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Hirngespinste

Austausch zwischen Literatur und Kunst


#76

RE: Charles Dickens

in Die schöne Welt der Bücher 01.03.2011 21:19
von LX.C • 2.821 Beiträge

So, das wars nun also. Steerforth ist doch ganz niedergegangen und tot. Und Copperfield hat also die Agnes geheiratet. Aber was genau ist nun zwischen Emili und Steerforth vorgefallen? Das hab ich nicht ganz verstanden, kann mir das noch mal jemand auseinandersetzen? Sie war schwanger von ihm, ist ihm dann hinterhergelaufen. Scheinbar waren sie auch kurz zusammen? Und dann? Warum kommt die Gesellschafterin Steerforths Mutter zu Emili und droht ihr so doll? Wäre nett, wenn mir das jemand erläutern könnte.


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[i]Poka![/i]

zuletzt bearbeitet 01.03.2011 21:20 | nach oben springen

#77

RE: Charles Dickens

in Die schöne Welt der Bücher 01.03.2011 21:45
von Taxine • Admin | 6.678 Beiträge

Ja, Steerforths Heldentod.

Und fast gerettet durch Ham. Noja... so schließt sich der Kreis dann in Vergeben und Vergessen. Der durch Steerforths Emly-Klau enttäuschte Ham versucht dem Abenteurer das Leben zu retten, und beide ertrinken.


Zitat von LX.C
Wäre nett, wenn mir das jemand erläutern könnte.


Emly wurde von Steerforth verführt, jedoch nicht geschwängert. Sie behauptet in ihrem Brief an ihren Vater, dass sie nur zurückkehren wird, wenn Steerforth sie als Ehefrau zurückführt. Sie liebt ihn, er sie in gewisser Hinsicht auf jeden Fall auch, so sind beide eines Tages einfach miteinander durchgebrannt (immerhin war ja die Hochzeit mit Ham schon geplant). Sie lebten dann eine Weile mit dem arroganten Diener zusammen, bis Steerforth an Emly, die mit dem Vergehen an Ham, dem Betrug und der Flucht, dem Verlassen ihrer Familie und Wurzeln, nicht zurecht kam, allmählich wieder das Interesse verliert. (Sein Verhalten und Wesen wird später von Rose genauer erklärt, wie er sich den Frauen gegenüber benimmt... usw.) Emly kämpft mit ihrem Schuldgefühl, er hätte sie lieber arrogant und gefühlskalt, so war der Bruch ihrer Liebe vorhersehbar, sind sie in Charakter und Herkunft einfach zu verschieden.
Darum will er sie loswerden und bietet sie, da er sie nun wieder ihrer Klasse zuordnet, seinem Diener zur Frau an, um ihr ein abgesichertes Leben zu verschaffen. Emly ist erschüttert von seinem Verhalten, er verlässt sie, meint, er hätte alles getan, was notwendig wäre, kann nicht verstehen, warum sie das Angebot der Ehe nicht annimmt, und macht sich aus dem Staub. Emly kehrt nach London zurück, wird dann von Marta, die von Mr. Peggotty und Copperfield dazu aufgefordert wurde, um ihrem trostlosen Leben doch noch einen Sinn zu geben (jetzt wissen wir auch, was mit ihr los war - sie ist schlicht und einfach eine gefallene Person, eine Prostituierte!), aufgenommen.
Die Gesellschafterin Rose ist ein weiteres Opfer von Steerforths Gelüsten, was sie ihm nie verziehen hat, weil er sich ihr in ihrer gemeinsamen Kindheit einmal näherte, sie dazu brachte, sich unsterblich in ihn zu verlieben, sie dann jedoch wieder fallen ließ. Auch hat er ihr die Narbe an ihrer Lippe zugefügt, vor der sich Copperfield immer so fürchtet. Sie ist natürlich eifersüchtig auf Emly, zumal sie den richtigen Kreisen angehört, denen auch Steerforth angehört, und Emly unter ihrer und damit seiner Würde ist. Darum gesteht Steerforth Emly auch die Möglichkeit zu, eine vornehme Dame werden zu können, während Emly selbst arm ist, die Tochter von Fischern. Steerforth Andeutung, Emly wäre zur vornehmen Dame geeignet, sollte bereits am Anfang schon andeuten, dass er vorhat, sie zu verführen. Sie ist damit also für ihn geeignet, wobei sein Gefühl für sie wohl auch eine tragende Rolle spielt. Auch kann ich mir denken, dass er Rose und seiner Mutter gerade mit der Verbindung zu Emly eins auswischen wollte. Rose aber bezichtigt auch Steerforth Mutter der falschen Erziehung, hasst sie von Herzen und bleibt dennoch bei ihr, um ihren Hass an der gebrochenen Frau, die ihren Sohn verloren hat, auszulassen und diese trotz allem zu pflegen. Sie ist durch die Hassliebe zu Steerforth an diese Frau gebunden. Beide bekommen, was sie verdienen.

Zitat von LX.C
...woraus ich schließen möchte, dass eben doch eine Menge Füllstoff bei ist, der dem Zeitungsschreiber Zeilenhonorar brachte.


Das könnte ich so unterschreiben. Vielleicht fehlten auch einige Zwischenbemerkungen, die mir die "Intuition" erleichtert haben. Wer weiß. Es macht zumindest tatsächlich keinerlei Unterschied.

Liebe Grüße
Taxine




Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 01.03.2011 22:06 | nach oben springen

#78

RE: Charles Dickens

in Die schöne Welt der Bücher 01.03.2011 23:36
von LX.C • 2.821 Beiträge

Alles was zwischen Emili und Steerforth passiert, ab Emilis Verschwinden bis zu ihrer Wiederkehr ist dann doch bei mir ausgespart. Danke für die Ergänzung.

Eine Frage hab' ich dann nun doch noch. Warum Steerforths Heldentod? Bei mir stirbt nur Ham den Heldentod, der Steerforth retten wollte, den anscheinend wieder der Eigensinn überkam. Oder hab ich da wieder was falsch verstanden?


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[i]Poka![/i]

zuletzt bearbeitet 01.03.2011 23:39 | nach oben springen

#79

RE: Charles Dickens

in Die schöne Welt der Bücher 02.03.2011 21:00
von Taxine • Admin | 6.678 Beiträge

Nee, nee... hast du nicht falsch verstanden, war nur meine schmunzelnde Interpretation. Der Untergang Steerforth, auf dem Mast, die Hand erhoben und nach Freiheit kreischend, gegen den Sturm ankämpfend und den Gefahren trotzend, dann lediglich kurz noch einmal durch seinen Tod auferstanden als Held für David Copperfield.




Art & Vibration
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#80

RE: Charles Dickens

in Die schöne Welt der Bücher 29.02.2012 16:14
von Taxine • Admin | 6.678 Beiträge

Bleak House

… die Welt liegt vor dir, und es ist höchst wahrscheinlich, dass sie dich so aufnehmen wird wie du sie.

Hätte ich, statt der häufig genannten Werke wie „Oliver Twist“ und „David Copperfield“, zuerst „Bleak House“ von Dickens gelesen, hätte sich wohl mein Bild von ihm als „großer Schriftsteller“ eher bestätigt. Fast wirkt es auf mich, als hätte Dickens für zwei Welten, zwei Klassen geschrieben. Seine anderen Romane wirken dagegen fast oberflächlich und für eine breite Masse geeignet, während „Bleak House“ einen anderen Anspruch an den Leser stellt, auch nicht unbedingt leicht zu lesen ist.
Nabokov lobte in seinen Vorlesungen „Bleak House“ und ließ sich durch den Roman seinerseits inspirieren, nannte auch eine seiner Protagonistinnen Ada, wie sie auch bei Dickens vorkommt. Beide literarischen Figuren verlieben sich in ihren Vetter, der ihre Liebe erwidert (wobei sich bei Nabokov nachher das Bild ändert und aus dem Vetter der leibliche Bruder wird). Auch versteht man nun das Chaos seines „Ada“-Anfangs mit all seinen Figuren etwas besser, wenn man demgegenüber Dickens verschiedene Charaktere betrachtet, wohingegen Nabokov eine ganze Handvoll auf einmal ausstreut, während Dickens sie liebevoll nach und nach zeichnet. Dabei ist keine Figur überflüssig, keine von ihnen nur Randfigur. Alle stehen miteinander im Zusammenhang, verbunden durch einen Prozess, den Fall „Jarndyce gegen Jarndyce“.

Bei Dickens kann man natürlich nicht direkt von Tiefe sprechen, betrachtet man seine Zeilen. Wenige philosophische Hintergedanken, und wenn dann sind sie eher praktischer Natur, und keine Sinnsuche kommen in „Bleak House“ vor und dennoch ist dieses Werk viel kunstvoller und prächtiger geworden als alles, was ich von ihm kenne. Dickens übt natürlich, wie üblich, Kritik an den Missständen seiner Zeit, doch sie drängt sich nicht in den Vordergrund, sondern schimmert elegant und darum umso emotionaler durch die Ereignisse hindurch. Diese sind verschachtelt, die Figuren vielseitig, die Beschreibungen außerordentlich gut gelungen. Der Inhalt ist viel weniger plakativ, sein Stil ist – gerade im Vergleich – auf einmal regelrecht bildgewaltig (fast schon poetisch an manchen Stellen*) und der Zeit und Sprache viel mehr entsprechend. Man hat nicht mehr das Gefühl, man lese hier einen reißerischen Roman, der die Verhältnisse seiner Zeit überdimensional anprangert, und das auch noch mit Hilfe übertrieben dargestellter Charaktere samt aller Klischees, die ihre Neigungen oder bösartigen Abgründe nur bekräftigen. Nein, hier hat Dickens nur ganz feine Andeutungen gestreut. Der Roman scheint selbst wie eine einzigartige Nebelwelt, die sich nach und nach lüftet.

Auch bewegt sich Dickens selbst in ganz anderen Kreisen. Hier trifft man auf die adlige Dekadenz und - demgegenüber - die Armut, die wiederum weniger possenreißerisch umrissen ist, sondern als ganz natürlicher Raum der Ereignisse erscheint, sobald die Protagonisten ihre Welt verlassen und kurzzeitig in die andere tauchen, die sie nicht gewohnt sind, über die sie erschrecken, wenn sie auf sie treffen.
Dickens verzichtet auf seine gewollten Hinweise (die man aus anderen Romanen gewohnt ist), auf das Aufzeigen des Elends durch tief traurige Kinderaugen oder rothaarige und bösartige Gestalten, die andere aus Gier und Habsucht ausnutzen. All diese so berühmten Szenen und Personen kommen hier nicht zum Tragen, verbauen nicht übergrell den Vordergrund, um durch ihr Sein den mahnenden Finger des Schriftstellers zu verkörpern. Sie kommen zwar dennoch vor, aber in ganz anderer Art und Weise.

„Bleak House“ ist Dickens Abrechnung mit der Welt der Gesetze, Anwälte und Richter samt ihrer Scheinprozesse und Urteile. E ist seine Kritik am Zivilgericht, an der Oberflächlichkeit und Dekadenz, am Willen, den Menschen ruinieren zu wollen, um sich selbst zu bereichern, es ist Kritik an geheuchelter Wohltätigkeit, sei sie in der Predigt zu finden, die nur schöne Worte macht, ohne Hilfe zu leisten, sei es die Selbstdarstellung zu geschäftiger Wohltätiger, die kaum jemand braucht, sei es die Hilfe, die in die Ferne gerichtet ist (hier Afrika), statt sich mit dem Leid und Elend der näheren Umgebung zu befassen. Auch ist es die erneute Begegnung (die ihn wohl immer wieder beschäftigt haben muss) mit der Verschuldung und mit dem Charakter seines Vaters. Dickens Ironie ist jedoch in diesem Roman viel feiner und unaufdringlicher.

In „Bleak House“ hat sich Dickens für zwei verschiedene Perspektiven entschieden. Einmal gibt es den Erzähler, der beschreibt und Menschen vorstellt, sich im Bericht der Gegenwart bedient, und zum anderen die Sicht Esther Summersons, die Gesellschafterin in „Bleak House“ ist und von sich und den Menschen in der Vergangenheitsform berichtet. Bald schon umringen die Ereignisse sie und Esther wird zur Kernfigur von all dem, das sich im Roman nach und nach offenbart.

Dickens erschafft hier eine reale und düstere Welt, die in Nebel versunken liegt und auch innerhalb der Räume durch stickige Luft hervorsticht. (Es ist eine verdorrende Welt, und ihr Wachstum ist zuweilen behindert durch den Mangel an Luft.) Sich ewig hinziehende Gerichtsverhandlungen und ungemütlich leblose (von Stolz zerfressene) Landsitze erstehen auf und fallen, je nach Perspektive, auch wieder in sich zusammen. Die Betrachtung wechselt von äußerlichen Vorgängen zur innerlichen Selbstbeschau. Und immer wieder tritt das Kanzleigericht dazwischen, öffnet seine Tore und saugt die menschliche Gier, die Sehnsucht auf Erfolg, den Verlust der Mittel und der Vernunft in sich auf, bläht sich in seiner eigenen Absurdität und in seiner Auferstehung durch neue Hoffnungen zur gewaltigen Bedrohung auf. Die dort einander gähnend begegnenden Advokaten und Richter „legen einander Schlingen mit schlüpfrigen Präzedenzien; knietief in technischen Ausdrücken watend rennen sie ihre mit Ziegen- und Pferdehaar geschützten Köpfe gegen die Wälle an Worten und führen ein Schauspiel von Gerechtigkeit auf; Komödianten mit ernsthaften Gesichtern“.
Viele, die mit dem Fall „Jarndyce contra Jarndyce“ betraut sind, die innerhalb des Falls auftreten, sind bereits alt geworden oder sogar gestorben. Die ganze Verhandlung ist eine Farce, ein Aufeinandertreffen an Anklagepunkten, die mit der Wirklichkeit kaum etwas zu tun haben. Der ganze Prozess endet auch so, wie er sich über die Jahre hinschleppt.

Zitat von Dickens
Nie kann der Nebel zu dick, nie der Schmutz und Kot zu tief sein, um dem versumpften und verschlammten Zustand zu entsprechen, indem sich dieser hohe Kanzleigerichtshof, dieser schlimmste aller ergrauten Sünder, an einem solchen Tage dem Himmel und der Erde präsentiert.



Zunächst, mit dem Lesen der ersten Seiten, weiß man noch nicht genau, worum es eigentlich geht. Ein eigenartiger Gerichtsfall wird genannt, etliche Leute, die darin involviert sind. Szenen werden umrissen, Orte geschaffen, Personen vorgestellt, die aber in Verbindung zum Fall noch nicht so recht Bedeutung finden. Erst mit dem dritten Kapitel und dem Bericht der jungen Esther Summerson kommt Licht in die Zeilen. Dieser Bericht ist dramatisch.
Esther wächst bei ihrer Patin auf, die ihr gegenüber kalt und gefühllos ist. Eines Tages erscheint ein Advokat (mit einem majestätischen Satzbau) und berichtet dem Kind, dass seine Tante verstorben und daher nun der Aufenthalt in einem Internat notwendig wird. Der Abschied ist tränenreich, jedoch nur auf Seiten Esthers. Die Patin schließt ihre Tür, bevor die Koffer in die Kutsche verstaut sind.
Bald stellt sich heraus, dass Esthers Vormund Mr. Jarndyce ist, was noch nicht viel besagt, jedoch eine erste Verbindung zum Gerichtsfall herstellt. Auch erfährt man, was „Bleak House“ ist, denn es ist das Landgut von Mr. Jarndyce.

Im Gegenteil einer typisch dicken’schen „Erwartung“ ist der Aufenthalt im Internat, der sechs Jahre andauert, erfüllend und bereichernd für Esther. Das Leben bei ihrer Patin, die ihr ständig vermittelt hat, dass es besser gewesen wäre, dass sie nicht geboren worden wäre, wird durch eine gute Ausbildung abgelöst, für die Mr. Jarndyce die Rechnungen bezahlt. Eines Tages trifft ein Brief ein, der ihr durch die Anwälte mitteilt, ihr Vormund wünsche sie als Gesellschafterin in seinem Haus unterzubringen. Esther erfährt, dass sie die Gesellschafterin von Ada Clare werden soll, seiner Kusine. Mit ihnen reist der junge Mr. Richard Carstone, der Vetter von Ada und Mr. Jarndyce. Gemeinsam begeben sie sich Richtung „Bleak House“.

Auf der Reise dorthin kommen die drei bei Mrs. Jellyby unter. Ihr Haus zeigt dann endlich die dicken’sche Welt an vernachlässigten Kindern. Eines ist mit dem Kopf in einem Zaun stecken geblieben, und während Esther, Ada und Richard das Zimmer der Hausherrin betreten, hören sie mindestens zwei Kinder die Treppe hinunter fallen. Am Tisch sitzt ein weiteres, ungepflegtes, mit Tinte besprenkeltes Kind, das sich als die Tochter von Mrs. Jellyby herausstellt. Auch die anderen Kinder sind ihre eigenen, doch die gute Frau scheint einzig in ihrer wissenschaftlichen Arbeit über Afrika aufzugehen. Sie wird das Sinnbild der unnötig in die Ferne treibenden Wohltätigkeit, die keinem etwas bringt, über deren Mühseligkeit die eigenen Kinder verkommen.
Bei einem Spaziergang durch London erfahren die drei etwas mehr über den Fall Jarndyce. Tom Jarndyce scheint sich erschossen zu haben, ihr eigener Vetter oder Vormund, John Jarndyce, der der Erbe und Großneffe des Selbstmörders ist, tritt ihnen bald schon im „Bleak House“ leibhaftig entgegen. Sie erhalten eigene Zimmer und verstehen sich mit dem Hausherrn wunderbar, der einen weiteren Gast beherbergt, den kindlichen Künstler Harold Skimpole. Er ist begabt in vielen Dingen, lehnt aber Besitz und Verantwortung ab. Zu den neuen Bewohnern von Bleak House sagt er:

Zitat von Dickens
„Ich fühle keine sogenannte Dankbarkeit für euch. Es kommt mir fast so vor, als ob ihr mir Dank schuldig wäret, weil ich euch Gelegenheit gebe, das Hochgefühl des Edelmutes zu genießen. Ich weiß, ihr habt es gern. Vielleicht bin ich bloß zu dem Zweck auf die Erde gekommen, um euer Wohltäter zu sein, indem ich euch Gelegenheit gebe, mir in meinen kleinen Verlegenheiten beizustehen.“



Wie schon in „Copperfield“ Mr. Micawber Dickens Vater satirisch verkörperte, ist auch Mr. Skimpole ein Abbild desselben, der schon „in der Klemme zur Welt gekommen ist“. Er ist in seinen Handlungen unangreifbar, verteidigt sich beständig mit der „absolute Ablehnung“ allem gegenüber, insbesondere was das Geld betrifft, das er jedoch nicht zögert, großzügig von anderen zu nehmen. Am Ende fasst es der Polizeibeamte Bucket schön zusammen, indem er Esther mitteilt:

Zitat von Dickens
„Wenn Ihnen einer sagt, ich bin unschuldig wie ein Kind in allem, was Geld anbelangt, so nehmen Sie Ihr Portemonnaie in acht, denn Sie können Ihren Kopf darauf wetten, dass er es sich holt, wenn er’s kriegen kann. Wenn jemand ausposaunt, „in praktischen Sachen bin ich ein Kind“, so nehmen Sie nur ruhig an, dass es sich diesem jemand nur darum handelt, nicht zur Rechenschaft gezogen zu werden, und dass das liebe „Ich“ bei ihm die Hauptrolle spielt.“



Bald durchwandert Dickens mit seinen Protagonisten Esther und Ada die schmutzigen Vororte Londons, wo das Elend groß ist, die Menschen verdreckt, betrunken und in ihrer Armut verzweifelt, wo kleine Säuglinge sterben und großspurige Damen sich mit ihrer angeblichen Wohltätigkeit großtun, während sie den Menschen nicht helfen, sondern ihnen lediglich moralische Predigten halten und sich selbst hervortun. Auch die Opiumsucht wird näher beschrieben, die ihr Opfer, einen armen Gerichtsschreiber, tötet, der für die Umstände noch eine wesentliche Rolle spielen wird, denn er hat Verwandtschaft und eine ehemalige Geliebte, die von ihm unehelich ein Kind bekommen hat.

Am Beispiel Richards zeigt Dickens die Auswirkungen eines orientierungslosen Menschen auf, der nach dem Studium nicht weiß, was er machen soll. Als man ihm verschiedene Dinge vorschlägt, ist er begeistert, kann sich allerdings trotzdem nicht entscheiden. Jurist, Chirurg oder doch zur See – alles erscheint dem jungen Richard richtig, außer die Theologie, wie er betont, ohne dass er eine Wahl treffen kann. Esther, die das berichtet, fragt sich, ob das bei all den Menschen so ist, die studieren, dass sie etliche Verse aufsagen können, aber nicht wissen, wer sie sind und was sie wollen. Mr. Jarndyce zieht sogar den Vergleich zum sich hinziehenden Prozess, den er selbst seit Ewigkeiten bewältigen muss und in dessen Fortschleichen Richard aufgewachsen ist.

Zitat von Dickens
"Wieviel an dieser Unschlüssigkeit in seinem Charakter“, sagte Mr. Jarndyce zu mir, „die unglaubliche Häufung von Ungewissheit und Indielängeziehen, mit der er von seiner Geburt an zu tun hatte, die Schuld trägt, wage ich nicht zu sagen, aber dass der Kanzleiprozess außer seinen übrigen Sünden auch für einen Teil dafür verantwortlich ist, sehe ich deutlich. Es hat in ihm eine Gewohnheit erzeugt oder genährt, alles hinauszuschieben und verwirrt liegen zu lassen.“



Schließlich, und mehr, weil er nicht mehr überlegen will, nimmt er das erstbeste Angebot an und will Chirurg werden. Bevor er seine Ausbildung antritt, gestehen sich Ada und Richard ihre Liebe, die befürwortet wird. Mr. Jarndyce warnt die beiden allerdings, dass sie nicht an dieser Jugendliebe festhalten sollen, wenn sich die Bedingungen oder Gefühle aufgrund der Trennung und Weiterentwicklung ändern sollten.
„Wenn du sie nicht glücklich machen kannst, warum solltest du nach ihr streben.“ – sagt er zu Richard, der gekonnt erwidert:
„Ich möchte sie nicht unglücklich machen, selbst nicht, wenn es mich ihre Liebe kosten sollte…“

Richard wird sich noch einige Male umorientieren, und zwar so lange, bis er sich auf das Erbe aus dem laufenden Gerichtsprozess verlässt und bald ganz und gar von diesem aufgesogen wird, seine Energie und Gesundheit an dessen Verlauf einbüßt.
Die Prozesse sind eine einzigartige Farce, werden über Jahre hinweg weiter ausgebreitet, dass die Kläger, denen es um Geldangelegenheiten, Testamente oder ähnliche Umstände geht, am Ende völlig ruiniert sind, mehr Geld bezahlen müssen, als ihnen per Gerichtsbeschluss zugestanden hätte. Auch Esther bemerkt im Angesicht der feierlichen Zuschaustellung von Kanzlei, thronendem Richter und müden oder sorglosen Anwälten:

Zitat von Dickens
„Zu sehen, wie alles so glatt verlief, und daran zu denken, wie rauh das Leben und Sterben der Prozessierenden war, all den Pomp und die Feierlichkeit zu sehen und an die Verschwendung und andererseits den Mangel und das bettelhafte Elend, um das es sich handelte, zu denken, - zu bedenken, dass während bange Hoffnung in so vielen Herzen wühlte, dieses glänzende Schauspiel Tag für Tag und Jahr um Jahr wohlgeordnet und ruhevoll ungestört seinen Fortgang nahm, den Lordkanzler und die ganze Schar von Juristen um ihn herum zu sehen, die sich und die Zuschauer anblickten, als hätte keiner von ihnen je gehört, dass in ganz England das, in dessen Namen sie sich versammelten, bitterer Hohn sei, ein Gegenstand allgemeinen Abscheus, der Verachtung und Erbitterung, eine Institution, so offenkundig unwürdig, dass fast ein Wunder dazu gehörte, wenn es wirklich jemals irgendjemandem Nutzen brachte – das alles kam mir bei meiner Unerfahrenheit so merkwürdig und widerspruchsvoll vor, dass ich es anfangs gar nicht begreifen konnte und meinen Augen nicht traute.“



Bereits im Vorwort verweist Dickens darauf, dass der Inhalt seines Romans durchaus an tatsächlichen Ereignissen gemessen werden kann, dass die Verfahren und Gerichtsprozesse sich kaum unterscheiden und auch einzelne Gerichtsfälle das gleiche Gesicht aufweisen, wie er es in Fiktion packte, samt der vielen Figuren, die über die Unendlichkeit ihrer Prozesse allmählich den Verstand verloren und sich innig wünschten, nie geklagt zu haben. (Hier könnte nebenbei noch erwähnt werden, dass Dickens im Vorwort auch noch eine damals wissenschaftlich beglaubigte Todesursache verteidigt, dass ein Mensch durch Selbstentzündung sterben kann. In seinem Buch kommt so ein Fall vor, woraufhin er nachzuweisen versucht, in welchen angeblich tatsächlichen Ereignissen Tod durch plötzliche Selbstentzündung vorlag. Im Roman wirkt so ein Tod dann natürlich sehr übertrieben und weckt im Leser den Verdacht, nicht ganz mit rechten Dingen geschehen zu sein, der sich dann allerdings nicht bestätigt.)

Die tatsächliche Spannung kommt bei diesem Werk etwa ab der Hälfte auf, steigert sich dann zum Ende bis zur kriminalistischen Unerträglichkeit. Dass der Roman gemächlich beginnt, ist in diesem Sinne keineswegs bedauerlich, denn Dickens bildhafte Sprache und die Verworrenheit seiner Figuren und ihrer Zusammenhänge führen den Leser voran, der nach und nach beinahe splitterhaft entdecken darf, worin die einzelnen Verbindungen bestehen und rekonstruieren kann, was geschehen ist. Man kann wirklich sagen, Dickens hat hier seine Geschichte mit feinen Fäden gesponnen und führt sie langsam aus allen Richtungen auf ein Ziel zu. Etliche Menschen, und dennoch alle in ihren Bedingungen miteinander verwoben, offenbaren nach und nach ihren Sinn und ihr Tun, und bald nimmt das Werk den Charakter düsterer Umstände und Ereignisse an. Seltsame Todesfälle, gierige Verwandte und Wucherer, die sofort aufkreuzen, scheinheilige Advokaten und Polizisten, die etwas aufdecken wollen, adlige und stolze Damen, die ein Geheimnis aus der Vergangenheit verbergen, ein kleiner Junge, der als Sinnbild dafür steht, was eine schmutzige Stadt aus einem Menschen formen kann, ein Vormund, der sich um viele Menschen kümmert, ein kindlicher Lebenskünstler, der die Welt nimmt, wie sie kommt, häufig auf Kosten anderer, die schöne Ada und ihr unglücklicher Vetter, die insgeheim heiraten, und schließlich die sich über alles legende und mit all dem in Zusammenhang stehende Geschichte der Esther machen dieses Werk zu einem Lesegenuss, der die Zeit entschleunigt.

* Schön häufiger habe ich gelesen, dass Dickens eigentlich ein Dichter ist, der Prosa schreibt, nur konnte ich davon in den beiden anderen Werken nicht viel entdecken. In „Bleak House“ sieht das etwas anderes aus. Eine Kostprobe? Bitteschön:

Zitat von Dickens

„Leidenschaftslos, wie es sich für vornehm erzogene Leute schickt, starrt das Stadtpalais der Dedlocks die andern Häuser der traurigstolzen Straße an, und kein äußeres Zeichen verrät, dass in seinem Innern etwas nicht in Ordnung ist. Kutschen rasseln, es wird an die Türen gehämmert, die Welt stattet Besuche ab, ältliche Circen mit dürren Hälsen und Pfirsichwangen, die etwas Gespensterhaftes haben in ihrer blühenden Röte, blenden die Augen der Menschheit. Bei Tageslicht erblickt, haben diese faszinierenden Geschöpfe eine fatale Ähnlichkeit mit Zwittergeschöpfen, halb Tod halb Dame. Aus frostigen Marställen kommen elastisch gefederte Wagen, gelenkt von kurzbeinigen Kutschern mit flachsenen Perücken, die in daunenweichen Bockpolstern eingesunken sitzen, und hintenauf stehen Prunkmerkure, prächtig lange Stöcke in den Händen und dreieckige Hüte quer auf den Köpfen; ein Schauspiel für die Götter.“



Das also ist der Ort der Aristokratie, der seine Geheimnisse birgt, in deren Innenleben die adlige Verwandtschaft zwischen den Gemälden der Urahnen an ihrer Langweile krankt. Und vor der Tür, nicht weit in die Bezirke der Stadt hinein, schwärzt Dreck und Ruß die Wände und Gesichter.

Was mich an Dickens Roman weiterhin fasziniert hat, ist die Undurchsichtigkeit seiner Charaktere. Sie werden alle sehr freundlich beschrieben und dem Leser auf einer Art goldenem Tablett der Wertfreiheit gereicht. An ihm ist es nun, diese Menschen einzuschätzen und zu erkennen, um welchen Charakter es sich handelt. Beeindruckend waren Mr. Skimpole und insbesondere (für mich) der Polizeibeamte Mr. Bucket, die sogar über die Neutralität der Beschreibung hinaus auch in ihrer Handlungsweise noch nicht offenbarten, wer sie waren und als was sie in der dicken’schen Welt gedacht sind. Man schätzt als Leser, wie im echten Leben im Charakter des Menschen, bestimmte Aspekte der Figur, durch die sie sich auszeichnen und denen gegenüber die „schlechten Manieren“ entweder überwiegen oder trotzdem Sympathie hervorrufen.
Auch die Liebe und menschliche Dankbarkeit füreinander fehlen in diesem Werk nicht, und diese beiden edlen Gefühle in solch einer Art und Weise ins Ideal zu erheben, ohne dass es den Leser unangenehm tangiert, das schafft wahrscheinlich wirklich nur ein Schriftsteller wie Dickens.

Warum es also in jeder Hinsicht Spaß macht, diesen Roman zu lesen, liegt ganz einfach darin, dass man in eine andere Welt und Sprache taucht. In all den Sätzen liegt eine gewisse Erhabenheit, wie sie alte Bücher manchmal als ein kurzes Gefühl der Anerkennung auslösen, während man doch eigentlich ein nagelneues Taschenbuch in der Hand hält. Die Zeilen im Buch aber funkeln, die Menschen leben und erwachen immer wieder, richtet man sein Augenmerk auf sie, und sobald das Buch geschlossen ist, ahnt man, dass sie darin weiter atmen, für alle Zeit bewahrt...




Art & Vibration
zuletzt bearbeitet 29.02.2012 16:41 | nach oben springen


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