sagt:
In Antwort auf:
Hehe, da saßen sie und blähten sich voreinander auf – der eine heilfroh über die Wertschätzung des anderen. Ich habe dort Jedermann sitzen und sich darüber freuen sehen, dass andere Jedermänner ihn beachten.
Nagel hat eine sehr auffällige Art, anderen Menschen zu helfen. Es wirkt, als wollte er den Menschen die Illusion der Großmütigkeit nehmen, ihnen das Gefühl geben, dass all diese Almosen und guten Taten ganz normal wären. Ein bisschen muss ich immer an den Protagonisten in „Hunger“ denken, der am Ende des Buches auf ein Schiff springt und der Stadt entflieht. Hier könnte er Jahre später in dieser Kleinstadt angekommen sein, nach einigen Erlebnissen und Entwicklungen, um aus seinem eigenen Leid und Elend heraus nun anderen armen Menschen zu helfen. Solche, wie Minute, der durch seine Behinderung und Hässlichkeit immer zum Spott einzuladen scheint, und den er unter seine Fittiche nimmt, ihn beschützt und ihn als Gesprächspartner seiner Selbstgespräche erwählt, oder die alte Frau des toten Seemanns, die er austricksen muss, um ihr das gönnerhafte Geld als gerechtfertigt zu verkaufen. (Er muss sie in ihrer Bescheidenheit austricksen.)
Überhaupt hat Nagel seine ganz eigene Art, sich als Mensch zu präsentieren, lügt und trickst und widerruft und widerspricht sich. Auch sein Bild über Politiker ist geprägt. Schön, seine Erzählung über die Lauterkeit des Politikers. Über einen großen Sympathieträger sagt er:
In Antwort auf:
Sein Hirn ist erstarrt von anerkannten Resultaten.
Von sich selbst sagt Nagel:
In Antwort auf:
Ich bin ein Denker, der nicht gelernt hat zu denken.
In seinen Selbstauftritten zeigt er sich von verschiedenen Seiten. Zum Beispiel, als er Ibsen und Tolstoi verurteilt.
In Antwort auf:
… aber ansonsten wiederholt er einig und allein, was so mancher Greis vor ihm getan hat und so mancher Greis nach ihm tun wird.
Er beschimpft nicht nur Tolstoi, sondern auch das Volk, das ihn emporhebt.
Und dann wird er genauer, das Thema der Großzügigkeit hier ins Wort gefasst:
In Antwort auf:
Und wenn es mich das Leben kosten würde, ich kann nicht einsehen, dass jemand – am allerwenigstens ein Reicher – Bewunderung verdient, wenn er ein Almosen gibt.
Und auch Marx kommt nicht gut weg.
In Antwort auf:
… aber, da saß nun dieser Marx und kritzelte die Armut aus der Welt – theoretisch.
Danach zieht Nagel über alle Denker und Dichter her und geht über zu den Menschen selbst.
In Antwort auf:
Gegen irgendeinen Zaunpfahl musste man anrennen, sonst galt man nicht als mutiges Würstchen.
Ich bin völlig begeistert und gefesselt von Hamsun und seinen Protagonisten Nagel. Er löst in mir sehr zwispältige Sympathien aus. Mal bin ich verwirrt, mal aber auch völlig seiner Meinung. Man möchte ihm in seiner Phantasie und in seiner Erzählkunst auf die Schulter klopfen. Oft ist es nicht so, wie es scheint, und hinter jeder seltsamen Begebenheit steckt ein ausgefallener Gedanke Nagels. Seine ganze Exzentrik erscheint mir, wie ein gewolltes Spiel, wie der spektakuläre, individuelle Auftritt eines Einzelgängers.
Ich bin sehr gespannt, wie es weiter geht.
Art & Vibration
Hallo Martinus,
habe gerade mit Begeisterung diese Rezension gelesen. Vielleicht ziehe ich "Das letzte Kapitel" gar dem Segen vor.
Danke für den Tipp!
Dann werden wir wohl wieder einen wunderbaren Austausch haben. Oder, sag mir, welches du zuerst liest. Ich besorge mir dann jeweiliges.
Liebe Grüße
Taxine
Hallo Taxine,
ich überlasse es gerne dir, welches wir zuerst lesen, denn ich bekomme beide voraussichtlich in der zweiten Wochenhälfte zugeschickt (eine antiquarische Bestellung).
Also, freie Wahl für dich
Liebe Grüße
Martinus
Na, ich habe jetzt antiquar auch mal "Das letzte Kapitel" bestellt. Sage dir dann bescheid, wann es eintrifft. Ist eine alte Ausgabe aus den Sechzigern. Falls das Buch nicht rechtzeitig (nach unseren gierigen Maßstäben ) eintrifft, dann hole ich ganz flink den "Segen".
Ach, ich freue mich auf das gemeinsame Lesen.
Liebe Grüße
Taxine
"Mysterien"
Weitere Gedanken:
Hier kommt ein Mann, der keinen Sinn mehr im Leben sieht. Voller Enttäuschungen, voller Menschen-Überdruss, gar nicht einmal das Spiel, nur ein kleiner Test, um in der kleinen Hoffnung zu verweilen, dass ein einziger hier ein bisschen anders handelt, als er es vorhersieht, rattert er noch eine Weile um sich selbst.
Das Fläschchen Gift am Hund probiert, und nicht in Wut, mehr, um zu sehen, wie er stirbt.
Alles fügt sich nach und nach bei Hamsun. Der kleinste Gedanke, die kleinste Begebenheit ergibt durch das "Gefüge an Text" Sinn.
Nagel verachtet die Anerkennung, will noch, bevor er die Welt verlässt, etwas Gutes vollbringen, und nicht zum eigenen Nutzen.
Doch manchmal geht trotzdem das „Menschliche – Allzumenschliche“ mit ihm durch, und wo er sein Spiel der Selbsttäuschung und der Täuschung mit anderen spielt, da überfällt ihn der Drang, kurz und gut, und er greift z. B. zur Geige, zeigt ein bisschen von seinem Können, um dann in Ekel vor sich selbst zu zerfließen und die letzten Töne in Disharmonien zu verzerren.
Er ist so eindeutig vom Lebensekel gepackt, alles ist nur noch ein letztes Keuchen, ein Spiel mit Marionetten, die dem Fadenspiel ganz vorhersehbar folgen, selbst seine Liebe handelt so vorhersehbar, dass er daran nur leidet, weil er leiden möchte.
Die gute, einfache, arme, herzensliebe Frau erscheint ihm als letzte Rettung vor den unergründlichen Tiefen und Qualen seiner Selbst und seiner Liebe und entflieht ihm.
Und dazwischen ... so viel wunderbarer Gedanke:
In Antwort auf:
Was weiß die Welt? Nichts. Man gewöhnt sich nur an eine Sache, man nimmt sie an, man anerkennt sie, denn unsere Lehrer haben sie vor uns anerkannt, alles ist ganz und gar Mutmaßung, ja sogar Zeit, Raum, Bewegung, Materie sind Mutmaßungen. Die Welt weiß nichts, sie nimmt nur an.
und
In Antwort auf:
Na, wozu in aller Welt soll es gut sein, ein Ding nach dem anderen anzunehmen, unmögliche Ausgangspunkte zu konstruieren?
Danach vertieft Nagel noch einmal seine Abscheu gegen die "großen Männer", gegen das von anderen gemachte "Genie". Er achtet eher
In Antwort auf:
... die kleinen unbekannten Genies, Jünglinge, die sterben, wenn sie noch zur Schule gehen, weil ihre Seele sie zersprengt, feine blendende Glühwürmchen, denen man begegnet sein muss, solange sie noch am Leben waren, um zu wissen, dass es sie gegeben hat.
Denn grundsätzlich gilt für Nagel:
In Antwort auf:
All diese großen Männer balancieren auf einem Globus herum, der im Verhältnis zum Sirius nicht größer ist als der Rücken einer Laus.
Da möchte man seufzen...
"Mysterien" hat mich durch seinen Protagonisten Nagel sehr beeindruckt. Hier ist ein ganz unberechenbarer Mensch, ein bisschen durchschaut man als Leser, und doch tun sich so viele andere Aspekte auf, so sprunghafte Entscheidungen, die Nagel hier antreiben, dass man das Ende verwirrt auffasst, besonders in Bezug auf "Minute", dem Krüppel.
Hamsuns Roman "Mysterien" wird oft mit Strindbergs "Am offenen Meer" verglichen, wobei die Geschichte, dass ein Fremder in eine kleine Gemeinde einkehrt und diese völlig durcheinander bringt, übereinstimmt.
Damals war dieser offene Text, dieses ganz wahllos, nicht gekennzeichnete Schwanken zwischen Realität und Traum noch verpönt, wobei gerade das doch eigentlich kaum bestimmbar ist. Denn jede subjektive Sicht beinhaltet immer eigene Vorstellung, ein bisschen eigenen Traum, und nur ganz wenig Wirklichkeit (die so nicht festzumachen ist). Später greifen sicher auch andere Schriftsteller auf diese Schreibweise zurück, sehr bekannt ist Kafka dafür.
Vorgeworfen wird, dass Hamsun sich aus vielerlei Literatur ein bisschen Idee und Wirkung zusammengeklaut hat, so werden hier Strindberg, Gaborg und Dostojewski genannt, auch scheint Hamsun (in Mysterien greift er ihn sogar an) einen knurrigen Konkurrenzkampf mit Ibsen geführt zu haben.
Dass Hamsun Zola, Flaubert, Strindberg, Mark Twain und Dostojewski kennengelernt hat, macht ihn ebenso interessant, wie sein scheinbar extravagantes Auftreten in der Öffentlichkeit, das dem seiner Romanhelden fast gleicht.
Die Biografie von Ferguson "Leben gegen den Strom" ist sicherlich einen Blick hinein wert.